Die Sonne kroch über den Rand des Horizontes
und gab dem Auge den Blick auf das Weideland und die Burg frei. Wachposten
patrouillierten über die zinnenbewehrten Mauern. Hauptmann Gaynen
und einer seiner Soldaten blickten besorgt, die Hand schützend gegen
das Sonnenlicht erhoben, nach Osten.
Noch schien der Scharchawald ruhig, doch bald
würde er wieder dem Hexenkessel des Vortages gleichen. Gaynen griff
unwillkürlich an den Knauf seines Schwertes, als er an die Feinde,
Ritter, Schwertkämpfer und Rammböcke, dachte, die wie Spinnen
aus dem Wald gekrochen waren. Zwar hatten die Laufboten der Tricheller
die Kriegserklärung schon vor Wochen gebracht, doch der König
hatte es nicht für nötig gehalten, genügend Vorkehrungen
für einen Krieg oder eine Belagerung der Scharchaburg zu treffen.
Verächtlich verzog Gaynen den Mund. Er hielt den König für
unfähig, und machte in der Öffentlichkeit auch keinen Hehl daraus.
Allein der Herrscher selbst drückte beide Augen zu. Ob er zu feige
war, Gaynen die Stirn zu bieten? Der Hauptmann wischte den Gedanken weg,
befahl dem Soldaten, die Stellung zu halten und machte sich an den beschwerlichen
Abstieg von der Schildmauer.
Müde und verletzte Soldaten lagerten
auf dem Vorhof der Burg. Sie warteten auf den nächsten Angriff der
Tricheller, einige versorgten noch ihre Wunden der letzten Schlacht. Gaynen
überquerte den Hof, passierte ein paar Häuserreihen und betrat
den steinernen Bergfried. Er schritt an den, mit Bildern behängten,
Ahnengalerien vorbei und öffnete die Tür des Thronsaals. Ein
Banner flatterte leicht, als er die Pforte wieder schloss und aus dem Schatten
trat. Der König stand von seinem Thron auf, als er Gaynen bemerkte.
"Wie sieht es aus, mein Freund?" sagte er
mit seiner sanftmütigen, warmen Stimme. Sein dunkelbraunes Haar war
ungekämmt und er schien kaum geschlafen zu haben.
Er ist wirklich nicht für einen Krieg
geeignet, dachte Gaynen und verbeugte sich vor dem Herrscher. "Nicht
so gut, mein König. Die Schildmauer ist beschädigt und ein Viertel
unserer Streitmacht liegt verwundet auf dem Hof. Außerdem ist Euer
Vetter Hrem in der Nacht gefallen."
Der König wurde eine Spur blasser, als
er ohnehin schon war.
"Des weiteren haben wir den Verlust des Häuptlings
der Skrosken zu beklagen. Seine Truppen sind demoralisiert. Sie spielen
mit dem Gedanken, die Burg verlassen."
Im Gesicht des Herrschers breitete sich eindeutig
Panik aus. "Wann wollen sie gehen?" fragte er mit deutlich zitternder Stimme.
Gaynen zuckte mit den Schultern. "Ohne ihren
Häuptling sind sie unentschlossen, sie werden einen neuen wählen,
der diese Entscheidung treffen wird."
"Wurden schon neue Feinde gesichtet?"
"Nein, im Moment ist noch alles ruhig." Warum
geht er nicht selber nachschauen, dachte der Hauptmann.
In diesem Moment öffnete sich die Tür
erneut und ein Skrosk trat ein. In seiner kräftigen Hand hielt er
einen langen Speer. Er spielte mit seinen Armmuskeln, als er mit, typisch
für einen Skrosk, finsterem Blick vor den König trat. "Ich bin
der neue Häuptling der Skrosken, Mitradh. Wir bleiben und unterstützen
Euch, König Philes."
Der Herrscher atmete erleichtert auf.
"Jedoch", setzte Mitradh hinzu, "pro Verwundeten
oder Toten unserer Krieger möchten wir eine Entschädigungssumme
von 20 Prior. Überlegt es Euch gut, in einer Stunde erwarten wir Eure
Antwort." Der Skrosk nickte leicht mit dem Kopf, ein Zeichen der Anerkennung,
und verließ den Thronsaal.
König Philes wendete sich hilflos an
Gaynen: "Können wir die Skrosken entbehren?"
"Nein, Herr. Ich rate Euch, die Summe bereit
zu halten und einzustimmen." Danach verließ auch Gaynen den Saal
und ließ den König mit seinen Problemen allein.
Ein Soldat kam ihm entgegen gehetzt. "Sie
kommen Herr. Und, sie bauen Triboke auf!" schnaufte er.
Gaynen rannte auf den Hof. "Aufsitzen!" brüllte
er. "Denen zeigen wir’s." Dann schwang er sich auf seinen schwarzen Hengst
Gerlen und donnerte, begleitet von den noch kampffähigen Rittern,
aus dem Tor. "Zerstört um jeden Preis die Triboke, Männer!" rief
er, bevor er mit seiner Lanze einen Tricheller aus dem Sattel hob. Dann
galoppierte er auf einen der Triboke zu, wich einem Fußsoldat aus,
und zerschnitt mit einem Schwerthieb, das Spannseil des Belagerungsgerätes.
Das
wird eine Weile dauern, bis sie das wieder hingekriegt haben, dachte
er und wandte sich dem nächsten Tribok zu. Aber inzwischen waren die
restlichen Ritter der Tricheller auf die Pferde gesprungen und hetzten
den deutlich in der Unterzahl liegenden Verteidigern entgegen. Gaynen prallte
mit einem schwer gepanzerten Reiter zusammen und verfluchte den König,
der seine Residenz unbedingt auf die Scharchaburg, die erste Burg nach
der Grenze zu Trichell, legen musste. Mit seinem leichter gepanzerten Gerlen,
konnte er dem Ritter entkommen und deckte nun den Rücken seines besten
Kämpfers, dem Alten Paule, wie er in der Burg hieß.
"Wie viele noch, Gaynen?" rief er und schlug
einem Reiter das Schwert aus der Hand.
"Einen hab ich zerstört, einer geht auf
Gergelys Kappe, dich hab ich auch an einem gesehen..." Der Hauptmann
ließ den Blick kurz über das Kampffeld streifen. "...da hinten
steht noch einer, los komm!"
Gaynen löste sich von einem anderen Feind
und ließ Gerlen im gestreckten Galopp zu dem letzten Tribok rennen.
Der Alte Paul kam hinterher. Die beiden Ritter zerschnitten die Stricke
und versuchten wieder aus der Soldatentraube, die sie umgab, zu fliehen.
Gaynen brüllte nochmals über das Schlachtfeld: "Rückzug!"
Dann ritt er einen Fußsoldaten nieder und ermöglichte ihm und
dem Alten Paul die Flucht. Die Feinde, die ihnen in die Reichweite der
Burgschützen folgten, wurden mit einem Pfeilhagel begrüßt.
Im sicheren Burghof stieg Gaynen von seinem
mit Schweiß überströmten Pferd. Acht weitere Ritter hatten
sie verloren, doch die Triboke waren zerstört worden. Gaynen stieg
auf die Schildmauer, um einen besseren Überblick auf das Schlachtfeld
zu haben. Doch jetzt kam der zweite Angriff. Mindestens zehn Katapulte
schoben sich langsam aus dem Wald. Der Hauptmann schien beruhigt. Zwar
hatten die Katapulte aus Trichell eine furchtbare Reichweite, aber sie
konnten von der Burg aus in Beschuss genommen werden. Vielleicht könnten
sie den Angriff der Tricheller zurückschlagen und sie wieder hinter
ihre Grenze treiben.
Eine Woche verging, eine furchtbare Woche voller
Blut und Toten. Und das alles nur wegen des Todes des alten Tricheller
Königs, dachte Gaynen. Der alte König wurde auf einer
freundschaftlichen Jagt mit König Philes von unbekannten Banditen
erschossen. Zufällig wurde einer geschnappt, der sich als ein Diener
des Königreiches Scharcha bekannt gab. Nur eine Lüge, um seine
Haut zu retten, hatte Philes gesagt, aber der Sohn, jetzt König Garthed
von Trichell, erklärte ihm den Krieg. Gaynen schüttelte die Erinnerungen
fort und wandte sich wieder der Wirklichkeit zu.
Die Tricheller hatten einen Tribok repariert
und nahmen damit die Burg in Beschuss. König Philes war schon lange
in Sicherheit gebracht, in die stärkste Festung Scharchas, die Trollburg.
Gaynen, seine Männer und freiwillige Mitkämpfer aus der Umgebung
versuchten, die Scharchaburg zu halten, doch es sah schlecht aus. Auf dem
Schlachtfeld konnten sie kaum noch Siege erringen, denn Garthed ritt selbst
in den Kampf. Er war ein furchtbarer Kämpfer, der es mit jedem aufnahm.
Gaynen schauderte bei dem Gedanken an seine
Begegnung mit ihm. Er war gerade noch mit einem gebrochenen Arm davon gekommen.
Nun war er dazu verdammt, in der Burg zu bleiben und die Bogenschützen
und Katapulte zu befehligen. Die Schildmauer war so brüchig, dass
es keiner mehr wagen konnte, von ihr zu schießen. Gaynen, der jetzt
Herr der Scharchaburg war, spielte mit dem Gedanken aufzugeben.
Wir haben eh keine andere Chance, dachte
er, als er am späten Abend auf der Mauer entlang wanderte.
"Haben wir nicht?" fragte eine Frauenstimme.
Gaynen drehte sich um und blickte in das Gesicht
der Herrin von Salion, Lady Charyss, seine Schwester. Ihr blaues Kleid
flatterte leicht im Wind, die blonden, langen Haare fielen über ihre
Schultern.
"Charyss, was machst du hier?" Sein Gesicht
hellte sich auf. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen.
Die Lady lächelte. "Philes schickt mich
- er sagt, du brauchst Hilfe."
"Du willst hier noch etwas ausrichten? Da
hilft alle Magie der Welt nicht", antwortete er, sofort über seinen
offenen Empfang verärgert.
Charyss presste die Lippen aufeinander und
zischte: "Hast du jemals meine Magie zu sehen bekommen? Nein, nie
richtig. Aber wenn du meine Hilfe nicht willst..."
Gaynen blickte sie zweifelnd an. "Und was
kannst du mit deiner Magie ausrichten?"
"Jedenfalls mehr, als du mit deinem Arm."
Sie stieg ohne ein weiteres Wort von der Mauer.
Der Hauptmann schaute ihr hilflos hinterher.
Manchmal bekam er Furcht vor der Direktheit seiner, fast zehn Jahren jüngeren,
Schwester. Er seufzte und begab sich zu seinem Zimmer. Wir werden sehen,
was sie vorhat, war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.
Der Morgen begann wie jeder andere, ruhig
bis nach dem Frühstück und danach der Angriff von Garthed. Gaynen
kletterte, wie jeden Morgen, auf die Mauer und überblickte den Wald,
an dessen Rand das Lager der Gegner war. Heute aber schienen die Feinde
zahlreicher geworden zu sein. Garthed hatte sich Verstärkung geholt.
Wenn Charyss nichts ausrichten kann, dann
werden wir bald geschlagen sein, rief sich der Hauptmann ins Gedächtnis.
"Wenn kein Wunder geschieht, werde ich Garthed
zumindest für eine Weile zurückschlagen können, Bruderherz."
Charyss stand neben ihm an der Mauer.
"Ich kann es nicht leiden, wenn du meine Gedanken
liest." Gaynens Gesicht verdüsterte sich.
Sie antwortete nicht, sondern fragte stattdessen:
"Wann greifen sie an?"
"Jetzt sofort", erwiderte der Hauptmann, im
gleichen Moment schlug ein vom Tribok geschleuderter Felsbrocken im schon
arg ramponierten Burgtor ein. Die Mauer bebte. Gaynen eilte zu seinen Leuten.
Das Tor war fast zerstört. Noch ein paar gezielte Treffer und sie
waren den Feinden hilflos ausgeliefert.
Charyss konzentrierte sich. Im Gedanken griff
sie tief in sich hinein und öffnete die Pforte zu ihrer Zauberkraft.
Der Blick der Soldaten wanderte zur Burgmauer. Sie fühlten die ungeheure
Macht, die die junge Frau ausstrahlte. Gaynen sah den tiefblauen Schimmer,
der Charyss umgab. Plötzlich veränderte sich die Luft. Kaum merklich
wechselte der Wind seine Richtung. Wolken verdeckten die Sonne. Aus Charyss’
Rücken sprossen zwei riesige Flügel, ihre Gestalt veränderte
sich. Atemlos starrte Gaynen sie an. Sie benutzte den Drachenzauber! Er
entschuldigte sich gedanklich bei ihr, dass er sie nicht ernst genommen
hatte.
Auf einmal wurde alles wieder normal. Die
Wolken gaben die Sonne wieder frei, der Wind drehte die Richtung. Auf der
Burgmauer saß ein riesiger, tiefblauer Drache. Er, oder besser sie,
breitete die Flügel aus und flog den entsetzten Feinden entgegen.
Aus ihren Nüstern stieß eine gewaltige blaue Flamme, die den
Tribok in Flammen setzte und ihn explodieren ließ. Pfeile schwirrten
auf die riesige Echse zu, doch sie prallten an ihrem Schuppenpanzer ab.
Ein Soldat stürmte in das Zelt des Königs.
"Herr, kommt mit! Seht Euch das an!"
Garthed trat aus seinem Zelt und schnappte
nach Luft. Unwillkürlich duckte er sich, als Charyss über die
Zelte hinwegschoss.
"Hol Herzog Hrantal!" rief der König
dem Soldaten zu, der sofort losrannte und in einem Zelt verschwand. Ein
paar Sekunden später trat ein Mann mit einem schwarzen Gewand aus
dem Zelt. Er eilte zum König. "Sie dir das an, Bruder!" sagte Garthed.
Soeben hatte Charyss die Runde über das Lager beendet und kam zurück.
Sie stieß eine weitere Flamme aus, die ein Zelt in blauen Flammen
aufgehen ließ. Wie der Tribok explodierte es.
Dann fasste sie den König ins Auge. Hrantal
entdeckte ihr Vorhaben und schuf eine gleißend weiße Schutzwand,
an der ihre Flammen abprallten und zurück auf den Drachen zuschossen.
Die Echse wich geschickt aus und schoss direkt auf die Wand zu. Sie tauchte
einfach hindurch und das weiße Glimmen in der Luft löste sich
auf. Hrantal zog seinen Bruder beiseite und schoss eine weiße Flamme
auf Charyss ab. Sie prallte wie ein Pfeil an ihren Schuppen ab und verschwand.
Charyss spürte nur einen kleinen Stich auf ihrem Rücken. Sie
formte eine Kugel geballter Energie und ließ sie auf Hrantal fallen.
Diese hätte ihn in einem Schlag vernichtet, wenn nicht Garthed selbst
seinen Bruder aus der Bahn geschubst hätte. Stattdessen prallte die
Kugel auf die Erde und hinterließ einen drei Meter breiten Krater.
Charyss tauchte in die Wolkendecke, um sich eine Pause zu gönnen.
Garthed richtete sich wieder auf. "Wirst du
irgendwie mit diesem Monstrum fertig?"
Hrantal schüttelte den Kopf. "Von hier
unten nicht. Den Drachenzauber kann man nur mit einem Spruch bekämpfen,
dem selben."
Garthed nickte seinem Bruder zu, formte in
der Hand einen Ballen seiner Magie und gab ihn Hrantal. Er nahm ihn dankbar
auf und griff, wie Charyss in sich hinein. Seine Zauberkraft, von weißer
Farbe, ballte sich um ihn und ließ Blitze über den Himmel zucken.
Sie verschwanden, und ein schneeweißer Drache stand vor dem König
"Viel Glück!"
Der Drache nickte mit dem Kopf, bevor er in
den Himmel hinauf schoss.
Charyss flog im Pfeiltempo durch die Luft,
bereit, den nächsten Angriff zu starten. Wer war bloß dieser
Magier? fragte sie sich. Ohne Zweifel hatte er genauso viel Zauberkraft,
wie sie. Vielleicht sogar ein wenig mehr.
In einem weiten Bogen drehte sie sich und
flog wieder dem Lager entgegen. Plötzlich tauchte ein weißer
Kopf aus der Wolkendecke auf. Hrantal spie ihr eine schneeweiße Flamme
entgegen. Sie schwor einen Schutzschild herauf und taumelte ein Stück
zurück. Die helle Flamme hatte das Schild fast durchbrochen und einen
Teil ihrer Zauberkraft zerstört. Hrantal ging in den Angriff über
und schoss eine Flamme nach der anderen. Charyss wich aus und tauchte in
die Wolkendecke ein. Hrantal folgte ihr, doch er konnte sie nicht mehr
entdecken. Sie flog durch die nebligen Wolken wieder nach oben und wartete
auf ihn. Als er den Kopf wieder empor streckte, schickte sie ihm einen
blau leuchtenden Blitz entgegen. Er entdeckte ihn zu spät und konnte
seine Schutzwand nicht ganz aufbauen. Der Blitz durchschlug sie und warf
ihn wieder unter die Wolken. Hrantal fing sich wieder und raste erneut
nach oben. Er kam hinter ihr zum Vorschein und griff sie mit weiteren Flammenstößen
an. Charyss drehte sich um und wendete einen Verwirrungszauber an. Sie
erschaffte eine Illusion.
Hrantal blinzelte und überlegte, welcher
der vier Drachen, die auf ihn zuschossen, der echte war. Er spie eine Flamme
auf den einen, der sich in Luft auflöste. In diesem Moment rammte
ihn Charyss. Er wurde durch den Aufprall wieder unter die Wolkendecke gedrückt.
Charyss beging nicht wieder den selben Fehler und flog ihm hinterher.
Gaynen beobachtete den weißen Drachen,
der in diesem Moment aus der Wolkendecke auftauchte. Bis jetzt war der
Kampf für ihn und die anderen Menschen am Boden unsichtbar gewesen.
Kurz danach tauchte Charyss auf. Hrantal spie ihr, noch im Fallen, eine
Doppelflamme entgegen. Sie konnte nicht mehr ausweichen und verlor einen
weiteren Teil ihrer Magie, als sie im letzten Moment eine Schutzwand hervorrief,
die kurz danach wieder zerstört wurde. Sie taumelte und versuchte,
sich wieder zu fangen, aber Hrantal nutzte die Chance und schleuderte ihr
den letzten Rest seiner Magie entgegen. Der blaue Drache schlug brutal
auf dem Vorhof der Scharchaburg auf. Hrantal verschnaufte kurz, bevor er
zurück zum Zeltlager seines Bruders flog.
Eine Stunde später erreichte Gaynen das
Zeltlager der Feinde. Er verlangte vor den König geführt zu werden.
Er stieg von Gerlen, seinem treuen Hengst, und wartete auf Garthed. Als
er kam, nahm Gaynen die weiße Flagge von Gerlens Rücken und
rammte sie vor dem König in den Boden. "Wir ergeben uns." Er zog sein
Schwert und gab es, den Knauf zuerst, dem Herrscher von Trichell.
Garthed lächelte misstrauisch. "Wer versichert
mir, dass das keine Falle ist?"
"Wenn ihr an meinen Worten zweifelt, könnt
ihr mich gerne als Geisel nehmen." Gaynen verzog das Gesicht vor Schmerz,
als er dem König seinen gebrochenen Arm entgegen streckte.
Garthed nahm vorsichtig seine Hand und schüttelte
sie. "Ich vertraue Euch, Hauptmann Gaynen von Salion. Los Männer."
Er stieg auf sein Pferd, das ihm ein Soldat
brachte und wartete, bis seine Männer auch saßen. Hrantal lenkte
sein Pferd neben das seines Bruders. Gaynen starrte ihn an.
Garthed entging der Blick nicht und er sagte:
"Darf ich vorstellen, dies ist mein Bruder, Herzog Hrantal von Trichell."
Hrantal nickte dem Hauptmann zu und zwang
sich zu einem Lächeln. Gaynen erwiderte es, ebenfalls gezwungen. Dann
stieg er auf Gerlen und ritt der Scharchaburg entgegen.
Er lenkte sein Pferd durch eine Lücke
in der ziemlich angeschlagenen Mauer, denn das Burgtor war durch den letzten
Steinwurf des Triboks unpassierbar geworden.
"Ich weiß nicht, ob ihr da so eine tolle
Eroberung gemacht habt...", sagte Gaynen. Der Vorhof war komplett zerstört,
Charyss hatte bei ihrem Sturz mehrere Gebäude eingerissen. Gräber
waren hier errichtet, da man die Toten nicht dem Feind preisgeben wollte.
Das Tor zur Hauptburg war noch intakt. Im Hof stapelten sich die Verletzten
fast. "Das Lazarett ist überbelegt, Eure Hoheit." Gaynen stieg
von seinem Pferd und gab Gerlens Zügel einem Soldaten.
Garthed nickte. "Unsere Ärzte werden
helfen."
In diesem Moment trat ein Heiler aus dem Lazarett
und flüsterte dem Hauptmann etwas zu.
Gaynen wurde blass und wandte sich an Garthed:
"Entschuldigt mich kurz, Eure Majestät."
Dann eilte er in das Lazarett. Nach kurzem
Zögern folgte ihm der tricheller König, sein Bruder ebenfalls.
Das Lazarett war tatsächlich überbelegt.
Helfende hatten zusätzliche Betten aufgestellt, selbst durch diese
Maßnahme war nicht für alle Verletzten Platz. Der Heiler wies
sie an das Ende des Raumes, dort war eine Tür, durch die Gaynen gerade
verschwand.
Der Hauptmann kniete vor einem Bett in der
Zimmerecke. Weitere Betten füllten das Zimmer. Hrantal bemerkte, hier
waren die Schwerverletzten untergebracht. Er wandte sich Gaynen zu. Eine
blasse Frau lag auf dem Bett.
"Wer ist das?" fragte Garthed.
Der Hauptmann flüsterte fast, als er
antwortete: "Lady Charyss von Salion, meine Schwester."
Der Heiler fügte hinzu: "Sie stirbt."
Gaynen wurde noch ein wenig blasser.
Garthed war verwirrt. "Wir haben nie eine
Frau angegriffen, was..."
Er wurde von Gaynen unterbrochen. "Auf dem
Schlachtfeld nicht, ja. Aber weiter oben." Er blickte Hrantal misstrauisch
ins Gesicht. "Ihr wart es doch, oder?" Er sprang auf, beherrschte sich
aber wieder, entschuldigte sich und verließ den Raum.
Hrantal besah sich Charyss. Ihr Atmen war
sehr flach, aber sie lebte noch. Ihr Gesicht war leicht verzerrt und er
überlegte, wie alt sie wohl war: 22, 23?
"Kannst du sie retten?" fragte sein Bruder.
Der Herzog nickte. "Sie stirbt an einem von
mir gesprochenen Zauberspruch." Er öffnete die Hand und kreiste mit
ihr über ihr Gesicht. Dann sprach er leise einige Worte. Die Zauberkraft,
den er für diesen Spruch angewandt hatte, floss zurück in seine
Hand.
In der Scharchaburg sammelten sich die Streitkräfte
des Königs von Trichell. Er bereitete den Angriff auf die nächste
Burg König Philes’, die Krekalfestung, vor. Die besiegten Verteidiger
der Burg waren Gefangene, die Garthed so schnell wie möglich nach
Trichell bringen wollte. Die Verletzten waren, so gut es ging, kuriert.
Charyss und ihr Bruder standen auf der Mauer.
"Das war’s dann wohl."
Sie nickte mit dem Kopf. "Oh Gott, wieso hab
ich nicht gewusst, wer er war. Das hätte die Sache wesentlich einfacher
gemacht."
Er drehte den Kopf. "Einfacher?"
"Natürlich, dann hätte ich gleich
aufgegeben."
Sie lächelte. Er grinste zurück.
"So schlecht hast du dich doch nicht gemacht.
Na gut, jedenfalls bei dem, was ich gesehen hab."
Sie verzog den Mund. "Dass ich den Vorhof
plattgemacht habe, ja, das fand ich auch toll."
Beide lächelten erleichtert. Gaynen ließ
seinen Blick über den Scharchawald schweifen.
"Eigentlich könntest du doch einfach
abhauen, dich wieder verwandeln und weg."
"Ja, und dann? Weißt du, wie schnell
die hinter mir her sind?" Sie nickte mit dem Kopf Richtung Wald, aus dem
gerade Garthed, sein Bruder und eine Schar Soldaten auftauchte. "Außerdem
hat der Herzog mich mit einem Bann belegt, ich kann mit meiner Magie nicht
mal eine Kerze anzünden, ohne, dass er es weiß."
Er blickte sie ungläubig an. "Woher weißt
du das, ich denke, du hast noch nicht mit ihm gesprochen?"
"Ich spüre es. Soll ich’s dir zeigen?"
Sie suchte sich einen handlichen Stein. "Schau hin."
Mittels einer Handbewegung hing der Stein
in der Luft. Gaynen sah auf Hrantal. Dieser hob sofort den Kopf und beobachtete
die beiden kurz, als er erkannte, dass es nichts Ernstes war, wandte er
sie wieder ab.
Der Hauptmann lehnte sich nervös zurück.
"Ich mag ihn nicht, ehrlich gesagt, hab ich Angst vor ihm. Wenn er mich
anschaut, glaube ich, er weiß was ich denke."
Charyss grinste. "Er weiß es ja auch."
Sie machte wieder ein ernstes Gesicht. "So wie es aussieht, werde ich dich
in nächster Zeit wohl nicht wieder sehen."
Er nickte mit dem Kopf. "Ich glaube auch,
viel Glück."
"Dir ebenso."
Einige Sekunden blickten sie sich schweigend
an.
Ich hab sie so lange nicht mehr gesehen,
dachte Gaynen. Und jetzt verliere ich sie wieder. Er nickte ihr
kurz zu, dann verließ er die Burgmauer. Charyss beobachtete ihn,
bis er im Bergfried verschwunden war.
Sie seufzte. Dann wandte sie sich dem Sonnenuntergang
zu. Durch den Bann wusste sie genau, wo der Herzog war. Und er, wo sie
ist. Das Gefühl machte sie nervös. Charyss atmete tief durch
und versuchte, wieder einmal, den Zauberspruch abzuschütteln. Aber
er war einfach zu stark. Oder ich zu schwach, dachte sie verbittert.
Dann stieg auch sie hinab zum Bergfried.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich
Charyss von ihrem Bruder. Er ritt mit der einen Hälfte seiner Leute
und unter der Bewachung der Tricheller nach Trichell.
Charyss stand auf seinem Lieblingsplatz, auf
der Burgmauer. Sie spürte, dass Hrantal auf sie zukam. Er lehnte sich
neben ihr auf die Mauer.
"Wie lange wollt Ihr noch dagegen ankämpfen?"
fragte er offen heraus.
Sie versuchte das Zittern aus ihrer Stimme
zu verbannen. "Solange, bis ich gewonnen habe."
Er seufzte. "Ihr scheint überhaupt nicht
zu wissen, was ich durch diesen Zauberspruch mit Euch anstellen könnte."
Charyss presste die Lippen aufeinander. "Nein."
Ich
möchte es auch gar nicht wissen, dachte sie.
"Das zum Beispiel."
Tief in ihrem Innersten erwachte der Befehl,
sich umzudrehen, und den Herzog anzusehen. Charyss versuchte dagegen anzukämpfen,
doch gegen ihren Willen musste sie den Befehl befolgen. Der Herzog war
fast einen Kopf größer als sie und Charyss musste den Kopf in
den Nacken legen, um in sein sonnengebräuntes Gesicht zu blicken.
Ausdruckslos erwiderte sie Hrantals prüfenden Blick.
Er hat schöne Augen, dachte sie.
In der nächsten Sekunde schallte sie sich dafür. Was rede
ich hier nur, er hat mich fast umgebracht. Und wieder gerettet, sagte
eine Stimme in ihr. Sie war froh, als er ihren Blick endlich losließ.
Charyss drehte sich wieder um und fragte: "Und, was bringt Euch das?"
Er lächelte. "Eine Menge, wenn ich will."
"Wollt ihr?" Wenn ich hier schon festsitze,
bringe ich ihn wenigstens zur Weißglut, dachte sie.
"Im Moment nicht." Er schien ihre Taktik durchschaut
zu haben. Sie beschloss, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
"Wieso konnte ich Eure Mauer nicht durchbrechen?"
"Drachenfeuerabwehr, so ganz hilfreich. Aber
ihr habt ja einen anderen Weg gefunden..." Er verzog das Gesicht. "Wollt
Ihr mich immer noch in die Luft jagen?"
Nein, wieso auch, dachte sie, sagte
aber: "Wenn ich die Mittel dazu hätte."
Er lächelte sauersüß. "Soll
ich sie Euch geben?"
"Liebend gern, aber dann würde ich sie
erst mal zu wichtigeren Sachen benutzen, zum Beispiel von hier verschwinden",
fauchte sie, mit unterdrückter Wut in der Stimme.
"Soweit werde ich es nicht kommen lassen",
antwortete er leise und entfernte sich.
Sie atmete erleichtert auf. Wenn er in der
Nähe war, machte der Herzog sie nervöser, als wenn er weg war.
Mehrere Tage vergingen, ohne, dass Charyss
mit Hrantal sprach. Zum Glück, sagte sie sich.
Garthed wuselte durch die Burg, ohne Ruhe.
Soldaten, Belagerungswaffen und Pferde trafen tagtäglich ein und brachen
wieder auf. Die fast zerstörte Burg glich einem Ameisenhaufen. Der
Herzog unterstützte seinem Bruder. Er scheint überhaupt keinen
Stress zu haben, dachte Charyss. Sie kämpfte fast jede Minute
gegen seine Magie an. Die Burgmauer war zu ihrem Stammplatz geworden, hier
war es ruhig, nur ab und zu patrouillierten einige Soldaten vorbei. An
einem kühlen Morgen brach das Heer auf. Von ihrem Platz an der Mauer
konnte sie die riesige Schar überblicken. Die Krekalfestung wird
es schwer haben. Und ich kann sie nicht mal warnen. Sie seufzte und
wandte sich ab.
Der König redete indessen mit Hrantal.
"Ich hoffe, es gibt nicht noch einen Magier, der so viel Macht hat, dass
er den Drachenzauber ausführen kann."
Der Herzog lächelte. "Ich halte die restlichen
Zauberer von Scharcha für nicht mal halb so stark. Mach dir keine
Sorgen."
Garthed wirkte erleichtert. "Gut, ich hab
keine Lust, noch mal fast gegrillt zu werden."
Hrantal, der seinen älteren Bruder um
fast einen Kopf überragte, nickte und antwortete: "Falls es doch Probleme
gibt, du weißt, wie du mich rufen kannst?"
Der König grinste und sagte: "Viel Spaß
mit der Verwaltung Trichells, ich glaube nicht, dass das Regieren dir sonderlich
liegt..." Dann stieg er auf sein Pferd und galoppierte seinem Heer hinterher.
Herzog Hrantal übertrug die Führung
der Scharchaburg einem der Hauptmänner, die mit dem Heer gekommen
waren. Dann brach er, mit einer größeren Truppe Soldaten und
den restlichen Gefangenen, nach Trichell auf. Da die Herrin von Salion
ihre Versuche, seinen Zauber zu brechen, nicht aufgegeben hatte, war er
gestresst, weil er einen großen Teil seiner Zeit und Zauberkraft
auf das Abwehren ihrer Magie verwenden musste. Charyss quittierte das mit
einer grimmigen Genugtuung. Ihr Pferd Sarah ritt ein Stückchen von
der Spitze entfernt, flankiert von zwei Trichellern. Bis über die
Grenze nach Trichell waren es drei Tagesritte, Hrantal ließ dem Trupp
nur eine größere Pause.
Seine Laune erreichte ihren Tiefpunkt, als
Charyss einen Teil des Spruches zerstören konnte. Als sie in Dalewynn,
einer der stärksten Festungen Trichells, angelangt waren, konnte er
nur noch ausmachen, wo sie sich befand.
"Ich habe Euch unterschätzt", sagte er,
als er nach Sarahs Zügeln griff, um sie einem Soldaten zu geben, der
die Pferde in den Stall führte.
"Das wäre nicht das erste Mal." Sie dachte
an den Drachenkampf und ihre Illusion.
"Noch mal passiert mir das nicht", versicherte
er, bevor er sich von ihr abwandte, um McGavay, den Burgherren, zu begrüßen,
der gerade aus dem Bergfried getreten war.
"War das Unternehmen erfolgreich, Euer Gnaden?"
fragte der etwas stämmigere Herr.
Hrantal nickte. "Die Scharchaburg wurde eingenommen.
Mein Bruder startet bereits den nächsten Angriff."
"Hattet Ihr irgendwelche Probleme?"
Der Herzog verzog den Mund. "Wir haben alle
Triboke verloren und ein Drache hätte den König fast gegrillt."
"Ein Drache? Woher bekommen die Scharchaer
einen Drachen?"
"Magie. Es gab tatsächlich einen Magier
in Scharcha, der den Drachenzauber beherrschte."
"Und?"
"Nichts und. Es hat ganz schön
lange gedauert, bis ich sie vom Himmel bekommen habe."
McGavay schaute ihn zweifelnd an. "Sie,
Euer Gnaden?"
Über Hrantals Gesicht huschte ein flüchtiges
Lächeln. Er deutete auf Charyss. "Lady Charyss von Salion. Und jetzt
entschuldigt mich bitte, könnt Ihr mir sagen, wo ich Chorus von Kimris
finde?"
Der Burgherr beantwortete seine Frage, worauf
Hrantal verschwand. Der Mann brauchte ein paar Sekunden, um seine Gedanken
neu zu ordnen, dann erteilte er seinen Männern den Befehl, die Gefangenen
in der Burg unterzubringen.
Chorus von Kimris befand sich in seinem Turmzimmer,
als der Herzog von Trichell eintrat. Hrantal war einst sein Lehrling gewesen,
heute übertraf die Zauberkraft seines Schülers Chorus' eigene
um das Dreifache. Hrantal begrüßte den alten Mann freudig und
erzählte auch ihm den erfolgreichen Ausgang des Unternehmens.
"Ich glaube, meine Magie reicht nicht aus,
um den Bannspruch zu Lady Charyss zu halten. Deshalb bitte ich um deinen
Rat."
Chorus lächelte. In der Öffentlichkeit
würde Hrantal niemals zugeben, dass eine Magierin, schon gar nicht
eine aus Scharcha, seinen Zauber brechen konnte. "Sie versucht, deinen
Spruch mit ihrer Magie zu brechen. Nimm ihr die Magie."
Der Herzog schmunzelte. "Das ich darauf nicht
selber gekommen bin... Ich danke dir." Er schüttelte nochmals die
Hand des alten Mannes, bevor er das Turmzimmer verließ.
Charyss untersuchte ihre "Zelle", ein kleines
Zimmer im Wohntrakt der Burg. Für ein Gefängnis gar nicht
so schlecht, stellte sie fest und setzte sich auf das weiche Bett.
Auf einem Stuhl befand sich ein frisches Schlafgewand und auf einem Tisch
ein kleines Abendbrot. Nachdem sie gegessen hatte, war die Sonne schon
fast hinter dem Horizont verschwunden, also zog sie sich um und versuchte
ein wenig zu ruhen.
Als, tief in der Nacht, der Herzog von Trichell
eintrat, war sie eingeschlafen. Hrantal trat an das Bett, hob seine Hand
und sprach eine Zauberformel. Er betrachtete kurz ihr entspanntes Gesicht,
dann verschwand er wieder aus dem Zimmer und drehte den Schlüssel
um.
Als Charyss wieder erwachte, fühlte sie
sich erschöpft, trotz des Schlafes. Sie stand auf und musste sich
im ersten Moment an dem Tisch abstützen, damit sie nicht fiel. Sie
zog sich um und griff in sich nach ihrer Zauberkraft, um den Bann,
der nur noch schwach in ihr aufleuchtete, entgültig zu zerstören.
Als sie den Spruch murmelte, zuckt plötzlich ein höllischer Schmerz
durch ihren Kopf. Heftig atmend versuchte sie, ihre Zauberkraft aufzugreifen,
doch ein weißer Schleier umschloss sie und machte sie für Charyss
ungreifbar. Wütend sank sie zurück auf das Bett. Wie konnte
ich auch nur so blöd sein, dachte sie. Ohne ihre schützende
Zauberkraft konnte der Herzog ihre Gedanken lesen. Wie soll ich gar
nichts denken, wenn er mich ansieht. Zusätzlich verlor sie das
Wissen um seinen Aufenthaltsort, ihren einzigen Vorteil aus dem Bann. Sie
atmete einige Male tief durch und begann damit, die weiße Wand zu
attackieren. Bei jedem Versuch durchlief sie eine weitere Schmerzenswelle.
Nach einiger Zeit gab sie auf. Sie fühlte
sich, als ob ihr Kopf gleich explodieren würde. Jemand näherte
sich der Tür und drehte den Schlüssel herum. Charyss setzte sich
schnell auf. Ein Diener trat ein und stellte einen Teller auf den Tisch,
ihr Frühstück. Als er verschwunden war, legte sich Charyss wieder
auf das Bett. Sie hatte keinen Appetit.
Hrantal lief über den Burghof. Er passierte
die Ställe und betrat den Bergfried. Ein Diener kam ihm entgegen.
"Ihr wünscht, Euer Gnaden?" fragte er.
"Den Aufenthaltsort von Sir McGavay, bitte."
"Der Burgherr befindet sich im Augenblick
im Speisesaal, Euer Gnaden."
Hrantal bedankte sich und steuerte auf den
Speisesaal zu.
McGavay saß allein an dem langen, hölzernen
Tisch des Saales. Er beendete gerade sein Frühstück. "Was treibt
Euch so früh hier herum, Euer Gnaden?" fragte er und stand auf.
"Eine Bitte. Würdet ihr auf die Gefangenen
aus Scharcha aufpassen? Ich muss auf Geheiß meines Bruders schleunigst
nach Xanthaka und möchte mich nicht mit ihnen aufhalten."
Der Burgherr nickte. "Aber natürlich.
In Dalewynn ist reichlich Platz. Noch irgend etwas?"
Der Herzog schüttelte den Kopf. "Ach,
doch. Bringt mir bitte Lady Charyss", sagte er.
McGavay zog die Augenbrauen hoch. "Ihr nehmt
sie mit?"
"Was bleibt mir anderes übrig. Ich glaube
nicht, dass Ihr oder Chorus von Kimris mit ihrer Magie fertig werdet. Ehrlich
gesagt, schaffe ich es selbst kaum."
Der Burgherr nickte. "Gut, soll ich Euer Pferd
und die Eurer Begleiter satteln lassen?"
"Ich wäre Euch dankbar. In einer halben
Stunde brechen wir auf."
Hrantal saß auf seinem braunen Hengst
Cortés und beobachtete die Herrin von Salion, die neben ihrer weißen
Stute stand und sich elegant in den Sattel schwang. Charyss wendete Sarah
und lenkte sie neben Cortés.
"Ich nehme an, ich muss gar nichts mehr sagen",
sagte sie matt.
Der Herzog lächelte und sah sie von der
Seite an. Das lange Kleid bedeckte die Kruppe des Pferdes. Ihre ungekämmten,
blonden Haare hingen ihr ins Gesicht, man sah ihr an, dass sie erschöpft
war. Sie dachte: und auch nichts mehr denken. Oder nur noch auf Scharcheldûn.
Er las ihre Gedanken und antwortete: "Ich
kann Scharcheldûn."
Dann eben auf Salionar! Sie strich
sich die Strähnen aus dem Gesicht.
"Ich bezweifle, dass Ihr in einer anderen
Sprache denken könnt."
Salionar ist meine Muttersprache, natürlich
kann ich. Wieso sollte ich in Eurer Sprache denken?
Der Herzog antwortete nicht, sondern gab seinen
Männern den Befehl zum Aufbruch. Er warf Charyss einen misstrauischen
Blick zu.
Keine Sorge, ich bin nicht so dämlich
und haue ohne meine Zauberkraft ab, Euer Gnaden.
Ihre Augen funkelten wütend, als sie
seinen Blick erwiderte. Hrantal ließ Cortés antraben und ritt
aus dem Tor. Charyss und seine Ritter folgten ihm.
Die Straßen von Trichell sind besser,
als das, was Philes je in Scharcha zustande gebracht hat, dachte Charyss.
Sie ritten nun schon seit einigen Stunden Richtung Xanthaka. Der Herzog
schlug ein flottes Tempo an, aber seine Begleiter konnten ihm ohne Mühe
folgen. Charyss ließ Sarah absichtlich ein wenig langsamer laufen.
Nach einer Weile ließ Hrantal Cortés
zurückfallen und bemerkte: "Ich glaube, wir sollten Euch ein schnelleres
Pferd zulegen, Eures scheint ein wenig lahm zu sein."
Charyss sah ihn an. "Meint ihr?" fragte sie
und trieb Sarah ein wenig an. Sofort überholte sie Cortés und
stellte sich an die Spitze der Gruppe.
Nach ein paar Sekunden war der Herzog wieder
neben ihr. "Na ja, ein paar Kraftreserven hat es ja noch."
"Wollt ihr die Pferdezucht von Salion beleidigen,
Euer Gnaden?" fragte sie spitz.
Hrantal verzog verächtlich den Mund.
"Die Scharchaer Pferde haben ihren Reitern in den Schlachten mehr geschadet
als genützt."
"Das waren Scharchaer Pferde,
keine aus Salion."
"Worin liegt der Unterschied?" fragte er spöttisch.
"Salion ist ein Teil Scharchas."
"Erst seit ein paar Jahren. Wusstet ihr das
nicht? Wir haben unsere eigene Kultur, unsere eigene Sprache, sogar unsere
eigene Politik. Und glaubt ihr, Scharcha hat jemals auch nur halb so gute
Zauberer hervorgebracht?" Sie unterbrach kurz, um ihn abschätzend
anzusehen. "Wir haben keine starke Burg, aber mehrere Magier, die den Drachenzauber
ausführen können. Vielleicht solltet ihr euren Bruder warnen,
bevor er die Salioner Grenze überschreitet."
"Und wieso konnte Scharcha Euer Land dann
erobern?" hakte er nach.
"Verrat, politische Intrigen. Die zusätzliche
Bedrohung der Skaffaer." Ihr Gesicht verdüsterte sich. Mein Gott,
wieso erzähle ich Euch das eigentlich, dachte sie.
Aber Hrantal hatte sich abgewandt und beobachtete
eine Gruppe zwielichtiger Gestalten, die auf der Straße herumlungerten.
"Die sehen mir ganz nach Räubern aus. Seit vorsichtig, Männer",
bemerkte er und zog sein Schwert. Die offensichtlichen Räuber waren
nun aufgesprungen und versperrten die Straße. Der Herzog ließ
Cortés anhalten und fragte: "Was wollt ihr?"
Ein großer Kerl, wahrscheinlich der
Anführer, trat vor Hrantal und antwortete: "Geld oder Leben."
Hrantal zog sein Langschwert. "Weder noch."
Der Räuber stieß einen Kampfschrei
aus und warf sich auf den Herzog. Weitere Banditen strömten aus einem
kleinen Wäldchen in der Nähe. Charyss trieb Sarah an und überritt
einen Schwertkämpfer. Sie beugte sich nach unten und nahm seine Waffe.
Dann drehte sie ihr Pferd und schlug einem Räuber, der seinen Morgenstern
auf Hrantal niedergehen lassen wollte, die Waffe aus der Hand. Ein anderer
Ritter war von vier oder fünf Räubern umgeben, sie drehte Sarah
abermals und eilte ihm zu Hilfe.
Verbissen kämpfte Charyss sich aus einem
Haufen Räuber frei, die sie wie Ameisen umgeben hatten. Sie überritt
einen und prallte plötzlich mit dem Herzog zusammen.
"Sind Räuber in Trichell immer so zahlreich?"
rief sie ihm zu und deckte seinen Rücken vor einem der Banditen.
"Nein, nicht immer. Nur im Krieg." Er hielt
mit seinem Schild einen Speer ab, der sie durchbohren wollte. "Seit wann
könnt ihr mit dem Schwert umgehen?"
"Seit ich fünf war. Salion liegt an einer
umstrittenen Stelle. Die Kinder bekommen die Waffen fast mit in die Wiege
gelegt."
Hrantal wehrte einen weiteren Speer ab. Charyss
tötete einen Räuber, der sie mit seiner Pike aus dem Sattel holen
wollte.
"Ihr kämpft gut. Wieso seit ihr nicht
in die Schlacht geritten?"
"Weil ich besseres zu tun hatte, als in Euren
Schutzring zu tappen. Ich bin vielleicht eine Frau, aber nicht dämlich."
Er verzog das Gesicht und tötete den
dritten Speerwerfer, der es auf sie abgesehen hatte. "Das hat keiner behauptet."
Dann stürmte er auf den Anführer
der Banditen zu und durchbohrte ihn mit seinem Schwert. Die restlichen
Räuber gaben auf und flohen.
Hrantal richtete sich auf und fragte: "Alles
in Ordnung?" Seine Ritter nickten. Er warf noch mal einen Blick auf Charyss,
die das Schwert ins Gebüsch schleuderte. "Na, dann weiter."
Mit einem Zauberspruch häufte der Herzog
die toten Räuber auf einen Haufen am Straßenrand. "Wenn sie
wenigstens halbwegs ehrbar sind, kommen sie zurück und begraben ihre
Toten", sagte er und trieb Cortés an.
Xanthaka war größer, als Charyss
es sich vorgestellt hatte. Riesige Türme ragten in die Höhe,
die Stadt war von einem breiten Burggraben umgeben.
"Philes muss verrückt sein, wenn er Trichell
angreifen wollte", bemerkte Charyss, als sie die Zugbrücke überquerten.
In der Stadt wimmelte es von Menschen. Viele
blieben stehen, um die Rückkehrenden zu begrüßen, ein Ritter
stieg ab und umarmte seine Frau. Hrantal entließ die restlichen aus
ihrem Dienst. Dann ritt er mit Charyss die steile Straße zum Palast
hinauf. Eng gedrängte Häuser säumten den breiten, gepflasterten
Weg, auf dem geschäftige Händler Stände aufgebaut hatten.
Das Palasttor wurde von zwei schwer gepanzerten
Soldaten bewacht, die sich ehrfürchtig verbeugten, als der Herzog
das Tor passierte. Ein Soldat nahm ihnen die Pferde ab. Hrantal redete
leise mit einer Frau, die gerade aus dem Palast getreten war. Dann nickte
er ihr zu und verschwand in dem Gebäude.
Die Frau trat auf Charyss zu und nahm ihre
Hand. "Mein Name ist Josiana von Trichell. Mein Bruder bittet mich darum,
mich um Euch zu kümmern."
Charyss lächelte schief und antwortete:
"Richtet ihm meinen Dank aus. Charyss von Salion." Sie schüttelte
Josianas Hand.
Charyss sah von Josianas Buch auf, als sie
das Geräusch des Schlüssel, der sich im Schloss umdrehte, wahrnahm.
Die Prinzessin, die wahrscheinlich fünf oder sechs Jahre älter
als Charyss war, und eine Dienerin, die ein Tablett trug, traten ein. Die
Dienerin stellte das Tablett auf dem Tisch ab und zog sich leise zurück.
"Ich nehme an, Ihr wolltet nicht unbedingt
alleine essen, Lady Charyss?"
Charyss lächelte und nahm an dem Tisch
Platz. Seit zwei Wochen befand sie sich nun im Palast und Josiana kümmerte
sich um sie. Den Herzog hatte sie nicht wieder gesehen, aber ihre Angriffe
auf seinen Zauber hatte sie noch nicht aufgegeben. Es gab Nächte,
die sie mit Kopfschmerzen wachlag. Hin und wieder befiel sie das Heimweh
nach der unwirtlichen Landschaft von Salion und Sorge um ihren Bruder.
Doch die Prinzessin verscheuchte es schnell wieder, indem sie Charyss mit
allerlei Beschäftigungen auf Trab hielt.
"Wenn mir die Frage gestattet ist, Eure Hoheit,
wie sieht es mit dem Krieg aus?" fragte Charyss und trank einen Schluck
Tee.
Josiana sah auf und blickte in das Gesicht
der Frau, die sie mühelos als ihre Schwester anerkennen könnte.
Es war geprägt von Sorgen, von denen Josiana nichts wusste. Die Prinzessin
lächelte.
"Die Krekalfestung ist gefallen, mit ihr auch
Dylysûn, König Garthed belagert Eure Hauptstadt Swevelta."
Charyss stellte die Teetasse ab und ihr Gesicht
verdüsterte sich. "Swevelta ist nicht meine Hauptstadt." Josiana bemerkte
den leisen Klang der Hoffnungslosigkeit, der in ihren Worten widerhallte,
als sie fortfuhr: "Und auch Xanthaka wird es nie sein."
Die Prinzessin sah die Gefangene an und schätzte
ihr Alter. Sie muss gerade mal zwölf Jahre alt gewesen sein, als
die Scharchaer ihre Heimat eroberten, dachte sie.
Damals war der ganze Osten über die Eroberung,
des halb von Trichell und Vergalla abhängigen, kleinen Staates erschrocken
gewesen, da die meisten schon selbst die Einnahme des metall- und silberreichen
Salions geplant hatten. Aber die Scharchaer hatten vorgesorgt und die Grenzen
gesichert. Seit zehn Jahren hat es keiner mehr gewagt, Salion für
sich zu beanspruchen. Nun streckten Trichell und Skaffa ihre Hände
gleichzeitig nach dem kleinen Land aus und Josiana verstand die Sorge,
die die junge Frau ihr gegenüber wegen ihrer Heimat hatte.
Charyss lehnte sich zurück und beobachtete
die Prinzessin, die den Raum durchquerte und das Zimmer verließ.
Die Herrin von Salion hatte sie gebeten ihren Bruder um die Erlaubnis zu
einem Ausritt zu fragen. Als sich der Schlüssel im Schloss umdrehte,
seufzte Charyss und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Sarah galoppierte über die weiten Weiden
vor Xanthaka, hinter ihr folgte ihr die ebenfalls schneeweiße Stute
Zrabrielle, Josianas Pferd. Charyss ließ Sarah anhalten und wartete,
bis Zrabrielle wieder mit ihrem Pferd auf gleicher Höhe war.
Josiana verschnaufte kurz und bemerkte: "Wenn
mein Bruder in Salion angelangt ist, werde ich ihn bitten, mir ein Pferd
mitzubringen." Im selben Moment bereute sie ihren egoistischen Kommentar
gegenüber Charyss. Doch die Lady winkte abfällig ab.
"Glaubt ja nicht, dass meine Stute etwas besonderes
ist, echt nicht. Die besten Pferde beansprucht Philes für sich und
seine Ritter."
Ein verächtlicher Zug um ihren Mund brachte
Josiane auf einen Gedanken. Vielleicht ist sie ja sogar froh über
Philes Vertreibung? Sie trieb Zrabrielle an und versuchte Sarah zu
folgen, die jetzt weiter über die Wiesen galoppierte.
Charyss war tief in Gedanken versunken, als
sie auf dem Heimweg nach Xanthaka waren. Ohne recht Notiz von ihm zu nehmen,
starrte sie auf einen alten Baum, der am Wegesrand stand. Zu spät
bemerkte sie den Bogenschützen, der einen Pfeil auf Josiane abschoss.
Die Prinzessin griff sich an die durchbohrte Schulter, bevor sie von Zrabrielle
fiel. Eine Gruppe Banditen rannte ihnen entgegen. Sie wollte dem Schützen
einen Zauberspruch entgegenschleudern, doch der höllische Schmerz,
der ihren Kopf durchzuckte, rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie
duckte sich blitzschnell vor einem Pfeil und entwendete einem Banditen
sein Schwert, indem sie ihn, wie vor einigen Wochen, überritt. Dann
versuchte sie verbissen, die verletzte Prinzessin vor den Räubern
zu verteidigen. Der Bogenschütze hatte seine Pfeile verschossen und
griff nun zu einer Axt, dann gesellte er sich zu den anderen Kämpfern,
die Charyss attackierten.
Als sie sich einen halbwegs freien Raum verschafft
hatte, versuchte sie, entschlossener denn je, den Zauberwall des Herzogs
zu zerstören. Aber, wie immer, wurde jeder Versuch mit einem höllischen
Schmerz in ihrem Kopf bestraft. Nach einer Viertelstunde gab sie auf und
wandte sich stattdessen wieder mehr den Banditen zu. Einer vergrub seine
Waffe in ihrem ungebrauchten Arm. Er schmerzte und Blut rann ihr Gewand
herunter.
Verdammt, schrie sie der inneren Wand
zu, die sie von ihrer und Josianas einziger Rettungsmöglichkeit trennte.
Wenn
Ihr nicht bald etwas unternehmt, stirbt Eure Schwester! Leise fügte
sie für sich hinzu: Und ich auch.
Dieser Moment Unachtsamkeit kostete sie das
Schwert. Charyss versuchte, mit Sarah die Banditen abzuhalten, doch die
Stute wurde von einem Schwert durchbohrt. Charyss sprang ab und griff nach
dem Schwert eines toten Räubers.
Wenigsten nehme ich ein paar von diesen
Kerlen mit, schoss ihr durch den Kopf, als sie in Angriffshaltung überging
und den nächsten Banditen erwartete.
Plötzlich stand ein anderer Schwertkämpfer
neben ihr. Sie erkannte das Wappen von Trichell an seinem Brustpanzer.
Weitere Ritter tauchten auf und drängten die Räuber von der verletzten
Prinzessin ab. Charyss entdeckte den Herzog, der sich durch die Menge kämpfte,
um zu seiner Schwester zu gelangen. Er sprang von Cortés und kniete
neben Josiana nieder. Die Prinzessin hatte viel Blut verloren und atmete
sehr flach. Der Herzog sprach einen Heilzauber, entfernte den Pfeil und
riss sich ein Stück seines Umhangs ab, um ihre Schulter zu verbinden.
Josiana schlug die Augen auf und lächelte schwach. Charyss wendete
sich wieder einem Räuber zu, der mit erhobenem Schwert auf sie zu
rannte. Ihre Klingen kreuzten sich, Charyss vernahm das irre Funkeln in
seinen Augen, bevor sich der Bandit wieder von ihrem Schwert löste.
Sie griff ihn an und suchte nach einer Blöße in seiner Deckung.
Im entscheidenden Moment schlug sie im das Schwert aus der Hand.
"Ihr hättet ihn töten können",
sagte der Herzog, der jetzt neben ihr stand.
"Ich töte nicht gerne." Sie wehrte einen
Axthieb ab und taumelte ein Stück zurück. Der Axtkämpfer
wollte zum entscheidenden Schlag auf sie ausholen, doch der Herzog war
schneller. Es krachte grausam und der Axtstiel brach, als sein Langschwert
auf den Räuber niederging. Der Bandit ließ die Axt fallen und
floh.
"Verfluchte Räuberbanden. Danke", sagte
Charyss. Das Blut floss in einem warmen Strom ihren Arm herunter. Sie nahm
noch wahr, dass der Herzog nach ihr griff und sie vor dem Fallen bewahrte,
dann wurde sie ohnmächtig.
Charyss erwachte in einem hellen Raum in Xanthaka.
Sie richtete sich auf und bemerkte die Prinzessin, die in einem Bett neben
ihr schlief. Die Herrin von Salion betrachtete ihren verletzten Arm. Er
war verbunden worden. Gerade wuselte eine Heilerin in das Zimmer.
"Ihr seid wach?" fragte sie und ging zu Charyss.
Sie verband ihren Arm neu und wandte sich dann der Prinzessin zu, die sich
beim Eintreten der alten Frau ebenfalls aufgesetzt hatte. Ihre Schulter
wurde ebenfalls neu verbunden, dann verschwand die Heilerin wieder. Charyss
lächelte der Prinzessin zu. Josiana erwiderte ihren Blick und lächelte
ebenso.
"Oh Gott, ich hasse es, hilflos im Bett zu
liegen", sagte sie und stand auf. Charyss trat an das weite Fenster. Der
Burggarten erstreckte sich vor dem Gebäude. Es war schon spät
und die Sonne ging unter. Charyss nickte der Prinzessin fragend zu und
verschwand in dem Garten.
Sie lehnte sich an eine große Eiche
und versuchte ihre Gedanken neu zu ordnen.
Plötzlich stand Hrantal neben ihr.
"Danke. Für die Rettung meiner Schwester."
"Was hätte ich sonst tun sollen?"
Seine Stimme wurde leise, als er antwortete:
"Ihr hättet wegreiten und sie da liegen lassen können."
"Was hätte das gebracht?" Ohne, dass
sie es wollte, hatte ihre Stimme einen trotzigen Ton angenommen. Charyss
blickte ihn entschuldigend an und wollte fortfahren, doch sein intensiver
Blick ließ sie stocken. Unsicher wandte sie sich ab und verschwand
mit einem "Entschuldigt mich" im Schloss.
Garthed blickte besorgt nach Süden. Er
erkannte die Michindor-Festung, die nördlichste der drei Burgen, welche
die Grenze von Salion verteidigten. Im Volksmund nannte man sie die "Celtam-Festungen".
Garthed verzog den Mund. Dieser Feigling Philes hatte sich hinter die Grenze
zurückgezogen, nachdem Trichell’s Armee seine Trollburg fast erdrückt
hatte. Nur noch ein Teil von Slamung und das kleine Salion befand sich
in Scharchaer Gewalt. Der Herzog trat neben seinen Bruder.
"Wann willst du angreifen?"
"Morgen wieder. Diese Drachen machen einem
ganz schön zu schaffen." Er deutete auf die Festung. Ein großer
roter Drache umkreiste, in weiten Schwüngen, den höchsten Turm
der Burg.
"Glaubst du, dass du es mit vieren von diesen
Bestien aufnehmen kannst?"
"Unter gewissen Umständen schon. Das
heißt, wenn sie wirklich so schwach sind, wie sie sich geben." Er
dachte an den heutigen Angriff.
Garthed schnappte nach Luft. "Schwach? Ich
möchte echt mal die Vorstellung eines Zauberers von stark wissen."
Der Herzog grinste. "Ich denke, ich kann mich
ohne Angeberei für stark halten. Die Herrin von Salion ebenso.
Glaub mir, wenn wir sie nicht gefangengenommen hätten, wäre die
Eroberung Scharchas wesentlich schwieriger ausgefallen." Er verzog das
Gesicht. Obwohl Xanthaka ganze Wochenritte entfernt war, griff sie seinen
Zauber immer wieder an. Nicht auszudenken, wenn sie es tatsächlich
schafft.
Der Morgen brach an. Der rote Drache hatte
sich mit einem pechschwarzen abgewechselt.
"Bald geht es wieder los, pass bloß
auf. Wenn wir diese Viecher nicht bald von Himmel holen, können wir
die eigentlichen Feinde nie angreifen" Garthed nickte seinem Bruder zu,
der erst jetzt den Blick von der feindlichen Festung löste.
Eine Reihe mit Drachenpfeilen ausgestatteter
Bogenschützen nahmen bereits Aufstellung. Hrantal wendete den Blick
wieder zur Burg. Vier Drachen, ein roter, ein schwarzer, ein dunkelgrüner
und ein gelber segelten langsam auf das Heerlager zu.
"Anlegen!" brüllte der Befehlshaber der
Bogenschützen. Die Drachen hatten in eine beängstigend schnelle
Geschwindigkeit gewechselt, um ein schlechtes Ziel bieten. Ein grellroter
Blitz schoss auf das Lager und verfehlte einen Soldaten um Haaresbreite.
Der rote Drache schoss über das Lager hinweg, um einen zweiten Angriff
zu starten. Die pechschwarze Echse brüllte auf, als ein Drachenpfeil
sich durch ihren Schuppenpanzer bohrte. Die restlichen Echsen hielten eine
Gruppe Bogenschützen in Schach. Hrantal nickte seinem Bruder zu.
Der rote Drache ist der stärkste,
dachte er und griff in sich hinein, um den Drachenzauber zu sprechen. Kurz
darauf schwang er sich in die Lüfte. Er versetzte dem hilflos durch
de Luft trudelndem, schwarzen Feind den Rest und wandte sich dem roten
zu, der wie ein Pfeil auf ihn zuschoss. Hrantal schickte ihm eine weiß
glänzende Stichflamme entgegen und tauchte ab, um ihn von hinten anzugreifen.
Hrantal tauchte in die Wolken hinauf. Er erkannte
den Roten Drachen kurz vor sich, folgte ihm und bewarf ihn mit weiteren
Feuerstößen. Plötzlich spürte er einen schmerzenden
Stich in seinem Rücken. Er wendete kurz den Kopf und sah die zwei
anderen Echsen, die ihn nun aufs Korn nahmen. Als er den Blick wieder nach
vorn schweifen ließ, war der rote Drache verschwunden. Kurz zögerte
er. Aber als Hrantal eine weiter Flamme vernahm, die von oben kam, wusste
er, wo sich der Salioner versteckt hatte. Die drei Feinde hatten ihn umzingelt.
Der Rote formte eine Kugel geballter Energie, während die restlichen
ihm den Fluchweg versperrten – er saß in der Falle.
Kurz bevor der Rote seine Energiekugel fallen
ließ, schwor Hrantal seinen stärksten Zauber herauf. Weißer
Nebel schoss aus seinem Maul auf die Drachen zu. Rote, gelbe und grüne
Magie verließ ihre Besitzer und vereinte sich mit seiner eigenen
Zauberkraft. Verwirrt taumelten die Feinde zurück und ergriffen die
Flucht. Hrantal schnappte erschrocken nach Luft. Für einen winzigen
Moment war seine Zauberkraft verschwindend gering gewesen. Aber dieser
kleine Moment ließ den Zauberspruch zu Charyss förmlich platzen.
Der Herzog hatte sich, um drei schwache Feinde in die Flucht zu schlagen,
einen doppelt, wenn nicht dreifach so starken Feind geschaffen.
Charyss erwachte. Die Vögel zwitscherten
aus dem Garten und leise Geräusche aus der Stadt waren zu hören.
Alles war wie am ersten Morgen, den sie in Xanthaka verbracht hatte. Dennoch
war etwas anders. Als sie sich aufrichtete, war sie verwundert, dass sich
keine Kopfschmerzen einstellten. Erstaunt griff sie nach ihrer Zauberkraft
und entdeckte, dass der weiße Schutzwall verschwunden war. Rasch
zog Charyss sich an und trat auf den steinernen Balkon, der sich an ihr
Zimmer anschloss. Plötzlich vernahm sie das klirrende Geräusch
des Schlüssels, der sich im Schloss umdrehte. Josiana trat ein. Erschrocken
wandte sich ihr Blick auf Charyss, die sich noch einmal umgedreht hatte.
"Es tut mir leid", sagte die Lady, bevor sie
sich in einen tiefblauen Schwan verwandelte, die weiten Schwingen ausstreckte
und nach Süden segelte.
"Verdammt!" Hrantal schlug mit der flachen
Hand auf den Tisch. "Wie konnte ich nur so dämlich sein?"
Garthed klopfte seinem jüngeren Bruder
auf die Schulter. "Zumindest haben wir einen Drachen aus dem Weg geräumt
und drei andere für ein paar Tage außer Gefecht gesetzt. Wann
wird sie hier sein können?"
Hrantal richtete sich wieder auf. "Wenn sie
will, schon in einem Tag."
Der König runzelte die Stirn.
"Sie ist Magierin. Glaubst du, dass ich einen
langsameren Weg benutzt habe, als du nach mir geschickt hast?"
Garthed schüttelte den Kopf. "Nein, ich
meine, wissen wir genau, dass sie wirklich hierher kommen will?"
Hrantal schnaubte. "Es ist ihr Land, das wir
angreifen."
Garthed hob beschwichtigend die Hände.
"Gut, hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Wir müssen abwarten."
Der König verließ das Zelt. Die
Soldaten blickten kurz von ihren Beschäftigungen auf und verbeugten
sich vor ihm. Garthed nickte und vertiefte sich in ein Gespräch mit
seinem Hauptmann, der sich um einige Katapulte kümmerte. Der Herzog
beobachtete seinen Bruder aus dem Zelteingang heraus.
Wenn er sich bloß beeilt, dachte
er. Falls wir jetzt nicht angreifen, dauert dieser Krieg noch Jahre.
Aber sein Bruder hatte den selben Gedanken
gehegt und lief, Befehle brüllend, durch das Lager. "Triboke verlagern!
Wir bauen sie auf der Ebene auf!" Garthed stieg auf sein Pferd. Seine Ritter
und vier Karren, gezogen von schweren Zugpferden, folgten ihm den Hügel
hinab, auf die weite Ebene vor der Burg. Die Karren wurden abgeladen und
der Aufbau der Triboke begann.
Eine halbe Stunde später begann der Beschuss
der Michindor-Festung. Die schweren Felsbrocken trafen, geleitet von den
Zaubersprüchen eines Magiers, ihr Ziel, das Burgtor. Schon entdeckte
der Späher eine große Truppe Reiter, die sich aus dem Schatten
der Burgmauer löste und den Trichellern entgegengaloppierte. Hrantal,
der Cortés neben seinen Bruder gelenkt hatte, zog sein Schwert.
"Die haben irgendwie immer die selben Taktiken,
oder täusche ich mich da."
"Nicht ganz. In der Schlacht um die Trollburg
haben sie mit Triboken zurückgeschossen." Garthed zog ebenfalls sein
Schwert. "Bogenschützen... Feuer!"
Pfeile hagelten auf die Verteidiger nieder.
Dann stürmten die Ritter los. Hrantal prallte mit einem jungen Reiter
zusammen, etwa in seinem Alter, der ihm mit erhobenen Schwert entgegengaloppierte.
"Endlich treffe ich den Mörder meiner
Schwester!"
Hrantal stutzte kurz, dann löste er sein
Schwert von der Waffe seines Gegners. "Wie viele Brüder hat diese
Frau bloß?" stöhnte er und holte zum erneuten Angriff aus. "Im
übrigen, Eure Schwester lebt."
Der Ritter schnaufte und riss sein Schwert
nach oben. Der Herzog parierte den Hieb mit seinem Schild.
Charyss’ Bruder fügte spöttisch
hinzu: "Wieso solltet Ihr sie nicht töten. Sie ist vielleicht der
einzige Mensch, der Eure Zauberkraft brechen kann. War doch eine gute Gelegenheit,
sie aus dem Weg zu räumen."
"Ich habe meine Gründe", sagte Hrantal,
schlug mit seinem Schwert zu und entwaffnete den Salioner. "Ergebt Ihr
Euch?"
Der Salioner warf ihm einen vernichtenden
Blick zu. "Was bleibt mir anderes übrig."
Hrantal ließ den Blick über das
Kampffeld schweifen. Ein Tribok war zerstört, aber alle Angreifer
wurden getötet oder hatten sich ergeben.
Er wandte sich wieder seinem Gefangenen zu.
"Mit wem habe ich überhaupt die Ehre?"
"Maximilian von Salion." Maximilians mürrisches
Gesicht verfinsterte sich noch mehr.
Die Triboke begannen erneut die Festung unter
Beschuss zu nehmen. Aber jetzt erst begann die richtige Verteidigung. Tausende,
so schien es, Soldaten strömten aus dem Tor. Bogenschützen beschossen
die Tricheller, schwer gepanzerte Ritter schützten sie vor den Angreifern.
Hrantal deckte den Rücken seines Bruders, wurde aber bald von ihm
getrennt.
Garthed entwaffnete einen Kämpfer und
riss den Schild hoch. Nach einer Weile hatte er jegliche Orientierung verloren.
Sein Bruder kämpfte sich inzwischen durch die Feinde, um zu einem
Moment Ruhe zu gelangen. Er lenkte Cortés auf einen Hügel und
beobachtete das Kampffeld.
Es war schrecklich. Er konnte kaum noch zwischen
den eigenen Männern und den Feinden unterscheiden, so dicht gedrängt
und schnell bewegten sich die Kämpfer. Die ein wenig zahlreicheren
Salioner und Scharchaer verteidigten ihre Freiheit wie Löwen.
Diese Menschen kämpfen, weil sie von
der Unschuld ihres Königs überzeugt sind, dachte der Herzog.
Aber er wusste es besser. Er hatte den Schurken mit einem Zauber gezwungen,
die Wahrheit zu sagen. Und diese war erschreckend glaubhaft und detailreich
gewesen.
Einige Tropfen vielen herab. Hrantal drehte
den Kopf nach oben und beobachtete den dunkler werdenden Himmel. Und er
erschrak. Ein kleiner blauer Fleck schoss in Pfeilgeschwindigkeit über
den Himmel.
Der Herzog und der König traten aus dem
Zelt. Ein Späher deutete auf die Burg. Ein einzelner Reiter hatte
sich aus dem Schatten gelöst und ritt auf das Lager zu. Er trug die
blauweiß-gestreifte Botschafterflagge. Das mächtige pechschwarze
Pferd, auf dem er ritt, hielt den Kopf weit erhoben, als es über die
Ebene trabte. Garthed war an den Lagerrand getreten, um dem Botschafter
zu zeigen, dass er ihn nicht bedrohen wollte. Frelltan von Dalewynn, der
Pfeil- und Tribokzauberer sowie Drachenmagier, war ihm gefolgt. Hrantal
trat nun ebenfalls neben seinen Bruder. Der Reiter war nun näher gekommen
und die drei Männer konnten seine schlanke Gestalt erkennen, die ein
wenig zu klein für die Handhabung eines so riesigen Streitrosses zu
sein schien. Blonde Strähnen fielen über sein Gesicht.
Es war Charyss.
Sie lenkte ihr Pferd Morshôn, was dem
Salionarischen Wort Todespferd entsprach, vor den König und
seine zwei Begleiter.
"Ich bringe eine Nachricht von König
Philes."
"Was will er sagen, dass er sich nicht selber
hierher traut?" konterte Garthed verächtlich.
Ohne seinen anklagenden Kommentar zu beachten
fuhr Charyss fort. "Er sagt, er will dem Tricheller König seine Verachtung
kundtun, der wegen der Aussage eines ehrlosen Mörders sein Nachbarland
überfiel. Er ist weder bereit zu verhandeln, noch sich zu ergeben."
Der Herzog bemerkte die minimal andere Betonung,
die sie auf das Wörtchen er legte.
"Außerdem schlägt Philes einen
Gefangenenaustausch vor", sagte sie. "Lord Kyrukh zu Woval und Sir Ledûn
gegen Maximilian von Salion und Lord Shayal. Überlegt es Euch."
Garthed nickte mit dem Kopf. "Sagt ihm, dass
wir ihm in einer Stunde eine Antwort schicken." Sie wollte Morshôn
schon wenden, als Frelltan von Dalewynn der Kragen platzte.
"Und sagt ihm, dass er das nächste Mal
eine ernstzunehmende Person schicken soll, und nicht ein unmündiges
Weib."
Mit einem Blick, der Frelltan einen Schritt
zurückweichen ließ, drehte sie sich im Sattel um und fauchte:
"Es ist mein Land, das ihr erobern wollt, meine Festungen, die ihr zerstört
und mein Volk, das ihr bekämpft. Erzählt mir nichts von Verantwortung
oder Macht." Ohne Frelltan eines weiteren Blickes zu würdigen, nickte
sie Garthed kalt zu und sagte: "Ich hatte gehofft, dass ihr intelligentere
Magier beschäftigen würdet, die ihresgleichen ein wenig mehr
Achtung zollen." Endgültig wendete sie sich ab und trabte zurück
zur Burg.
Eisig wendete sich Hrantal an den Zauberer
aus Dalewynn: "Das war gerade der größte Fehler Eures Lebens.
Glaubt ja nicht, dass sie Euch in der nächsten Schlacht verschonen
wird"
Die nächste Schlacht sollte kommen. Der
Gefangenenaustausch war erfolgreich und Charyss begrüßte ihren
um vier Jahre älteren Bruder auf das Herzlichste. Philes rief zu einer
Versammlung, an der Charyss als Herrin Salions und als Magierin teilnahm.
Die Besprechung dauerte bis tief in die Nacht. Das Ergebnis war eindeutig.
Morgen sollte eine entscheidende Schlacht um die Grenze Salions ausgefochten
werden.
Der Morgen war kühl und trocken. Verstärkung
aus den anderen zwei Celtam-Festungen war eingetroffen. Charyss beobachtete
das kriegerische Treiben von der Burgmauer aus. Lord Shayal, der Rote Drache,
stand neben ihr. Er war der einzige, der sich von Hrantals Zauber schnell
genug erholen konnte. Sie dachte an den Herzog. Jedes Mal, wenn ihr der
erste Kampf mit ihm in den Sinn kam, überkam sie ein zweifelndes Gefühl.
Sie schüttelte die Gedanken fort und hörte Max zu, der von Philes
zum Hauptmann ernannt worden war. Ihr Bruder sprang auf sein Pferd und
rief:
"Aufsitzen, los!" Er steuerte sein Ross aus
der Burg und wartete auf sein Heer, das ihm folgte. Hunderte oder mehr
berittene Kämpfer reihten sich auf, vierzig schwer gepanzerte Ritter
folgten. Dahinter kamen tausende Fußsoldaten.
Charyss blickte nach Norden. Ritter tauchten
auf dem Hügel auf. Sie wusste, dass die Feinde ebenso zahlreich waren,
wie die eigene Streitmacht. Sie glaubte, König Garthed an der Spitze
seiner Männer zu erkennen. Doch ihr Blick schweifte nach oben und
erkannte zwei Drachen.
"Wollen wir?" Lord Shayal war ihrem Blick
gefolgt.
Sie nickte und verwandelte sich in den Blauen
Drachen. Dann breitete sie die gewaltigen Schwingen aus und erhob sie majestätisch
in die Lüfte.
Lord Shayal folgte ihr. Sie beobachtete, wie
Max das Schwert hob und mit einem Ruck gegen die Feinde schwenkte. Dann
setzte sich das gewaltige Heer in Bewegung.
Charyss schoss dem Lager entgegen. Sie spie
eine riesige Flamme auf die Feinde nieder, bevor sie nach oben zog und
nach dem Weißen Drachen Ausschau hielt. Lord Shayal hatte sich mit
Frelltan angelegt. Rote und graue Feuerstöße schossen durch
die Luft. Sie verfolgte die Auseinandersetzung eine Weile und entdeckte
dann den Herzog, der weiter oben flog und Blitze auf das Scharchaer Heer
niedergehen ließ. Sie flog unter ihm vorbei und erschaffte ein Schutzschild,
das seinen Blitz zurückwarf und ihn knapp verfehlte. Dann schwang
sie sich wieder nach oben.
Einige Sekunden hingen die beiden Drachen
reglos in der Höhe, nur das scharfe Zischen der Luft, wenn sie von
den riesigen Flügeln geteilt wurde, und der Kampflärm von unten
unterbrach die Stille, welche sie umgab.
Dann begann der Kampf. Hrantal spuckte eine
gewaltige Flamme auf Charyss, die blitzschnell abtauchte und ihn von hinten
mit Stromschlägen attackierte. Der Herzog erschuf einen Schutzschild
und verschwand in den Wolken. Charyss folgte ihm. Er erwartete sie und
warf ihr einen Kometenblitz entgegen, der sie knapp verfehlt, dann aber
die Richtung änderte und erneut auf sie zuraste. Sie wich dem Blitz
ein weiteres Mal aus und zerstörte ihn schließlich mit einem
eigenen. Dann stand sie dem Herzog ein weiteres Mal gegenüber. Seine
Stimme hörte sich blechern und fremd an, als er sagte: "Das Niveau
des letzten Kampfes war weitaus niedriger."
"Vielleicht. Aber ich hoffe, dies wird der
letzte Kampf sein." Sie stieg blitzschnell nach oben, als er ihr einen
Feuerstoß entgegenschickte.
Der Kampf dauerte lange. Immer wieder griffen
sie sich an und immer wieder wichen sie den feindlichen Angriffen aus.
Charyss tauchte nach unten. Sie waren weit von der Burg und dem eigentlichen
Kampf abgekommen. Sie drehte und schickte dem Herzog, der ihr gefolgt war,
einen Feuerstoß entgegen. Er erschuf eine Schutzwand und schoss ihr
wieder entgegen. Hrantal benutzte eine Illusion, auf die sie mit dem gleichen
Spruch antwortete. Für eine kurze Zeit schossen acht Drachen aneinander
vorbei. Plötzlich prallte sie gegen ihn. Er war genauso überrascht
und einige Sekunden trudelten beide durch die Luft.
Er fing sich eher.
Oh nein, nicht schon wieder, dachte
sie und schickte ihm eine Flamme entgegen. Die beiden Feuerstöße
trafen sich in der Mitte und verrauchten. Charyss landete unsanft auf dem
Boden. Sie stieß sich erneut ab und schoss durch die Luft, der Michindor-Festung
entgegen.
Der Kampf wütete in seiner Hauptphase.
Charyss zog in weiter Schleife über die Ebene und entdeckte Lord Shayal,
der Frelltan besiegt hatte und nun zu ihr flog.
"Und, wie steht’s?" fragte er.
"Wie vorher. Kein Erfolg, wir verbrauchen
nur unsere Magie." Sie ließ sich nach unten sinken und wich einem
weißen Strahl aus. Hrantal war ihr gefolgt und der Kampf entbrannte
erneut. Lord Shayal schwor einen Schutzschild herauf, um einen Blitz, der
auf ihn zuschoss, abzuwehren. Dann tauchte der Herzog wieder in die Wolken,
um Charyss zu folgen.
Das wird noch ewig so weiter gehen,
dachte sie. Bis einer von uns keine Zauberkraft mehr hat.
Sie wartete auf den Herzog, der kurz nach
ihr die Wolkendecke durchbrach und ihr entgegenflog. Er bremste kurz vor
ihr ab und ein drittes Mal hingen sie reglos in der Luft.
Er lächelte.
Charyss runzelte die Stirn. "Ich habe noch
nie einen Feind lächeln sehen, wenn er sich nicht siegesgewiss
war."
"Ich bin mir nicht siegesgewiss. Fragt mich
mal in ein paar Stunden wieder."
Sie griff wieder an und der Kampf setzte sich
fort.
"Ich kann hier nicht weg, Euer Gnaden." Charyss
funkelte Philes wütend an.
"Ohne mich wäre die Burg schon lange
gefallen! Oder glaubt ihr, dass Lord Shayal mit einem weitaus mächtigeren
Magier fertig wird?"
Philes nickte und sagte spitz: "Ich schätze
diesen Mann sehr. Er wird das hinkriegen."
Charyss schüttelte den Kopf. "Dann schickt
ihn doch nach Tintokal, ich glaube nämlich nicht, dass er nur
einen Kampf durchhält, geschweige denn überhaupt zum kämpfen
kommt."
Wütend richtete sich Philes auf. "Das
ist immer noch meine Entscheidung. Ihr seid die Herrin von Salion, aber
nicht
der König. Ihr werdet die Tintokaler unterstützen und Lord Shayal
wird mit dem Herzog abrechnen."
"Wie Ihr wünscht, Hoheit." Ihre Augen
funkelten. Dann wandte sie sich ab.
Philes blickte ihr hinterher, bis sie durch
die Tür verschwand.
Sie ist gefährlicher, als ich annahm.
Gut, dass die Skaffaer sie bald aus dem Weg räumen,
dachte er.
Hrantal beobachtete den Himmel. Er stieg in
die Höhe und ließ ab und zu ein paar Blitze auf das feindliche
Heer herunterzucken. Dann entdeckte er den Roten Drachen, der ihm entgegenschoss
und kurz vor dem Herzog in der Luft hängen blieb.
"Na nu, heute mal alleine?" fragte Hrantal
und grinste belustigt.
Shayals Augen blitzten feindselig auf. "Die
Lady wird an der Südgrenze gebraucht, wir müssen uns zusätzlich
noch um die Skaffaer kümmern."
"Ein bedeutender Fehler von Philes, wenn Ihr
mich fragt", sagte Hrantal kalt und schleuderte dem Lord einen Feuerball
entgegen. Er drang mühelos durch das von Shayal erschaffene Schutzschild
und warf ihn einige Meter zurück.
"Für mich sehr zuvorkommend, auf diese
Weise werden wir die Celtam-Festungen in weniger als einer Woche eingenommen
haben." Der Herzog schickte dem Lord einen Blitz entgegen, worauf Shayal
irgendwo auf dem Kampffeld aufprallte.
Charyss lenkte Morshôn aus dem Stadttor
von Tintokal und folgte Lord Albrecht den staubigen Weg entlang zum Hochplateau.
Er war der Hofzauberer von Tintokal und wollte ihr auf eine eilige Nachricht
von Philes etwas zeigen. Gedankenversunken schlug sie hinter ihm den steilen
Pfad ein. Wütend dachte sie an den letzten Bericht über den Stand
des Krieges. Lord Shayal war schwer verwundet, ohne Hrantal auch nur einen
Kratzer zugefügt zu haben, und die Michindor-Festung war so gut wie
verloren. Sie blickte zum Himmel und entdeckte das Sternbild des Adlers.
Etwas weiter nach Norden leuchtete die Gruppe, die man den Drachen nannte.
Warum rief Philes sie nicht zur Hilfe? Die Skaffaer waren seit Tagen ruhig,
ehrlich gesagt, hatte Charyss noch keinen einzigen Feind gesehen. Irgendwie
kam ihr das seltsam vor.
Plötzlich war Albrecht verschwunden.
Eine gähnende Leere erfüllte sie, als sie versuchte ihm eine
magische Nachricht zu schicken. Der Grund war ein verkrüppelter Baum,
der neben ihr am Wegesrand stand. Es war ein Grofbaum, der im Volksmund
nur Antimagie-Baum hieß. Tatsächlich sonderte seine Rinde ein
eigenartiges Sekret aus, das alle Magie im Umkreis von mehreren Kilometern
aufsaugte.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren.
Mehrere dunkle Gestalten sprangen aus dem Gebüsch, das den kleinen
Pfad umrandete. Sie wollte nach ihrem Schwert greifen, aber es war verschwunden.
Hinter dem Ring, den die Männer immer enger um sie zogen, entdeckte
sie den Lord, der triumphierend ihre Waffe in die Höhe hielt.
"Verräter!" zischte sie.
Albrecht zuckte mit den Schultern. "Befehl
des Königs."
Sie versuchte Morshôn aus dem Ring zu
manövrieren, doch einer der Skaffaer zog ihr mit seiner Keule eins
über den Kopf. Das letzte, was sie sah, bevor sie ohnmächtig
wurde, war das hämische Grinsen des Lords.
"Jetzt wird mir die Geschichte so allmählich
klar", sagte Garthed und schritt über den Vorhof der Michindor-Festung.
"Philes hat von Anfang an ein falsches Spiel gespielt. Den ersten Strich
hast du ihm durch die Rechnung gezogen, als du mittels Magie den von ihm
eingestellten Mörder zur Rede gezwungen hast."
Er und Hrantal betraten den Bergfried der
gefallenen Burg.
"Danach hat er Angst gehabt, dass Charyss
von Salion auf eben diese Weise die Wahrheit herausfinden kann und hat
sie aus dem Weg geräumt. Bloß daran, dass sie die einzige ist,
welche die Grenze noch halten konnte, hatte er nicht gedacht."
Der Herzog nickte.
Gestern hatten die Tricheller die Michindor-Festung
eingenommen und durch einen gefangenen Diener von Philes war ihnen von
der Entführung Charyss’ durch die Skaffaer zu Ohren gekommen.
"Hoffentlich lebt sie noch", sagte Hrantal.
"Wenn wir sie von der Wahrheit überzeugen könnten, hätten
wir ein wirksames Mittel gegen Philes in der Hand."
Falls wir sie da rausholen können,
dachte der Herzog.
"Aber wie sollen wir sie befreien? Ganz Skaffa
ist von Grofbäumen verseucht."
"Ich weiß es nicht. Diese Sache überlass
ich dir. Ich muss mich um Philes, dieses feige Schwein, kümmern."
Der König verschwand im Beratungssaal, um mit seinen Hauptmännern
einen neuen Plan zu entwerfen.
Hrantal seufzte und wanderte eine Weile ziellos
durch die Festung. Er schlug unwillkürlich verschiedene Gänge
ein und fand sich plötzlich vor der Tür der Bibliothek wieder.
Er betrat den Raum, eine der größten Büchereien des ganzen
Ostens. Gedankenversunken zog er ein Buch aus einem Regal. Vielleicht würde
er etwas finden, was ihm hilfreich sein könnte.
Charyss fand sich in einem dunklen Gefängnis
in Krashnach wieder. Sie war mit eisernen Ketten an eine schleimige Wand
gefesselt. Einige runde Holzschilder hingen an der Wand, Grofbaum-Holz.
Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand. Das war’s nun endgültig,
dachte sie. Nun begriff auch sie den Plan, dem Philes nachgegangen war.
Warum hatte sie ihn nicht schon früher verdächtigt? Sie hätte
nur seine Gedanken lesen müssen, dann wäre es nicht soweit gekommen.
Jetzt
bezahlte er den Skaffaern garantiert einen dicken Batzen Geld für
mich, dachte sie. Aber nicht etwa für meine Freilassung.
Sie lehnte sich zurück und überlegte, wie weit die Tricheller
mit der Eroberung der Celtam-Festungen sein konnten. Ein Schlüssel
drehte sich im Schloss um und ein Diener stellte eine Schüssel Haferbrei,
oder etwas ähnlich aussehendes, auf den Boden. Er blickte Charyss
mit angsterfüllten Augen an, bevor er den Kerker eilig wieder verließ.
Charyss fühlte sich zu schwach, um aufzustehen und nach der Schüssel
zu greifen. Sie lehnte sich zurück und war fast augenblicklich eingeschlafen.
Mehrere Tage vergingen, ohne dass Hrantal etwas
hilfreiches fand. Garthed hatte den Angriff auf die zweite Celtam-Festung,
die Feenburg, gestartet und der Herzog kam nur nach den Schlachten dazu,
seine Forschungen fortzusetzen. An diesem Abend hatte er ein altes Magier-Buch
aus dem hinteren Teil der Bibliothek gefunden und blätterte darin.
Eine Seite hatte sich gelöst und Hrantal hob sie auf. Er warf einen
kurzen Blick darauf und stockte. Er entzifferte die alte Handschrift und
fand das, was er brauchte. Eine Möglichkeit, seine Zauberkraft vor
den Grofbäumen zu schützen. Hastig stopfte er die Seite in seinen
Umhang und verließ die Bibliothek.
Charyss schien es, als ob Jahre seit ihrer
Gefangennahme vergangen waren. Sie fühlte sich mit jedem Tag schwächer
und hilfloser. Ich bin sowieso erledigt, dachte sie, als sie einer
Schüssel mit Haferbrei einen Tritt versetzte und der schleimige Inhalt
sich über den Steinboden ergoss. Wieso sollte ich dann diesen eklige
Abfall in mich reinstopfen. Sie lehnte sich zurück und schloss
die Augen. Seit Tagen brachte ein Diener um die selbe Zeit eine Schüssel.
Plötzlich vernahm sie das Drehen des Schlüssels. Nicht schon
wieder dieses stinkende Zeug, dachte sie und warf einen Blick auf ihr
Abendessen, das einen üblen Geruch verströmte.
Die Tür öffnete sich und ein schwarzer
Kater huschte herein. Charyss setzte sich wieder auf und beobachtete das
Tier, das angewidert an dem Haferbrei schnüffelte und dann auf sie
zulief.
Plötzlich blinzelte Charyss. Hrantal
stand vor ihr. Der Herzog griff nach ihren Händen und löste die
Fesseln. Eine Weile verharrte er reglos.
Ihre Blicke trafen sich, er zog sie an sich
und küsste sie.
"Wie...?" fragte Charyss.
Er zog die zerknitterte Seite des Buches aus
seinem Umhang und gab sie ihr. Charyss überflog die Zeilen.
Dann lächelte sie. "Ich dachte, du kannst
kein Salionar?"
"Ich muss einer Feindin ja nicht alles verraten."
Er sprach die Formel über Charyss und sie genoss den Augenblick, in
dem ihre Magie zurückkehrte.
"Philes hat dich an Skaffa verkauft."
Sie nickte. "Ich weiß. In den Tagen
hier wurde mir das klar. Wenn ich zurück in Salion bin, werde ich
ihm zeigen, wer hier Herrscher ist. Er wird den Tag verfluchen, an dem
sein Vater beschloss, mein Land zu erobern."
"Aber erst mal musst du hier raus." Hrantal
verwandelte sich wieder in den schwarzen Kater.
Sie tat es ihm gleich und beide huschten als
schwarze Schatten aus dem Gefängnis. Mit einem Zauberspruch schloss
der Herzog die Tür und beförderte den Schlüssel zurück
an einen Haken an der Wand. Dann lief er weiter und führte Charyss
durch ein Gewirr von abzweigenden Gängen nach draußen.
Der dunkle Himmel war von Wolken bedeckt,
nur einige Sterne schimmerten hindurch. Hrantal schlich über den Hof
und zu den Pferdeställen. Morshôn stand, mit schweren Ketten
angebunden, in einer Ecke des Gebäudes. Niemand hatte sich getraut,
ihn anzufassen. Charyss verwandelte sich zurück in einen Menschen
und brachte die Ketten zum Zerbersten. Dann führte sie ihr Pferd,
das immer noch den Sattel und das Zaumzeug trug, aus dem Stall.
Der Herzog hatte sich für ein großes,
ebenfalls schwarzes Streitross entschieden und schwang sich in den Sattel.
Er lenkte das Tier neben Morshôn.
"Woher hast du bloß dieses Monstrum?"
flüsterte er.
Sie lächelte. "Ein Salioner, irgendein
Tier musste mir Philes bereitstellen. Er hat geglaubt, ich würde nicht
mit Morshôn fertig werden."
Leise führten sie die Pferde zum Tor.
Die Wachposten schliefen und lautlos öffnete Charyss das Tor. Sie
deutete auf die schlafenden Torhüter. "Dein Werk, nehme ich an?"
Er nickte. Dann gab er seinem Pferd die Sporen
und galoppierte in die Dunkelheit hinein. Charyss folgte ihm.
Nach einigen Stunden stiegen sie ab und befreiten
die Pferde von Sattel und Zaumzeug. Charyss belegte sie mit einem Zauber,
der sie auf direktesten Weg zur Michindor-Festung reisen lassen sollte.
Hrantal hatte sich in seinen weißen Drachen verwandelt und beobachtete
sie, wie sie Morshôn verabschiedete. Dann versetzte sie ihm einen
Klaps und er trabte davon. Sie verwandelte sich ebenfalls in einen Drachen
und beide flogen dem Norden entgegen.
Einige Stunden später erreichten sie die
Feenburg. Hrantal umarmte Charyss und küsste sie noch einmal. Dann
drehte er sich um, verwandelte sich in den schwarzen Kater und verschwand
in der Dunkelheit. Charyss sah ihm hinterher, bis ihn die Nacht verschlang,
dann betrat sie, ebenfalls als Katze, die Feenburg.
Sie huschte durch die Gänge der Burg
und hielt vor dem Beratungszimmer an. Unbemerkt schlich sie sich hinein
und verfolgte das Gespräch, das Philes mit seinen Hauptmännern
führte.
"Ich bedaure die Entführung Eurer Schwester
zutiefst, Maximilian, aber wir haben nicht genügend Streitkräfte,
um Krashnach anzugreifen, das wäre der pure Selbstmord!"
Max sprang auf und antwortete hitzig: "Sie
ist die einzige, die uns noch gegen die Tricheller helfen kann, Eurer Hoheit.
Wenn wir sie nicht befreien, ist Salion verloren!"
Der König verzog den Mund und sagte:
"Das ist es sowieso. Ich hoffe, dass wir noch rechtzeitig nach Slamung
fliehen können. Und selbst wenn Eure Schwester hier wäre, ihr
vergesst den Herzog von Trichell."
"Ihr wollt Salion also aufgeben?"
Der König verzog keine Miene. "Salion
ist schlecht befestigt. Der einzige Schutz, Eure Schwester, ging uns verloren.
Ich fordere keinen auf, dieses Land mehr als nötig zu verteidigen."
Charyss sprang auf die lange Tafel. Mit gefährlich
aufblitzenden Augen starrte sie Philes an. Einer der Hauptmänner wollte
sie wegscheuchen, doch sie wich seiner Hand aus, sprang wieder herunter
und verwandelte sich in einen Menschen. Erschrocken wich Philes zurück.
Die Lady versetzte ihm einen vernichtenden Blick.
"Welch eine Freude, Euch wieder zu sehen,
Euer Hoheit. Mit mir habt ihr wohl nicht mehr gerechnet? Zu dumm, dass
ihr in Eurem Plan keine Magie berücksichtigt habt."
"Welchen Plan?"
"Leugnet nicht. Es gibt mehr als genug Sprüche,
um jemanden zum Reden zu zwingen - ihr habt den König von Trichell
ermorden lassen! Und ihr habt mich an die Skaffaer verkauft. Ich breche
den Treueid, den ich Euch nie geben musste, ich bin nicht länger eine
Eurer Untertanen. Als Königin von Salion, befehle ich Euch, mein Land
sofort zu verlassen."
Mehrere Scharchaer waren aufgesprungen, doch
die Überzahl der Hauptmänner hatte sich schützend vor Charyss
gestellt.
"Das wird Euch noch leid tun", fauchte Philes
und griff zu seinem Schwert.
Max wollte es ihm entreißen, doch Charyss
winkte ab. Sie nahm das Schwert ihres Bruders und wartete auf Philes’ Angriff.
"Wehrlose wollt ihr töten, mal sehen, ob ihr auch Bewaffnete angreift."
Philes griff an und holte gegen sie aus. Charyss
fing den Schlag geschickt ab, drückte dagegen und, mit einem weiten
Schwung, ließ sie ihre Waffe auf seinen Schwertarm niedersausen.
Philes schrie kurz auf und ließ sein Schwert fallen.
"Verschwindet, bevor ich Euch die Wachen auf
den Hals hetze", zischte Charyss und hob sein Schwert auf. "Das hier könnt
ihr behalten."
Philes griff mit finsterem Gesicht nach seiner
Waffe, gab seinen scharchaer Hauptmännern einen Wink und verließ
mit ihnen das Zimmer. Er lief auf den Hof, sprang auf sein Pferd und verließ
mit seinen Rittern eilig die Burg. Der Morgen hatte gerade angebrochen
und durch die goldenen Strahlen der Sonne konnte Charyss einen versteckten
Trupp Tricheller am Wegesrand entdecken.
Philes würde direkt in die Falle tappen.
Max lehnte sich neben seine Schwester an die Burgmauer und beobachtete
das Gefecht, das mit der Gefangennahme Philes endete.
"Ein Tricheller Bote?" Charyss blickte ihren
Bruder ungläubig an. "Was wollen die? Mich mit Philes erpressen?"
Max zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung,
du
bist die Königin, glaubst du, er wollte mit einem einfachen
Hauptmann sprechen?"
"Schick ihn rein."
Max verbeugte sich und bemerkte, mit unterdrückter
Belustigung in der Stimme: "Ja, Eure Hoheit." Grinsend verließ er
den Saal und einige Minuten später kehrte er, mit einem jungen Krieger
im Schlepptau, zurück.
Der Krieger verbeugte sich und drückte
Charyss einen versiegelten Brief in die Hand. Die Königin öffnete
ihn und eine Weile herrschte Totenstille.
"Ein Friedensvertrag. Und Zusicherung einer
militärischen Unterstützung gegen Skaffa. Will Garthed sich mein
Vertrauen kaufen?"
Der Krieger schüttelte den Kopf. "Nein,
keinesfalls, Eure Hoheit. In einem Tag erwartet er eine Antwort."
"Er braucht nicht einen Tag zu warten. Ich
nehme an." Charyss griff nach einer Feder, schrieb einige Worte auf den
Vertrag, steckte ihn in den Umschlag zurück und gab ihn dem Krieger.
"Richtet ihm meinen Gruß aus."
Der Krieger verbeugte sich nochmals und verließ
den Saal. Max atmete tief durch.
"Für einen Moment dachte ich, dass du
ablehnst."
Sie grinste. "Ich bin doch nicht lebensmüde.
Wenn der Herzog irgendwo noch einen anderen Drachenmagier seiner Stärke
auftreiben kann, wäre Salion verloren gewesen." Allerdings zweifle
ich daran, ob er mich noch angreift, dachte sie.
Einige Wochen später erreichte Charyss
die Nachricht, dass Gaynen auf dem Weg nach Salion war. Auch Garthed wollte
ihr einen Besuch abstatten. Aber sie würden erst in ein bis zwei Wochen
eintreffen.
Sie lenkte Morshôn durch die dicht befahrene
Straße von Tintokal nach der Michindor-Festung. Nachdem sie die Straßenkreuzung
nach der Kreuzburg passiert hatte, ließ der Verkehr nach. Auf einer
Brücke kam ihr eine riesige Schafherde entgegen, die von einem alten
Schäfer und acht Hunden vorangetrieben wurde. Geschickt bahnte sie
sich einen Weg durch die Herde, nickte dem Schäfer freundlich zu,
der sich vor ihr verbeugte, sprang über das letzte Schaf und prallte
mit einem anderen Pferd zusammen. Sie konnte sich gerade noch auf Morshôn
halten. Der Reiter lenkte sein Pferd neben sie und bewahrte sie vor einem
Sturz.
"Man guckt nach vorne im Straßenverkehr",
knurrte er.
Es war Hrantal.
"Und man reitet nicht ohne Genehmigung durch
fremde Territorien, das nennt man Spionage."
Er verzog das Gesicht. "Ich hab eine Genehmigung."
Mit einem Lächeln auf den Lippen reichte er ihr einen Brief. Gaynen
hatte ihn unterschrieben. Sie seufzte.
"Wie soll ich ihnen klar machen, das nur ich
solche Genehmigungen erteilen darf."
Er beugte sich zu ihr herüber und küsste
sie. "Gar nicht. Denn dann würde ich immer noch an der Grenze stehen
und auf eine Erlaubnis warten."
"Euer Bruder. Ja, er ist bereits hier." Charyss
nickte Garthed zu. "Ich muss meinem Bruder noch eine Predigt halten,
dass er, verflucht noch mal, meine Genehmigung braucht, um eine Genehmigung
zu schreiben."
Garthed grinste. "Seid Euch nicht so sicher,
dass es wirklich Gaynens Unterschrift war. Wo hat er Euch erwischt?"
Sie verdrehte die Augen. "In einer Schafherde,
mitten auf einer Brücke. Wie sieht es aus, mit Philes?"
Garthed zuckte mit den Schultern. "Er schmort
lebenslänglich in einem Gefängnis in Xanthaka." Er bemerkte seinen
Bruder, der lautlos die Treppe zur Burgmauer erklomm.
"Und mit der Verwaltung Scharchas?" fragte
sie.
"Slamung wurde vollständig eingenommen.
Ein Großteil der Bevölkerung schien froh, Philes los zu sein."
Der Herzog legte seine Hände auf Charyss’ Taille und drückte
einen Kuss auf ihren Nacken. "Du doch auch", bemerkte er.
Zu Garthed gewandt fügte er hinzu: "Mach
den Mund zu."
Garthed klappte den Kiefer wieder zu und grinste.
"Erst bringst du sie fast um und jetzt küsst du sie."
"Was dagegen?" fragte Hrantal mit fast unhörbarer
Drohung in der Stimme.
Gaynen hatte ebenfalls die Mauer erklommen
und stand nun neben dem Herzog. Auch er konnte sich eine Bemerkung nicht
verkneifen: "Es geht doch nichts über den alten Leitsatz Du sollst
deine Feinde lieben."
Charyss warf ihrem Bruder einen vernichtenden
Blick entgegen. "Du solltest mal wieder nach Xanthaka, Bruderherz. Jemand
würde dich gerne wieder sehen."
Gaynens Gesicht verfärbte sich leicht
rosa. "Ich hasse es, wenn du meine Gedanken liest."
Der Herzog musterte Gaynen jetzt ebenfalls.
"Der Meinung bin ich auch. Du solltest mitgehen, Garthed, vielleicht findest
du jemanden, dem du einen Teil der Regierung überlassen kannst."
Garthed, der froh war, dass er durch seine
Magie, die freilich nicht mit der seines Bruders mithalten kann, von Gedankenübergriffen
geschützt war, verzog verwirrt das Gesicht. Seine Zauberkraft war
bei weiten nicht so stark, dass er Gedanken lesen könnte. Nach ein
paar Sekunden hellte sich sein Antlitz auf, er griff Gaynen am Arm und
sagte: "Ich glaube, darüber müssen wir uns mal unterhalten."
Dann verließen er und Gaynen die Burgmauer.
"Ich glaube, er hat echt Regierungshilfe nötig",
sagte der Herzog.
Sie lehnte sich an ihn und fragte: "Warum
hilfst du ihm nicht?"
"Weil ich es hasse, ein riesiges Land zu regieren.
Außerdem habe ich in Trichell mehrere Magier, die mir liebend gern
an die Gurgel springen wollen. Die warten nur auf einen Fehler und dann
fallen sie wie Aasgeier über ihr Opfer her." Hrantal verzog das Gesicht.
"Aber allmählich habe ich die Nase voll, Garthed’s Botschafter zu
spielen. Demnächst will er mich zu einer wirtschaftlichen Verhandlung
nach Beriwan schicken." Seine Stimme wurde leise, als er sie an sich drückte
und sagte: "Aber vorher hätte ich noch eine Frage." Er hielt kurz
inne, um ihren Blick festzunageln. "Willst du mich heiraten?"
Charyss blickte ihm überrascht in die
Augen. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn. "Warum sollte ich
ablehnen?"
Er lächelte.
"Die Skaffaer wollen verhandeln? Einen Friedensvertrag?"
Hrantal griff nach dem Brief, den ihm Max überreichte, riss ihn auf
und las ihn. Nach einer Weile grinste er zufrieden, reichte den Brief an
Max weiter und sagte: "Sie wollen sich den Frieden erkaufen. Mit Tributzahlungen."
Max hatte die Zeilen überflogen, gähnte
einmal kurz, und bemerkte: "Wenn du mich fragst, ist da was faul. Pass
auf, dass sie dir nicht Grofbäume andrehen wollen."
"Mit Grofbäumen hab ich kein Problem.
Sag dem Boten, dass ich mich morgen entscheide, das muss ich erst mal der
Königin unterbreiten."
Hrantal legte den Brief auf den Tisch, wünschte
Max eine gute Nacht und verließ den Thronsaal. Max schüttelte
verwirrt mit dem Kopf. Die eigentliche Geschichte von Charyss’ Rettung
hatte er noch nie gehört. Dann gähnte er nochmals und machte
sich ebenfalls auf den Weg zu seinen Gemächern.
Der Himmel war von Sternen übersäht
und Hrantal schätzte die Uhrzeit auf etwa Mitternacht. Geräuschlos
betrat er einen anderen Teil des Palastes und öffnete die Tür
zu den Gemächern des Königs und der Königin.
Sein erster Blick fiel auf das Bett und Charyss’
schlanke Gestalt, die sich in der Dunkelheit zu verflüchtigen schien.
Hrantal hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er sich auf die Bettkante
setzte und ihren Schlaf beobachtete. Dieser Anblick erinnerte ihn an etwas:
Genauso sah sie aus, als er sie das erste Mal gesehen hatte.
© Trishol
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