Trio Infernale von Sylvia und Cancelot
Die reale Drachental-Satire
Die Häscher der Wirbelmöhre

Fern und weit ab von unseren Freunden saß derweil ein aufs äußerste in Rage geratener Magier in den Wipfeln einer abgebrannten Tanne und starrte mit rotgeräderten Augen auf die Trümmer seiner einstmals vollkommenen Behausung. Seine Verzweiflung wich unvorstellbarer Wut, und anstelle des leicht irren Glitzerns trat jetzt ein gefährliches Leuchten in seine Augen.
"Diese Narren ... glauben sie tatsächlich, ungestraft davon zu kommen?" zischte er. Er schloss die Augen, verdrängte die brennende Wut in sich und konzentrierte sich auf einen Punkt irgendwo in seinen Gedanken. Langsam begann sein Körper immer durchsichtiger zu werden, bis er schließlich ganz verschwand.

Kurze Zeit darauf materialisierte er sich wieder einen knappen Meter entfernt vor den Resten seines prächtigen Turms. Die beeindruckende Gestalt des Drachens über dem Torbogen war von schwarzen Rußspuren bedeckt und kaum noch zu erkennen.
"Sieh, was sie uns angetan haben ...", rief er hinauf zu dem stummen Zeugen und ballte seine Hände zu Fäusten. "Sie haben alles zerstört, alles..... aber, glaube mir, das werden sie bereuen ... und sich wünschen, uns nie begegnet zu sein!"
Er verstummte kurz, dann streckte er seine Hände empor zu dem Drachen und rief, nein ... schrie mit lauter Stimme: "LONPIGHUKAR FARASENT, IN DOGHURIA PA SERMENT"
Das Mauerwerk begann zu erzittern wie unter gewaltigen Erdstößen, die Luft um ihn herum färbte sich grün, wallte auf und hüllte die Reste des Turms in nebelhafte Schwaden. Es war fast nichts mehr zu erkennen, doch plötzlich funkelten zwei rote Punkte aus den Schwaden heraus, zuerst ziemlich schwach, jedoch stetig kräftiger werdend bis sie sich schließlich durch die dichte Nebelwand brannten und als ein dämonisch glühendes Augenpaar herausstellten.
Über Reigamis Gesicht huschte ein wohlwollendes Grinsen. Seine Gedanken waren so finster wie noch nie zuvor. Oh nein, er war kein Magier, welcher die schwarze Magie auszuüben pflegte ... er war eigentlich ein sehr friedvoller Mensch. Aber ihm alles zu nehmen, sein Haus, seinen Garten ... beim Gedanken an seinen Garten schlichen sich kleine Tränen in seine Augen. "Oh, mein Garten, meine kleinen unschuldigen Pflänzchen....", jammerte er leise, wirklich, solch üble Tat verdiente es aufs schärfste bestraft zu werden! Und dazu war ihm jedes Mittel recht, jedes.
Steine bröckelten ab und stürzten zu Boden, schließlich brach der Rest des Torbogens auseinander. Eine große schwarze Klaue schob sich nach vorn, dann eine zweite, und durch den dichten Nebel stach eine Flügelspitze riesigen Ausmaßes. Schwere, stampfende Schritte ließen die Erde unter den Füßen des Magiers erzittern und zerrissen den Nebel in kleine dünne Schwaden die sich schnell verflüchtigten. 
"Ja, mein Kleiner ... komm, komm zu deinem Herrscher ...", fast zärtlich flüsterte der Magier diese Worte.
Die restlichen Schwaden zur Seite treibend, stieß nun eine furchterregende Gestalt hervor ... ihr schwarzes Schuppenkleid schluckte das Licht und verschmolz fast völlig mit seiner dunklen Umgebung. Nur die roten glühenden Augen waren zu sehen und seine schneeweißen langen spitzen Fangzähne, als er sein Maul weit öffnete und ein markerschütterndes Brüllen losließ.
Der Magier schien zufrieden. Vorsichtig trat er näher und tätschelte liebevoll den Hals des Untiers. 
"Nun, lass uns unsere Freunde suchen gehen ... doch zuerst bringe mich auf die Möhrenfelder des Moordrachen ... wir benötigen noch etwas Unterstützung, hehehe ..."
Er schwang sich auf den Rücken des Drachens, der ein leises gefährliches Knurren von sich gab und erhob sich mit ihm zusammen in die tiefschwarze Nacht, getrieben von einer unwirklichen Wut und dem Wunsch nach furchtbarer Rache.

Das Möhrenfeld, genau das Feld, auf dem einst der Knappe Webolo Bekanntschaft mit dem Moordrachen machte, lag still und verborgen im Dunkeln. Kein Windzug rüttelte an den grünen Büscheln, die keck nach oben ragten und der Mond über dem Drachental bedeckte alles mit einem sanften Licht. Es war ein Bild vollkommener Harmonie, durch nichts getrübt. Doch plötzlich verdunkelte etwas den Himmel über dem Feld und die Silhouetten mächtiger Schwingen zeichneten sich auf dem Erdreich ab.
Reigamis Drache setzte zur Landung an und obwohl er ein Gigant unter den Drachen zu sein schien - er überragte den Moordrachen mit Sicherheit um fast zwei Köpfe - so tat er es fast mit einer elfengleichen Geschmeidigkeit und Grazie. 
Nicht ein Büschel wurde zerdrückt, zielsicher balancierte er seine Schritte am Rand des Feldes entlang um sich schließlich flach hinzulegen damit Magier Reigami absteigen konnte.

Reigamis wiedererweckter Drache und Reigami selbst...
© by Sylvia

Ohne zu warten eilte der Magier durch die Reihen, bis er in der Mitte des Feldes angelangt war. Freudig rieb er seine Hände, schnalzte einmal mit den Fingern und begann sich langsam zu drehen.
Er flüsterte dazu mit heiserer Stimme vollkommen unverständliche Worte, immer schneller werdend, und seine Umdrehungsgeschwindigkeit schien sich seiner Sprechgeschwindigkeit anzupassen.
Er wirbelte wie ein Derwisch um die eigene Achse, immer schneller und lauter wurden seine Worte und Bewegungen, bis er nur noch einem wild rotierendem Kreisel glich.
Bewegung geriet in das Feld, Büschel begannen sich mit im Rhythmus der Worte zu bewegen und zu drehen und ein heftiger Wind kam auf. Mit unglaublicher Geschwindigkeit fegte er über das Feld hinweg und rupfte sämtliche Möhren heraus, die ihre Büschel zu weit nach oben streckten.
Der Magier stoppte abrupt und schien damit auch den Wind zum Stillstand gebracht zu haben. Kein Lüftchen wehte mehr und alles lag wieder ruhig vor ihm. Alles?
Jedem normalen Lebewesen wäre das Blut in den Adern gefroren beim Anblick dieser unheimlichen Armee, die der Magier mittels seiner magischen Kräfte dort aus dem Feld herbeigerufen hatte.
Möhren! Lebende Möhren der allergefährlichsten Art ... Wirbelmöhren!
Riesig waren sie, riesig in ihren Ausmaßen und mit furchterregenden Gesichtern. Dazu waren sie bewaffnet.
Allesamt trugen sie Schilder und Speere, deren Spitzen im Mondlicht mehr als beeindruckend glänzten.
Eine der Möhren, wahrscheinlich der Anführer, da er noch etwas größer als die anderem Möhren war, trat hervor, stellte sich vor den Magier und salutierte:
"Commandante Morretto, mui Capitan!" Er schlug seine Hacken zusammen und starrte gehorsam in die Augen des Magiers.
"Seid ihr bereit?" fragte der Magier, der selbst beeindruckt schien, mit tonloser Stimme.
"Si si, mui Capitan. Mi Carottas bereit zu schlagen alle Feinde wo gibt, nix Problemo."
Reigami runzelte leicht irritiert die Stirn. Irgendwie schien der Sprachzauber nicht ganz gewirkt zu haben, doch egal ... sie sollten ja kämpfen, nicht plaudern oder gepflegte Konversation betreiben.
"Jaja, schon gut. Nun geht, verbündet euch mit den Plattladinen und bewegt euch dann in Richtung der südlichen Bergkette. Mein Drache und ich werden dort auf euch warten."
"Si si ... Mui Capitan. Wir warten dort, mi Carottas muchos mächtig übellaunig, hehehe ..."
Die Anführermöhre grinste diabolisch und drehte sich zu seiner untergebenen Armee herum.
"Amigos, errrhebt euch ... folgt mirrrrrrr", brüllte er, stemmte seinen Speer inbrünstig gen Himmel und stapfte los.
„Yo, yo ,yo", erklang es im Chor und jede der Möhren folgte blind ergeben ihrem Anführer.
Reigami blickte der von dannen ziehenden Möhren-Armee gutgelaunt hinterher. Jetzt würde sich ihm niemand mehr entgegen stellen können, er war absolut in der Übermacht. Solch eine Schmach würde er kein zweitesmal hinnehmen müssen, dessen war er sich sicher.
Er lief wieder zu seinem Drachen, in dessen Augen noch immer ein unterschwellig böses Funkeln zu erkennen war. Reigami war sich nicht 100% sicher , ob es tatsächlich so ratsam gewesen war, den Turmdrachen zu erwecken, doch er hielt sich getreu an das Motto: "Lieber einen Feind vor mir, als einen Dummkopf an meiner Seite" und verwarf eiligst wieder alle Bedenken. Wäre der Drache tatsächlich so mächtig wie die Legende es beschrieb, wäre es seinen Vorfahren ja nicht möglich gewesen ihn in Stein zu bannen. Auch wenn ihn diesbezüglich ab und zu leise Zweifel beschlichen, ob es tatsächlich seine Vorfahren waren, die dieses Werk vollbrachten.
Er setzte sich auf den Rücken und verspürte erneut die Kälte, die durch seine Beinkleider kroch, als er in direktem Kontakt mit der Haut des Drachens kam. Doch das ignorierte er, schließlich hatte er noch was vor.
"Los, flieg' gen Süden, mein Lieber ... es gibt dort jemanden, der dich bestimmt gern kennen lernen möchte ... "

Weit entfernt von diesem unheimlichen Szenario saßen unsere Freunde noch immer gemütlich zusammen am Lagerfeuer und waren gerade dabei zu überlegen, wer nun wo schlafen sollte, als sich die beiden Hexen auf einmal schlagartig erhoben.
"Was ist?" fragte Bruder TaC erstaunt.
" Wir spüren etwas ... da ist etwas auf dem Weg zu uns ... ", flüsterte Sylveria leise.
"Was? Was ist auf dem Weg zu uns ... so redet doch ... " Morholt sah die beiden Hexen erschrocken an, so hatte er sie noch nie erlebt. Eine unglaubliche Spannung machte sich plötzlich breit.
Crosideria blickte nur einmal kurz zur Seite. "Jemand mit sehr, sehr schlechter Laune ... "
Moordrache seufzte und murmelte mit geschlossenen Augen: „Also, ich spüre gar nichts, absolut nichts." Er war müde und sehnte sich unendlich nach ausreichend Schlaf.
Auch Kalooth schien etwas zu spüren ... unruhig bewegte er sich auf der Schulter Bruder TaC’s hin und her.
"Hm ... ich spüre auch nichts", verkündete Webolo stolz und strahlte dabei Stibizi bis über beide Ohren an.
Crosideria antwortete leicht gereizt: „Mag sein, daß ihr nichts fühlt... schließlich seid ihr nur Menschen."
"NUR Menschen?" empört riss Ritter Canerio die Augen weit auf. "Da hört sich doch alles auf ... meine Liebe, uns Menschen ist es gelungen, Schreibmaschinen zu entwickeln, während Ihr dafür noch immer Euren Zauber benötigt, Ihr Wortverdreherin!"
"Was ist eine Schreibmaschine?" fiepte Webolo aufgeregt dazwischen. Dieses Wort gefiel ihm.
"Schreibmaschine ... Schreibmaschine ..." Im monotonen Takt wiederholte Morholt das Wort als versuche er sich an etwas zu erinnern, was er nur kurz aus dem Gedächtnis verloren hatte.
"Wie schön für Euch", antwortete Crosideria freundlich. Sie lächelte Ritter Canerio auf ungewöhnlich freundliche Art an, formte die Lippen zu einem kleinen runden "O" und plötzlich saß der Helm des Ritters verkehrt herum auf dem Kopf.
"Kann das Eure Schreibmaschine auch, lieber Ritter?" erkundigte sie sich neugierig.
"Eine Unverschämtheit ist das, jawoll ... bringt das soooooofort wieder in Ordnung, alberne Hexe!" pöbelte es unterm dem Helm heraus.
"Natürlich, keine Problem ..." 
Crosideria grinste, flüsterte ganz leise ein Wort und zack - riss es dem Ritter den Helm vom Kopf und beförderte eben jenen mit lauten Scheppern bis hin vor die Stalltür.

Sylveria stellte sich neben Crosideria und schüttelte sanft den Kopf. "Heb dir das für etwas Wichtigeres auf, du wirst noch genügend Möglichkeit haben, dich auszutoben, ja?"
Karni und Bruder TaC blickten verstört zu Crosideria hin, die das wütende Funkeln in ihren Augen kaum unterdrücken konnte.
"Was ist mit ihr? Hat sie so was öfters?"
Selbst Moordrache schien wieder wach zu werden und auch Morholt, Webolo und die kleine Fee Stibizi sahen etwas erschrocken aus.
Sylveria blickte ziemlich ernst in die Runde.
"Nein, so etwas passiert eigentlich sehr selten. Aber etwas stört das Gleichgewicht in ihr ... was bedeutet, dass etwas sehr böses hierher unterwegs ist. Wir sollten uns beeilen und uns ein sicheres Versteck suchen ... bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben und vor allem: Was wir tun können."
 

© by Cancelot


"Ja, aber wir wissen doch nicht einmal, was da im Anmarsch ist", gab Bruder TaC mit sorgenvoll gerunzelter Stirn zu bedenken, "wie sollen wir uns denn da eine Strategie zurechtlegen?"
Während sie sich beratschlagten und sich die Köpfe darüber zerbrachen, was als nächstes zu tun sei, bemerkte niemand, wie Stibitzi sich klammheimlich davonstahl. Auf leisen Füßen und ohne ein Geräusch zu verursachen schlich sich die kleine Fee aus dem Lichtkreis des Lagerfeuers, breitete ihre filigranen Flügel aus und flog heimlich in die Nacht davon.
Nein - nicht weil sie ihre neugewonnenen Freunde schon wieder verlassen wollte, sondern nur um zu sehen, was es war, das Crosideria so sehr in ihrem seelischen Gleichgewicht störte und sie alle vielleicht in große Gefahr bringen konnte. Und weil sie etwas gutzumachen hatte.
So flog sie unbemerkt durch die Dunkelheit, zielstrebig und ohne Pause, und je weiter sie sich von Morholts Hütte entfernte, desto deutlicher konnte auch sie es in ihrem kleinen Feenherzen spüren: etwas Unglaubliches, Unfassbares schien in dieser Nacht im Gange zu sein. 
Ohne nachzudenken, als würde sie von magischer Hand gelenkt, steuerte sie unbewußt immer in eine Richtung und strebte in raschem Flug geradewegs auf dieses Übel zu, das sich vor ihr zusammenzubrauen schien. Sie schwirrte über kleine Wäldchen und Lichtungen, überquerte Wiesen und einen Bach und kam schließlich in ihr völlig fremdes Gebiet. Die Fee kannte sich nicht sehr gut aus in dieser Gegend, stammte sie doch ursprünglich aus einem ganzen anderen Teil des Drachentals, trotzdem wußte sie instinktiv, wohin sie fliegen mußte. Mittlerweile war das Unheil so deutlich zu spüren, daß sie beinahe glaubte, es mit den Händen greifen zu können.
Und bald sah sie ihre und Crosiderias dunklen Ahnungen bestätigt:
Auf einem Hügel hinter einem kleinen Waldstück sammelte sich eine Armee, eine riesige Armee.

Stibitzi verlangsamte ihren Flug, ließ sich vorsichtig in der Krone einer Tanne nieder und kroch eilig zwischen die Zweige, damit niemand sie bemerken konnte. Ihre dunklen Augen starrten ungläubig auf das Schauspiel, das sich dort auf dem Hügel vollzog. 
Dutzende von Plattladinen in silbergänzenden Helmen und Plattenpanzern rasselten mit Getöse den Hügel herauf, mit siegessicherem Grinsen in den Gesichtern und bis an die Zähne bewaffnet - und von der anderen Seite näherte sich ein ganzes Geschwader wildgewordener Wirbelmöhren, die kampflustig ihre Schilde und Speere schwangen.
Der kleinen Fee stockte der Atem und sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können bei diesem Anblick. Plattladine kannte sie ja nun - aber was waren das für Geschöpfe, die aussahen wie überdimensionale Mohrrüben mit grünen Büscheln am oberen Ende und Speeren und Spießen in etwas, das man kaum als "Hände" bezeichnen konnte - es sah eher aus wie sprießende Wurzeln oder Auswüchse. Im Gleichschritt und begleitet von einem monotonen Singsang, der sich entfernt wie ein "yo yo yo" anhörte, kamen sie in sauber ausgerichteten Reihen den silbernen Plattladinen entgegen.

Plötzlich sog Stibitzi heftig die Luft ein und klammerte sich vor Angst an den Zweigen fest.
Denn hinter den Wirbelmöhren kroch langsam das gestaltgewordene Böse den Hügel herauf.

Schwarze Schuppen schabten über den Fels, mit einem schmirgelnden Geräusch, das der Fee einen kalten Schauer über den Rücken jagte; aufgerichtete Stacheln, so spitz und scharf wie frisch geschliffene Schwertklingen wippten bei jedem der mächtigen Schritte der Kreatur. Lange gebogene Klauen pflügten das Erdreich auf ...
Stibitzi hielt den Atem an, als sie durch die Tannenzweige das seltsam fremd anmutende Schuppentier betrachtete, und ihre Augen wurden groß und größer. Noch niemals hatte sie einen Drachen von solchen Ausmaßen gesehen: sein riesiger, schlangenförmiger Leib war von Schuppen bedeckt, von denen jede einzelne hart wie Eisenplatten und scharfkantig wie eine Axtschneide schien, und seine gigantischen ledrigen Schwingen schleiften lässig über den Boden, als er sich langsam den Hügel heraufwand und sich aus rotglühenden Augen umsah. 
Eine Aura des Bösen umgab den Drachen wie eine stinkende, schwarze Wolke und noch etwas war sehr merkwürdig an ihm - Stibitzi mußte zweimal hinsehen, damit sie überhaupt erfassen konnte, was es war.
Seine Schuppen widerspiegelten kein Licht.
Der Mond glänzte groß und hell am Himmel und tauchte die Landschaft in seinen Schein, spiegelte sich in den kleinen Tümpeln am Fuße des Hügels, in den Rüstungen der Plattladine, blitzte auf den Speerspitzen und Axtschneiden und überzog die zitternden Blättern der Espen mit flüssigem Silber. 
Nur auf den Drachenschuppen spiegelte sich das Mondlicht nicht, sie waren schwarz. Schwarz und glanzlos wie eine Neumondnacht. Es schien, als würde der Drache alles Licht um sich herum regelrecht aufsaugen. 
Einen Augenblick lang kam er Stibitzi merkwürdig bekannt vor, so als hätte sie ihn schon oft gesehen - obwohl sie sich sicher war, noch niemals einem solch gigantischen Wesen begegnet zu sein.
Auf der Hügelkuppe angekommen verharrte der Schwarze eine Weile reglos wie eine Statue. Dann warf er mit einem Mal seinen gewaltigen, hässlichen Schädel herum, riss das Maul auf und stieß ein solch markerschütterndes Brüllen aus, daß die Fee beinahe von dem Ast fiel, an den sie sich klammerte. 
Er wand seinen langen vernarbten Hals zur Seite, und neben ihm konnte sie den Magier erkennen, der furchtlos auf das riesige Wesen zuschritt, vor ihm stehenblieb und dann eine Art Zwiesprache mit dem Drachen hielt, während er ihm den Hals kraulte.
Bei Reigamis Anblick wurde Stibitzi von einer maßlosen Wut gepackt, erinnerte sie sich doch sogleich wieder an die Zeiten, die sie bei ihm als verwandeltes Faß zubringen mußte. Mit haßerfülltem Blick starrte sie hinunter auf den Magier und sein Haustier. Und auf einmal wußte sie auch, wo sie den Drachen schon einmal gesehen hatte, schlagartig kehrte die Erinnerung zurück - er war der steinerne Türwächter an Reigamis Turm gewesen.
Der Magier hatte sich also mit den Plattladinen verbündet, eine Armee aus magischen Möhren geschaffen und zudem noch den Drachen erweckt, der hunderte von Jahren in Stein gebannt gewesen war - das waren ja zauberhafte Neuigkeiten, die sie ihren Freunden zu überbringen hatte.

Die kleine Fee seufzte tief, zog den Kopf ein und beobachtete gebannt den Schwarzgeschuppten, der seinen glühenden Blick über den Hügel schweifen ließ. Dampfschwaden stiegen aus seinen geblähten Nüstern - und plötzlich ruckte er mit dem Kopf und ließ einen gewaltigen Feuerstoß auf einen der Plattladine sausen, der sofort in einer orangeroten Flammenwand verschwand. Stibitzi sah den Magier grinsen, ein zufriedenes, böses Grinsen - und als der Rauch und die Flammen sich verzogen hatte, wußte sie auch, warum er das tat: der Plattladin, über den die Feuersglut hinweggeschossen war, war zu Stein geworden - ein regloses, steinernes Standbild, das aussah, als würde es schon seit Generationen an genau dieser Stelle auf dem Hügel stehen. 
Entsetzen machte sich in ihr breit ... sie mußte ihre Freunde warnen, bevor es zu spät war. Sie mußten fliehen, flüchten, sich in Sicherheit bringen - denn gegen diese Armee und den Drachen würden sie nicht den Hauch einer Chance haben ...
"Ganz schön fieses Biest", sagte da plötzlich eine Stimme direkt neben ihrem Ohr.
Stibitzi ließ vor Schreck den Ast los, an den sie sich klammerte, und sauste - nur von den Zweigen gebremst - einige Etagen tiefer.
Als sie völlig zerkratzt und außer Atem wieder zum Halten kam, blickte sie verdutzt nach oben - und direkt neben der Stelle, an der sie eben noch gesessen war, sah sie buntes Gefieder durch die Tannennadeln blitzen.
"Verzeihung", sagte die Stimme betreten, "ich wollte dich nicht erschrecken..."
Und gleich darauf hüpfte ein buntschillernder Vogel von Ast zu Ast nach unten, bis er neben ihr saß.
Stibitzi starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
"Du ... du kannst sprechen??" entfuhr es ihr ungläubig.
"Na und?" grinste der Gefiederte. "Du ja auch. Ist doch nichts ungewöhnliches. Was tust du denn überhaupt hier?"
Neugierig starrten sie sich gegenseitig an und Stibitzi stellte bei ihrem Gegenüber - bis auf die schillernden Federn - leichte Ähnlichkeit mit einer großen Eule fest, obwohl er noch ein ganzes Stück größer war als eine solche. Der Vogel fuhr sich verlegen mit seinem gebogenem Schnabel durchs Gefieder, legte den Kopf schräg und betrachtete die Fee mit versonnenem Blick.
"Flügel besitzt du ... aber bist doch kein Vogel ... merkwürdig, was für ein Wesen bist du?"
"Na, 'ne Fee", gab Stibitzi beleidigt zurück. "Was denkst du denn?"
"Aha, eine Fee also, soso", erwiderte er, "freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Hansevogel. Tach auch."
Bevor sie sich weiter in ein Gespräch vertiefen konnten, ertönte das furchterregende Brüllen des Drachens über den Hügel, das sie zusammenschrecken ließ.
"Tut mir leid", sagte die Fee hastig, "ich würde mich gerne mit dir unterhalten, aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muß ganz dringend etwas erledigen und das ist von größter Wichtigkeit!"
Mit diesen Worten krabbelte sie den Ast entlang nach außen und entfaltete ihre Flügel.
"Kann ich dich nicht ein Stück begleiten? Ich hab' sowieso gerade nichts vor ..." 
"Begleiten, hm ..."
Stibitzi überlegte einen kurzen Moment.
"Naja, warum eigentlich nicht ... also gut, komm mit. Aber wir müssen ein ganzes Stück weit fliegen, also wenn du vorhast, unterwegs schlapp zu machen ..."
"Keine Sorge", erwiderte Hansevogel fröhlich. "Ich bin ein guter Flieger! So leicht mach ich nicht schlapp ..."

Nebeneinander zogen sie durch die Nacht. Das heißt, Hansevogel flog mit ruhigem, gleichmäßigen und kraftsparendem Flügelschlag, während Stibitzi aufgeregt um ihn herumflatterte und ihm Löcher in den Bauch fragte nach seiner Herkunft, seinem Ziel und allem möglichen anderen Kram und gleichzeitig von ihren Erlebnissen berichtete. Der Vogel gab geduldig Auskunft und hörte sich ihre verworren klingenden Geschichten an, und so sahen sie schon bald ihr Ziel unter sich auftauchen: die verbrannten Reste von Reigamis Turm. Von dem einst stolzen Gemäuer war kaum noch etwas übriggeblieben und aus den angekohlten Steinhaufen stiegen noch immer Rauchschwaden. Der früher stolz gepflegte und gehegte Garten glich einem Schlachtfeld: plattgewalzt die Beete, die Zäune und Mäuerchen eingerissen, überall lagen Rüstungsteile, Ziegelsteine und ausgerissene Pflanzen herum und das schmiedeeiserne Tor quietschte windschief in den Angeln. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und auch von anderen Wesen konnten sie keine Spur entdecken.
"Was willst du denn eigentlich hier?" fragte Hansevogel verwundert, als die Fee über dem verwüsteten Garten zur Landung ansetzte. "Hier gibt es doch nichts mehr zu holen."
"Doch, das gibt es", keuchte Stibitzi, deren wirres Geflatter sie ganz schön aus der Puste gebracht hatte. "Du wirst gleich sehen, was ich meine."
Leichtfüßig setzte sie neben den schwelenden Ruinen des Turms auf und hüpfte sofort zum Brunnen. Sie hielt sich am gemauerten Rand fest und spähte hinunter in den tiefen, schwarzen Schacht.
"Da muß ich runter", erklärte sie dem erstaunten Hansevogel, der sich neben ihr auf dem Brunnenrand niedergelassen hatte, und ihre Stimme klang ein wenig unbehaglich dabei. Der Schacht war sehr schmal, und mit ausgebreiteten Flügeln würde sie niemals dort hineinpassen, erkannte sie - sie würde klettern müssen. Oder einen Zauber anwenden.

Ja genau, irgendwo da unten ist dieser Hut...
© by Sylvia

"Da runter?? Was um Himmels willen willst du denn da unten?"
"Den Hut holen."
Sie starrte hinunter in die gähnende, schwarze Tiefe.
"Welchen Hut?"
Hansevogel gaffte die Fee an, als ob sie nicht mehr alle fünf Sinne beisammen hätte.
"Reigamis Hut. Das ist sehr wichtig ... lebenswichtig sozusagen. Frag' nicht lange, ich muß mich eilen ..."
Schon schwang sie die Beine über den Brunnenrand, aber ein vorwitziger Schnabel ziepte an ihren Haaren.
"Du kannst da nicht runterklettern! Lass mich das lieber machen ..."
"Ich werde nicht klettern", erklärte die Fee, aber gleich darauf schaute sie den Vogel ernst an und ihr schmales Gesicht war auf einmal merkwürdig blass. "Ich werde einen Zauber weben, der mich hinunterbringt. Aber dazu brauche ich deine Hilfe ..."
"Natürlich." Der Vogel war ganz bei der Sache. "Sag' mir nur, was ich tun muß."
"Schön. Der Hut muß so schnell wie möglich zu meinen Freunden gelangen, vielleicht können sie mit seiner Hilfe etwas gegen Reigamis Armee ausrichten oder ihn gar aufhalten – der Hut kann für sie die letzte Rettung sein. Wenn ich ihn habe, mußt du ihn sofort zu ihnen bringen, zu Morholts Hütte – du weißt doch, wo das ist, oder? Gut ... aber du darfst dich nicht aufhalten lassen, durch nichts und niemanden – gleichgültig, was geschieht ..."
Hansevogel sah die Fee zweifelnd an.
"Weißt du auch wirklich, was du tust?"
"Ja, das weiß ich", antwortete sie mit fester Stimme und lächelte. "Nur keine Sorge."
 

© by Sylvia
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Und schon geht's zum 14. Kapitel: Freund oder Feind?
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Denkt bitte daran: auch diese Geschichte nimmt am Drachentaler-Wettbewerb teil.
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