Fern und weit ab von unseren Freunden saß
derweil ein aufs äußerste in Rage geratener Magier in den Wipfeln
einer abgebrannten Tanne und starrte mit rotgeräderten Augen auf die
Trümmer seiner einstmals vollkommenen Behausung. Seine Verzweiflung
wich unvorstellbarer Wut, und anstelle des leicht irren Glitzerns trat
jetzt ein gefährliches Leuchten in seine Augen.
"Diese Narren ... glauben sie tatsächlich,
ungestraft davon zu kommen?" zischte er. Er schloss die Augen, verdrängte
die brennende Wut in sich und konzentrierte sich auf einen Punkt irgendwo
in seinen Gedanken. Langsam begann sein Körper immer durchsichtiger
zu werden, bis er schließlich ganz verschwand.
Kurze Zeit darauf materialisierte er sich wieder
einen knappen Meter entfernt vor den Resten seines prächtigen Turms.
Die beeindruckende Gestalt des Drachens über dem Torbogen war von
schwarzen Rußspuren bedeckt und kaum noch zu erkennen.
"Sieh, was sie uns angetan haben ...", rief
er hinauf zu dem stummen Zeugen und ballte seine Hände zu Fäusten.
"Sie haben alles zerstört, alles..... aber, glaube mir, das werden
sie bereuen ... und sich wünschen, uns nie begegnet zu sein!"
Er verstummte kurz, dann streckte er seine
Hände empor zu dem Drachen und rief, nein ... schrie mit lauter Stimme:
"LONPIGHUKAR FARASENT, IN DOGHURIA PA SERMENT"
Das Mauerwerk begann zu erzittern wie unter
gewaltigen Erdstößen, die Luft um ihn herum färbte sich
grün, wallte auf und hüllte die Reste des Turms in nebelhafte
Schwaden. Es war fast nichts mehr zu erkennen, doch plötzlich funkelten
zwei rote Punkte aus den Schwaden heraus, zuerst ziemlich schwach, jedoch
stetig kräftiger werdend bis sie sich schließlich durch die
dichte Nebelwand brannten und als ein dämonisch glühendes Augenpaar
herausstellten.
Über Reigamis Gesicht huschte ein wohlwollendes
Grinsen. Seine Gedanken waren so finster wie noch nie zuvor. Oh nein, er
war kein Magier, welcher die schwarze Magie auszuüben pflegte ...
er war eigentlich ein sehr friedvoller Mensch. Aber ihm alles zu nehmen,
sein Haus, seinen Garten ... beim Gedanken an seinen Garten schlichen sich
kleine Tränen in seine Augen. "Oh, mein Garten, meine kleinen unschuldigen
Pflänzchen....", jammerte er leise, wirklich, solch üble Tat
verdiente es aufs schärfste bestraft zu werden! Und dazu war ihm jedes
Mittel recht, jedes.
Steine bröckelten ab und stürzten
zu Boden, schließlich brach der Rest des Torbogens auseinander. Eine
große schwarze Klaue schob sich nach vorn, dann eine zweite, und
durch den dichten Nebel stach eine Flügelspitze riesigen Ausmaßes.
Schwere, stampfende Schritte ließen die Erde unter den Füßen
des Magiers erzittern und zerrissen den Nebel in kleine dünne Schwaden
die sich schnell verflüchtigten.
"Ja, mein Kleiner ... komm, komm zu deinem
Herrscher ...", fast zärtlich flüsterte der Magier diese Worte.
Die restlichen Schwaden zur Seite treibend,
stieß nun eine furchterregende Gestalt hervor ... ihr schwarzes Schuppenkleid
schluckte das Licht und verschmolz fast völlig mit seiner dunklen
Umgebung. Nur die roten glühenden Augen waren zu sehen und seine schneeweißen
langen spitzen Fangzähne, als er sein Maul weit öffnete und ein
markerschütterndes Brüllen losließ.
Der Magier schien zufrieden. Vorsichtig trat
er näher und tätschelte liebevoll den Hals des Untiers.
"Nun, lass uns unsere Freunde suchen gehen
... doch zuerst bringe mich auf die Möhrenfelder des Moordrachen ...
wir benötigen noch etwas Unterstützung, hehehe ..."
Er schwang sich auf den Rücken des Drachens,
der ein leises gefährliches Knurren von sich gab und erhob sich mit
ihm zusammen in die tiefschwarze Nacht, getrieben von einer unwirklichen
Wut und dem Wunsch nach furchtbarer Rache.
Das Möhrenfeld, genau das Feld, auf dem
einst der Knappe Webolo Bekanntschaft mit dem Moordrachen machte, lag still
und verborgen im Dunkeln. Kein Windzug rüttelte an den grünen
Büscheln, die keck nach oben ragten und der Mond über dem Drachental
bedeckte alles mit einem sanften Licht. Es war ein Bild vollkommener Harmonie,
durch nichts getrübt. Doch plötzlich verdunkelte etwas den Himmel
über dem Feld und die Silhouetten mächtiger Schwingen zeichneten
sich auf dem Erdreich ab.
Reigamis Drache setzte zur Landung an und
obwohl er ein Gigant unter den Drachen zu sein schien - er überragte
den Moordrachen mit Sicherheit um fast zwei Köpfe - so tat er es fast
mit einer elfengleichen Geschmeidigkeit und Grazie.
Nicht ein Büschel wurde zerdrückt,
zielsicher balancierte er seine Schritte am Rand des Feldes entlang um
sich schließlich flach hinzulegen damit Magier Reigami absteigen
konnte.
© by Sylvia
Ohne zu warten eilte der Magier durch die Reihen,
bis er in der Mitte des Feldes angelangt war. Freudig rieb er seine Hände,
schnalzte einmal mit den Fingern und begann sich langsam zu drehen.
Er flüsterte dazu mit heiserer Stimme
vollkommen unverständliche Worte, immer schneller werdend, und seine
Umdrehungsgeschwindigkeit schien sich seiner Sprechgeschwindigkeit anzupassen.
Er wirbelte wie ein Derwisch um die eigene
Achse, immer schneller und lauter wurden seine Worte und Bewegungen, bis
er nur noch einem wild rotierendem Kreisel glich.
Bewegung geriet in das Feld, Büschel
begannen sich mit im Rhythmus der Worte zu bewegen und zu drehen und ein
heftiger Wind kam auf. Mit unglaublicher Geschwindigkeit fegte er über
das Feld hinweg und rupfte sämtliche Möhren heraus, die ihre
Büschel zu weit nach oben streckten.
Der Magier stoppte abrupt und schien damit
auch den Wind zum Stillstand gebracht zu haben. Kein Lüftchen wehte
mehr und alles lag wieder ruhig vor ihm. Alles?
Jedem normalen Lebewesen wäre das Blut
in den Adern gefroren beim Anblick dieser unheimlichen Armee, die der Magier
mittels seiner magischen Kräfte dort aus dem Feld herbeigerufen hatte.
Möhren! Lebende Möhren der allergefährlichsten
Art ... Wirbelmöhren!
Riesig waren sie, riesig in ihren Ausmaßen
und mit furchterregenden Gesichtern. Dazu waren sie bewaffnet.
Allesamt trugen sie Schilder und Speere, deren
Spitzen im Mondlicht mehr als beeindruckend glänzten.
Eine der Möhren, wahrscheinlich der Anführer,
da er noch etwas größer als die anderem Möhren war, trat
hervor, stellte sich vor den Magier und salutierte:
"Commandante Morretto, mui Capitan!" Er schlug
seine Hacken zusammen und starrte gehorsam in die Augen des Magiers.
"Seid ihr bereit?" fragte der Magier, der
selbst beeindruckt schien, mit tonloser Stimme.
"Si si, mui Capitan. Mi Carottas bereit zu
schlagen alle Feinde wo gibt, nix Problemo."
Reigami runzelte leicht irritiert die Stirn.
Irgendwie schien der Sprachzauber nicht ganz gewirkt zu haben, doch egal
... sie sollten ja kämpfen, nicht plaudern oder gepflegte Konversation
betreiben.
"Jaja, schon gut. Nun geht, verbündet
euch mit den Plattladinen und bewegt euch dann in Richtung der südlichen
Bergkette. Mein Drache und ich werden dort auf euch warten."
"Si si ... Mui Capitan. Wir warten dort, mi
Carottas muchos mächtig übellaunig, hehehe ..."
Die Anführermöhre grinste diabolisch
und drehte sich zu seiner untergebenen Armee herum.
"Amigos, errrhebt euch ... folgt mirrrrrrr",
brüllte er, stemmte seinen Speer inbrünstig gen Himmel und stapfte
los.
„Yo, yo ,yo", erklang es im Chor und jede
der Möhren folgte blind ergeben ihrem Anführer.
Reigami blickte der von dannen ziehenden Möhren-Armee
gutgelaunt hinterher. Jetzt würde sich ihm niemand mehr entgegen stellen
können, er war absolut in der Übermacht. Solch eine Schmach würde
er kein zweitesmal hinnehmen müssen, dessen war er sich sicher.
Er lief wieder zu seinem Drachen, in dessen
Augen noch immer ein unterschwellig böses Funkeln zu erkennen war.
Reigami war sich nicht 100% sicher , ob es tatsächlich so ratsam gewesen
war, den Turmdrachen zu erwecken, doch er hielt sich getreu an das Motto:
"Lieber einen Feind vor mir, als einen Dummkopf an meiner Seite" und verwarf
eiligst wieder alle Bedenken. Wäre der Drache tatsächlich so
mächtig wie die Legende es beschrieb, wäre es seinen Vorfahren
ja nicht möglich gewesen ihn in Stein zu bannen. Auch wenn ihn diesbezüglich
ab und zu leise Zweifel beschlichen, ob es tatsächlich seine Vorfahren
waren, die dieses Werk vollbrachten.
Er setzte sich auf den Rücken und verspürte
erneut die Kälte, die durch seine Beinkleider kroch, als er in direktem
Kontakt mit der Haut des Drachens kam. Doch das ignorierte er, schließlich
hatte er noch was vor.
"Los, flieg' gen Süden, mein Lieber ...
es gibt dort jemanden, der dich bestimmt gern kennen lernen möchte
... "
Weit entfernt von diesem unheimlichen Szenario
saßen unsere Freunde noch immer gemütlich zusammen am Lagerfeuer
und waren gerade dabei zu überlegen, wer nun wo schlafen sollte, als
sich die beiden Hexen auf einmal schlagartig erhoben.
"Was ist?" fragte Bruder TaC erstaunt.
" Wir spüren etwas ... da ist etwas auf
dem Weg zu uns ... ", flüsterte Sylveria leise.
"Was? Was ist auf dem Weg zu uns ... so redet
doch ... " Morholt sah die beiden Hexen erschrocken an, so hatte er sie
noch nie erlebt. Eine unglaubliche Spannung machte sich plötzlich
breit.
Crosideria blickte nur einmal kurz zur Seite.
"Jemand mit sehr, sehr schlechter Laune ... "
Moordrache seufzte und murmelte mit geschlossenen
Augen: „Also, ich spüre gar nichts, absolut nichts." Er war müde
und sehnte sich unendlich nach ausreichend Schlaf.
Auch Kalooth schien etwas zu spüren ...
unruhig bewegte er sich auf der Schulter Bruder TaC’s hin und her.
"Hm ... ich spüre auch nichts", verkündete
Webolo stolz und strahlte dabei Stibizi bis über beide Ohren an.
Crosideria antwortete leicht gereizt: „Mag
sein, daß ihr nichts fühlt... schließlich seid ihr nur
Menschen."
"NUR Menschen?" empört riss Ritter Canerio
die Augen weit auf. "Da hört sich doch alles auf ... meine Liebe,
uns Menschen ist es gelungen, Schreibmaschinen zu entwickeln, während
Ihr dafür noch immer Euren Zauber benötigt, Ihr Wortverdreherin!"
"Was ist eine Schreibmaschine?" fiepte Webolo
aufgeregt dazwischen. Dieses Wort gefiel ihm.
"Schreibmaschine ... Schreibmaschine ..."
Im monotonen Takt wiederholte Morholt das Wort als versuche er sich an
etwas zu erinnern, was er nur kurz aus dem Gedächtnis verloren hatte.
"Wie schön für Euch", antwortete
Crosideria freundlich. Sie lächelte Ritter Canerio auf ungewöhnlich
freundliche Art an, formte die Lippen zu einem kleinen runden "O" und plötzlich
saß der Helm des Ritters verkehrt herum auf dem Kopf.
"Kann das Eure Schreibmaschine auch, lieber
Ritter?" erkundigte sie sich neugierig.
"Eine Unverschämtheit ist das, jawoll
... bringt das soooooofort wieder in Ordnung, alberne Hexe!" pöbelte
es unterm dem Helm heraus.
"Natürlich, keine Problem ..."
Crosideria grinste, flüsterte ganz leise
ein Wort und zack - riss es dem Ritter den Helm vom Kopf und beförderte
eben jenen mit lauten Scheppern bis hin vor die Stalltür.
Sylveria stellte sich neben Crosideria und
schüttelte sanft den Kopf. "Heb dir das für etwas Wichtigeres
auf, du wirst noch genügend Möglichkeit haben, dich auszutoben,
ja?"
Karni und Bruder TaC blickten verstört
zu Crosideria hin, die das wütende Funkeln in ihren Augen kaum unterdrücken
konnte.
"Was ist mit ihr? Hat sie so was öfters?"
Selbst Moordrache schien wieder wach zu werden
und auch Morholt, Webolo und die kleine Fee Stibizi sahen etwas erschrocken
aus.
Sylveria blickte ziemlich ernst in die Runde.
"Nein, so etwas passiert eigentlich sehr selten.
Aber etwas stört das Gleichgewicht in ihr ... was bedeutet, dass etwas
sehr böses hierher unterwegs ist. Wir sollten uns beeilen und uns
ein sicheres Versteck suchen ... bis wir wissen, mit wem wir es zu tun
haben und vor allem: Was wir tun können."
"Ja, aber wir wissen doch nicht einmal,
was da im Anmarsch ist", gab Bruder TaC mit sorgenvoll gerunzelter Stirn
zu bedenken, "wie sollen wir uns denn da eine Strategie zurechtlegen?"
Während sie sich beratschlagten und sich
die Köpfe darüber zerbrachen, was als nächstes zu tun sei,
bemerkte niemand, wie Stibitzi sich klammheimlich davonstahl. Auf leisen
Füßen und ohne ein Geräusch zu verursachen schlich sich
die kleine Fee aus dem Lichtkreis des Lagerfeuers, breitete ihre filigranen
Flügel aus und flog heimlich in die Nacht davon.
Nein - nicht weil sie ihre neugewonnenen Freunde
schon wieder verlassen wollte, sondern nur um zu sehen, was es war, das
Crosideria so sehr in ihrem seelischen Gleichgewicht störte und sie
alle vielleicht in große Gefahr bringen konnte. Und weil sie etwas
gutzumachen hatte.
So flog sie unbemerkt durch die Dunkelheit,
zielstrebig und ohne Pause, und je weiter sie sich von Morholts Hütte
entfernte, desto deutlicher konnte auch sie es in ihrem kleinen Feenherzen
spüren: etwas Unglaubliches, Unfassbares schien in dieser Nacht im
Gange zu sein.
Ohne nachzudenken, als würde sie von
magischer Hand gelenkt, steuerte sie unbewußt immer in eine Richtung
und strebte in raschem Flug geradewegs auf dieses Übel zu, das sich
vor ihr zusammenzubrauen schien. Sie schwirrte über kleine Wäldchen
und Lichtungen, überquerte Wiesen und einen Bach und kam schließlich
in ihr völlig fremdes Gebiet. Die Fee kannte sich nicht sehr gut aus
in dieser Gegend, stammte sie doch ursprünglich aus einem ganzen anderen
Teil des Drachentals, trotzdem wußte sie instinktiv, wohin sie fliegen
mußte. Mittlerweile war das Unheil so deutlich zu spüren, daß
sie beinahe glaubte, es mit den Händen greifen zu können.
Und bald sah sie ihre und Crosiderias dunklen
Ahnungen bestätigt:
Auf einem Hügel hinter einem kleinen
Waldstück sammelte sich eine Armee, eine riesige Armee.
Stibitzi verlangsamte ihren Flug, ließ
sich vorsichtig in der Krone einer Tanne nieder und kroch eilig zwischen
die Zweige, damit niemand sie bemerken konnte. Ihre dunklen Augen starrten
ungläubig auf das Schauspiel, das sich dort auf dem Hügel vollzog.
Dutzende von Plattladinen in silbergänzenden
Helmen und Plattenpanzern rasselten mit Getöse den Hügel herauf,
mit siegessicherem Grinsen in den Gesichtern und bis an die Zähne
bewaffnet - und von der anderen Seite näherte sich ein ganzes Geschwader
wildgewordener Wirbelmöhren, die kampflustig ihre Schilde und Speere
schwangen.
Der kleinen Fee stockte der Atem und sie glaubte
ihren Augen nicht trauen zu können bei diesem Anblick. Plattladine
kannte sie ja nun - aber was waren das für Geschöpfe, die aussahen
wie überdimensionale Mohrrüben mit grünen Büscheln
am oberen Ende und Speeren und Spießen in etwas, das man kaum als
"Hände" bezeichnen konnte - es sah eher aus wie sprießende Wurzeln
oder Auswüchse. Im Gleichschritt und begleitet von einem monotonen
Singsang, der sich entfernt wie ein "yo yo yo" anhörte, kamen sie
in sauber ausgerichteten Reihen den silbernen Plattladinen entgegen.
Plötzlich sog Stibitzi heftig die Luft
ein und klammerte sich vor Angst an den Zweigen fest.
Denn hinter den Wirbelmöhren kroch langsam
das gestaltgewordene Böse den Hügel herauf.
Schwarze Schuppen schabten über den Fels,
mit einem schmirgelnden Geräusch, das der Fee einen kalten Schauer
über den Rücken jagte; aufgerichtete Stacheln, so spitz und scharf
wie frisch geschliffene Schwertklingen wippten bei jedem der mächtigen
Schritte der Kreatur. Lange gebogene Klauen pflügten das Erdreich
auf ...
Stibitzi hielt den Atem an, als sie durch
die Tannenzweige das seltsam fremd anmutende Schuppentier betrachtete,
und ihre Augen wurden groß und größer. Noch niemals hatte
sie einen Drachen von solchen Ausmaßen gesehen: sein riesiger, schlangenförmiger
Leib war von Schuppen bedeckt, von denen jede einzelne hart wie Eisenplatten
und scharfkantig wie eine Axtschneide schien, und seine gigantischen ledrigen
Schwingen schleiften lässig über den Boden, als er sich langsam
den Hügel heraufwand und sich aus rotglühenden Augen umsah.
Eine Aura des Bösen umgab den Drachen
wie eine stinkende, schwarze Wolke und noch etwas war sehr merkwürdig
an ihm - Stibitzi mußte zweimal hinsehen, damit sie überhaupt
erfassen konnte, was es war.
Seine Schuppen widerspiegelten kein Licht.
Der Mond glänzte groß und hell
am Himmel und tauchte die Landschaft in seinen Schein, spiegelte sich in
den kleinen Tümpeln am Fuße des Hügels, in den Rüstungen
der Plattladine, blitzte auf den Speerspitzen und Axtschneiden und überzog
die zitternden Blättern der Espen mit flüssigem Silber.
Nur auf den Drachenschuppen spiegelte sich
das Mondlicht nicht, sie waren schwarz. Schwarz und glanzlos wie eine Neumondnacht.
Es schien, als würde der Drache alles Licht um sich herum regelrecht
aufsaugen.
Einen Augenblick lang kam er Stibitzi merkwürdig
bekannt vor, so als hätte sie ihn schon oft gesehen - obwohl sie sich
sicher war, noch niemals einem solch gigantischen Wesen begegnet zu sein.
Auf der Hügelkuppe angekommen verharrte
der Schwarze eine Weile reglos wie eine Statue. Dann warf er mit einem
Mal seinen gewaltigen, hässlichen Schädel herum, riss das Maul
auf und stieß ein solch markerschütterndes Brüllen aus,
daß die Fee beinahe von dem Ast fiel, an den sie sich klammerte.
Er wand seinen langen vernarbten Hals zur
Seite, und neben ihm konnte sie den Magier erkennen, der furchtlos auf
das riesige Wesen zuschritt, vor ihm stehenblieb und dann eine Art Zwiesprache
mit dem Drachen hielt, während er ihm den Hals kraulte.
Bei Reigamis Anblick wurde Stibitzi von einer
maßlosen Wut gepackt, erinnerte sie sich doch sogleich wieder an
die Zeiten, die sie bei ihm als verwandeltes Faß zubringen mußte.
Mit haßerfülltem Blick starrte sie hinunter auf den Magier und
sein Haustier. Und auf einmal wußte sie auch, wo sie den Drachen
schon einmal gesehen hatte, schlagartig kehrte die Erinnerung zurück
- er war der steinerne Türwächter an Reigamis Turm gewesen.
Der Magier hatte sich also mit den Plattladinen
verbündet, eine Armee aus magischen Möhren geschaffen und zudem
noch den Drachen erweckt, der hunderte von Jahren in Stein gebannt gewesen
war - das waren ja zauberhafte Neuigkeiten, die sie ihren Freunden zu überbringen
hatte.
Die kleine Fee seufzte tief, zog den Kopf ein
und beobachtete gebannt den Schwarzgeschuppten, der seinen glühenden
Blick über den Hügel schweifen ließ. Dampfschwaden stiegen
aus seinen geblähten Nüstern - und plötzlich ruckte er mit
dem Kopf und ließ einen gewaltigen Feuerstoß auf einen der
Plattladine sausen, der sofort in einer orangeroten Flammenwand verschwand.
Stibitzi sah den Magier grinsen, ein zufriedenes, böses Grinsen -
und als der Rauch und die Flammen sich verzogen hatte, wußte sie
auch, warum er das tat: der Plattladin, über den die Feuersglut hinweggeschossen
war, war zu Stein geworden - ein regloses, steinernes Standbild, das aussah,
als würde es schon seit Generationen an genau dieser Stelle auf dem
Hügel stehen.
Entsetzen machte sich in ihr breit ... sie
mußte ihre Freunde warnen, bevor es zu spät war. Sie mußten
fliehen, flüchten, sich in Sicherheit bringen - denn gegen diese Armee
und den Drachen würden sie nicht den Hauch einer Chance haben ...
"Ganz schön fieses Biest", sagte da plötzlich
eine Stimme direkt neben ihrem Ohr.
Stibitzi ließ vor Schreck den Ast los,
an den sie sich klammerte, und sauste - nur von den Zweigen gebremst -
einige Etagen tiefer.
Als sie völlig zerkratzt und außer
Atem wieder zum Halten kam, blickte sie verdutzt nach oben - und direkt
neben der Stelle, an der sie eben noch gesessen war, sah sie buntes Gefieder
durch die Tannennadeln blitzen.
"Verzeihung", sagte die Stimme betreten, "ich
wollte dich nicht erschrecken..."
Und gleich darauf hüpfte ein buntschillernder
Vogel von Ast zu Ast nach unten, bis er neben ihr saß.
Stibitzi starrte ihn aus weit aufgerissenen
Augen an.
"Du ... du kannst sprechen??" entfuhr es ihr
ungläubig.
"Na und?" grinste der Gefiederte. "Du ja auch.
Ist doch nichts ungewöhnliches. Was tust du denn überhaupt hier?"
Neugierig starrten sie sich gegenseitig an
und Stibitzi stellte bei ihrem Gegenüber - bis auf die schillernden
Federn - leichte Ähnlichkeit mit einer großen Eule fest, obwohl
er noch ein ganzes Stück größer war als eine solche. Der
Vogel fuhr sich verlegen mit seinem gebogenem Schnabel durchs Gefieder,
legte den Kopf schräg und betrachtete die Fee mit versonnenem Blick.
"Flügel besitzt du ... aber bist doch
kein Vogel ... merkwürdig, was für ein Wesen bist du?"
"Na, 'ne Fee", gab Stibitzi beleidigt zurück.
"Was denkst du denn?"
"Aha, eine Fee also, soso", erwiderte er,
"freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Hansevogel. Tach auch."
Bevor sie sich weiter in ein Gespräch
vertiefen konnten, ertönte das furchterregende Brüllen des Drachens
über den Hügel, das sie zusammenschrecken ließ.
"Tut mir leid", sagte die Fee hastig, "ich
würde mich gerne mit dir unterhalten, aber ich habe nicht viel Zeit.
Ich muß ganz dringend etwas erledigen und das ist von größter
Wichtigkeit!"
Mit diesen Worten krabbelte sie den Ast entlang
nach außen und entfaltete ihre Flügel.
"Kann ich dich nicht ein Stück begleiten?
Ich hab' sowieso gerade nichts vor ..."
"Begleiten, hm ..."
Stibitzi überlegte einen kurzen Moment.
"Naja, warum eigentlich nicht ... also gut,
komm mit. Aber wir müssen ein ganzes Stück weit fliegen, also
wenn du vorhast, unterwegs schlapp zu machen ..."
"Keine Sorge", erwiderte Hansevogel fröhlich.
"Ich bin ein guter Flieger! So leicht mach ich nicht schlapp ..."
Nebeneinander zogen sie durch die Nacht. Das
heißt, Hansevogel flog mit ruhigem, gleichmäßigen und
kraftsparendem Flügelschlag, während Stibitzi aufgeregt um ihn
herumflatterte und ihm Löcher in den Bauch fragte nach seiner Herkunft,
seinem Ziel und allem möglichen anderen Kram und gleichzeitig von
ihren Erlebnissen berichtete. Der Vogel gab geduldig Auskunft und hörte
sich ihre verworren klingenden Geschichten an, und so sahen sie schon bald
ihr Ziel unter sich auftauchen: die verbrannten Reste von Reigamis Turm.
Von dem einst stolzen Gemäuer war kaum noch etwas übriggeblieben
und aus den angekohlten Steinhaufen stiegen noch immer Rauchschwaden. Der
früher stolz gepflegte und gehegte Garten glich einem Schlachtfeld:
plattgewalzt die Beete, die Zäune und Mäuerchen eingerissen,
überall lagen Rüstungsteile, Ziegelsteine und ausgerissene Pflanzen
herum und das schmiedeeiserne Tor quietschte windschief in den Angeln.
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und auch von anderen Wesen
konnten sie keine Spur entdecken.
"Was willst du denn eigentlich hier?" fragte
Hansevogel verwundert, als die Fee über dem verwüsteten Garten
zur Landung ansetzte. "Hier gibt es doch nichts mehr zu holen."
"Doch, das gibt es", keuchte Stibitzi, deren
wirres Geflatter sie ganz schön aus der Puste gebracht hatte. "Du
wirst gleich sehen, was ich meine."
Leichtfüßig setzte sie neben den
schwelenden Ruinen des Turms auf und hüpfte sofort zum Brunnen. Sie
hielt sich am gemauerten Rand fest und spähte hinunter in den tiefen,
schwarzen Schacht.
"Da muß ich runter", erklärte sie
dem erstaunten Hansevogel, der sich neben ihr auf dem Brunnenrand niedergelassen
hatte, und ihre Stimme klang ein wenig unbehaglich dabei. Der Schacht war
sehr schmal, und mit ausgebreiteten Flügeln würde sie niemals
dort hineinpassen, erkannte sie - sie würde klettern müssen.
Oder einen Zauber anwenden.
© by Sylvia
"Da runter?? Was um Himmels willen willst du
denn da unten?"
"Den Hut holen."
Sie starrte hinunter in die gähnende,
schwarze Tiefe.
"Welchen Hut?"
Hansevogel gaffte die Fee an, als ob sie nicht
mehr alle fünf Sinne beisammen hätte.
"Reigamis Hut. Das ist sehr wichtig ... lebenswichtig
sozusagen. Frag' nicht lange, ich muß mich eilen ..."
Schon schwang sie die Beine über den
Brunnenrand, aber ein vorwitziger Schnabel ziepte an ihren Haaren.
"Du kannst da nicht runterklettern! Lass mich
das lieber machen ..."
"Ich werde nicht klettern", erklärte
die Fee, aber gleich darauf schaute sie den Vogel ernst an und ihr schmales
Gesicht war auf einmal merkwürdig blass. "Ich werde einen Zauber weben,
der mich hinunterbringt. Aber dazu brauche ich deine Hilfe ..."
"Natürlich." Der Vogel war ganz bei der
Sache. "Sag' mir nur, was ich tun muß."
"Schön. Der Hut muß so schnell
wie möglich zu meinen Freunden gelangen, vielleicht können sie
mit seiner Hilfe etwas gegen Reigamis Armee ausrichten oder ihn gar aufhalten
– der Hut kann für sie die letzte Rettung sein. Wenn ich ihn habe,
mußt du ihn sofort zu ihnen bringen, zu Morholts Hütte – du
weißt doch, wo das ist, oder? Gut ... aber du darfst dich nicht aufhalten
lassen, durch nichts und niemanden – gleichgültig, was geschieht ..."
Hansevogel sah die Fee zweifelnd an.
"Weißt du auch wirklich, was du tust?"
"Ja, das weiß ich", antwortete sie mit
fester Stimme und lächelte. "Nur keine Sorge."
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