Der Tempel und seine Entstehung:
In dieser nicht wirklich kugelförmigen
Welt begab es sich vor vielen Jahren, dass sich ein Trull, dessen Name
mit Ruydi überliefert ist, auf Wanderschaft machte - wie es so manche
aus seinem Volk zu jener Zeit taten und viele auch heute noch tun -, um
Angehörige anderer Völker von der Wichtigkeit "seiner" Gottheit
zu überzeugen. Während seiner jahrelangen Wanderschaft war es
Ruydi tatsächlich gelungen, etwas mehr als dreißig dauerhafte
Gläubige zu gewinnen, was einer recht stolzen Zahl entspricht - für
trullische Verhältnisse; einige begleiteten ihn sogar zeitweise auf
seiner langen Wanderung. Aber auch seine treuesten Begleiter wurden irgendwann
des dauernden Wanderpredigens müde. Nach und nach beschlossen diese,
wieder sesshaft zu werden und unabhängig voneinander nur noch in ihrer
neuen oder alten Heimat weitere Gläubige zu gewinnen. Drei von ihnen
hatte Ruydi bis dahin zu Hohepriestern geweiht - nur eine geringe Stufe
niedriger als er selbst, der sich neben 'Hohepriester' auch 'Oberster Gläubiger'
nennen durfte; ungeachtet der Tatsache, dass er viele Jahrzehnte lang sowieso
der einzige Gläubige seiner Gottheit war.
Diesen drei Hohepriestern trug er auf, jeweils
an ihrer neuen Wirkungsstätte einen Tempel zu errichten, welcher der
Erhabenheit ihrer gemeinsamen Göttin gerecht werden würde. Da
er dazu sehr genaue Vorstellungen hatte, gab er ihnen gewisse Regeln für
jenes Bauwerk vor und fertigte sogar eine grobe Skizze an, die der beauftragte
Architekt als Orientierung nutzen konnte.
Jeweils etwa zwei Jahre nach Baubeginn war
er zurückgekehrt - denn er war stets rastlos und hielt es nie lange
an einem Ort aus -, um den neuen Tempel zu begutachten. Trotz einiger kleiner
eigenwilliger Änderungen seiner Hohepriester an der Tempelausführung,
die seine Regeln jedoch nicht verletzten, war er mit dem Ergebnis immer
sehr zufrieden. Er vertraute seinen Hohepriestern so sehr, dass er hernach
nie mehr zu ihren Wirkungsstätten zurückkehrte - er wollte vermeiden,
dass sie dies als 'Kontrollbesuch' verstehen könnten.
Viele Jahre später begab es sich, dass
Ruydi einen weiteren seiner treuen Begleiter zum Hohepriester weihte. Die
Weihezeremonie selbst war recht einfach gehalten, und doch rührte
sie den neuen Hohepriester offensichtlich zu Tränen: Ein kräftiger
Klaps mit Ruydis Bären- - Pardon: Trullpranke auf die Schulter seines
Schülers und die heiligen Worte "So, jetzt bist du Hohepriester der
Aurogodolufo. Mach was draus!" besiegelten den neuen Rang des Glücklichen.
Vor Ergriffenheit blieb dem neuen Hohepriester sogar kurzzeitig die Luft
weg.
Dieser war ein Ôrg namens Ûro
Glâbro. Er gehörte zu den relativ wenigen Ôrgs, die weder
mit einer dichterischen Ader noch mit überragender Denk- und Konzentrationsfähigkeit
gesegnet sind. Er war sicherlich nicht dumm, doch herausragende Eigenschaften
waren ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Um dem großen Druck seiner
Familie einerseits und harter bäuerlicher Arbeit andererseits zu entgehen,
war er schließlich Ruydi gefolgt, als dieser durch Ûros Heimatstadt
Trûrg - eine der größten Ôrg-Städte überhaupt
- gekommen war.
Nun aber, einige Jahre nach jenem Entschluss
und wenige Monate nach seiner denkwürdigen Weihe zum Hohepriester,
kamen Ruydi und Ûro erstmals wieder nach Trûrg. Die Schmerzen
in Ûros Schulter waren inzwischen endlich beinahe gänzlich verschwunden.
Schon nach kurzem Aufenthalt wurde Ûro
bewusst, dass sein Ansehen - jetzt als Hohepriester, wenn auch einer den
Ôrgs unbekannten Göttin - schlagartig stark angestiegen war.
Es dauerte nicht lange, da war beschlossen, dass Ûro in Trûrg
bleiben würde statt weiter Ruydi zu begleiten. Auch diesmal trug der
'Oberste Gläubige' seinem Hohepriester auf, einen Tempel errichten
zu lassen, legte ihm seine Vorstellungen und Regeln dar sowie händigte
ihm zuletzt die Skizze des zukünftigen Bauwerks aus.
Diese war schon durch viele Hände gegangen
und hatte Ruydi stets auf seinen Reisen begleitet, nachdem er die drei
fertigen Tempel begutachtet hatte; viele Falten und Knicke hatten daher
ihre Spuren hinterlassen. Das Papyrus war zwar in zwei Teile zerrissen,
die Zeichnung jedoch war noch gut erkennbar, und so sahen darin weder Ruydi
noch Ûro ein Problem.
Bereits am nächsten Tag machte Ûro
sich auf die Suche nach einem geeigneten Architekten, den besten Steinmetzen
der Stadt und nach wohlhabenden Trûrgern, die dazu bereit waren,
ihm für die Finanzierung des Baus eine kleine Spende zukommen zu lassen.
Ruydi dagegen setzte wieder einmal unverdrossen seine Wanderschaft fort.
Etwas mehr als zwei Jahre darauf erreichte
Ruydi abermals Trûrg, um sich den neuen Tempel anzusehen. Ruydi war
es inzwischen gelungen, einen weiteren Bekehrten zu finden, einen Tswerg,
der ihn nun begleitete. Bereits etwa eine halbe Stunde nach betreten der
Stadt entdeckte der Trull durch Zufall seinen Hohepriester, als dieser
auf einem kleinen Platz eine Predigt hielt. Gegen Ende machte Ûro
die Zuhörer auf den neuen Tempel aufmerksam und lud sie zur Einweihungsfeier
ein, die in wenigen Tagen stattfinden und wo er, Ûro, fortan seine
Predigten halten würde. Ruydi war erfreut, war er doch offensichtlich
genau zum richtigen Zeitpunkt zurückgekehrt.
An dieser Stelle wollen wir diesem denkwürdigen
Zusammentreffen etwas eingehender folgen. Der exakte Wortlaut ist leider
nicht absolut bis ins Einzelne überliefert, weshalb hier teils auf
Vermutungen zurückgegriffen werden muss, aber aller Wahrscheinlichkeit
nach dürften die Ereignisse und Gespräche zumindest sehr ähnlich
wie nachfolgend geschildert stattgefunden haben.
Als sich die Menge - etwa fünf Ôrgs
und ein Tswerg, der sich vermutlich nur verirrt hatte - nach Ûros
Predigt aufzulösen begonnen hatte, ging der Trull auf Ûro zu
und begrüßte ihn erfreut:
"Aurogodolufos segensreicher Segen!" - dies
war der rituelle Gruß unter Priestern eben jener Göttin, auf
diese Idee war Ruydi schon immer besonders stolz gewesen - "Wie ich höre,
komme ich gerade zur rechten Zeit, Hohepriester Ûro." Wieder einmal
seine gewaltige Körperkraft unterschätzend ergriff er Ûros
Hand und schüttelte und drückte sie so heftig, dass der Ôrg
schmerzhaft wieder an seine größten Leiden während seiner
Wanderjahre erinnert wurde.
Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht - was
Ruydi vermutlich eher als in der Öffentlichkeit mühsam unterdrückte
Freude deutete - antwortete Ûro, nachdem er wieder zu Luft gekommen
war: "Aurogodolufos segensreicher Segen! Ja, der Tempel ist gerade erst
fertig geworden, es fehlen nur noch einige Ausschmückungen im Inneren.
Du wirst sicher begeistert sein, Oberster Gläubiger Ruydi."
"Ich weiß jetzt schon, dass ich das
sein werde. Aber genug der Förmlichkeiten. Ûro, wo ist der Tempel?
Ich möchte ihn so schnell wie möglich sehen! - Oh, warte, dies
ist Schorsch, habe ihn unterwegs getroffen. Er lernt schnell und wird sicher
bald Priester werden."
Ûro schüttelte dem Tswerg die Hand.
"Willkommen in Trûrg. Noch kein Priester also?"
"Nein, daher einfach nur: Tach!"
"Hm, vom 'Clan der Gewellten Bärte',
richtig?"
"Oh, ein Ôrg, der sich mit Tswergen-Clans
auskennt!" rief Schorsch erstaunt aus. "Ja, richtig vermutet, zumindest
ehemals Gewellte-Bärte, aber der Bart bleibt trotzdem so. Tradition."
"Auf unserer gemeinsamen Wanderschaft sind
Ruydi und ich öfters auch durch Tswergen-Gebiet gekommen. Ist die
Clan-Küche immernoch so... ähm..."
Schorsch winkte ab. "Natürlich. Was denkst
du denn, weshalb ich den Clan verlassen habe? Ich hasse Pfefferminzsoße!"
Dies entlockte Ûro ein verständnisvolles
Lächeln, doch Ruydi wurde ungeduldig und unterbrach die Beiden:
"Schluss jetzt damit, ihr könnt euch
auch später noch kennenlernen! Wo ist der Tempel?! Jetzt!"
"Gleich hier um die Ecke. Der Standort ist
nicht ganz optimal, nur an einem kleinen Platz, aber praktisch im Herzen
der Stadt. Fast jeder kommt hier mindestens alle paar Tage vorbei."
"Gut, lass uns hingehen."
"Gehen wir durch die Gassen; ist schneller,
als der Hauptstraße zu folgen."
So ging Ûro durch einige verwinkelte,
schmalen Gassen voran, während Ruydi und der Tswerg ihm schweigend
folgten.
Kurz darauf erreichten sie den neuen Tempel
an einer seiner Seitenwände. Ringsum standen andere Gebäude recht
dicht am Tempel, lediglich nach vorne öffnete sich ein kleiner Platz,
den selbst der kleinwüchsige Schorsch mit einem guten Dutzend Schritten
hätte überqueren können. Da es schon Abend und daher dunkel
geworden war, hielten sie sich nicht mit langem Bestaunen der Fassade auf,
von der wegen der Dunkelheit und Enge ohnehin nicht viele Details erkennbar
waren, sondern gingen gleich ins Innere.
Den Eingang bildete eine zweiflügelige,
über fünf Schritt hohe und fast ebenso breite Eichentür,
die sich trotzdem erstaunlich leicht öffnen ließ, aber nach
der Einweihung tagsüber meistens ohnehin offenstehen würde. Das
Holz war mit zahlreichen geschnitzten, reliefartigen Verzierungen geschmückt,
die hauptsächlich Äpfel in allen möglichen Variationen und
Größen darstellten; selbst die bronzenen Türknäufe
waren in Apfelform gehalten. Auch der nur aufgemalte Torbogen, der die
Tür einrahmte, stellte zahlreiche Äpfel dar.
Eilig entzündete Ûro im Tempel
mehrere Kerzen, was einige Zeit dauerte, bevor Ruydi den Eingang durchschritt
und das Innere in Augenschein nahm. Trotz der etwas dürftigen Beleuchtung
entlockte der Anblick Ruydi ein zufriedenes Grunzen nach Trull-Art.
Nach dem Eingang öffnete sich vor dem
'Obersten Gläubigen' eine säulenlose und annähernd quadratische
Halle mit einer Seitenlänge von etwa neun Trull-Längen [9 'TL'
= ca. 20 m] - keine gewaltigen Ausmaße, aber trotz ihrer Körpergröße
haben Trulle andere Vorstellungen von idealen Tempel-Dimensionen, als man
ihnen vielleicht zutrauen würde.
Den Boden bedeckte ein lückenloses Mosaik
aus hauptsächlich gelben bis gelblich-braunen und gelblich-grauen
Steinchen, die in unregelmäßigen Abständen und mit weichen
Übergängen jedoch aus roten und rot-braunen Steinen gebildeten
Flecken wichen. Abgesehen von den unförmigen roten Flecken etwa in
der Größe von Wagenrädern und größer war kein
bestimmtes Muster erkennbar, die verschiedenen Gelbtöne gingen fließend
ineinander über. Knapp jenseits der Hallenmitte gegenüber der
Tür führten drei Stufen auf eine kreisrunde steinerne Plattform,
die ebenso vom Mosaik bedeckt war und auf der eine Art Altar stand: Er
hatte die Form eines Apfels - eines gelben Apfels mit roten Flecken. Nichtmal
der Apfelstiel in der Mitte war vergessen worden; er diente als leicht
krummer Kerzenhalter.
Die Wände wiesen kein Mosaik auf, waren
aber in genau den gleichen Gelbtönen gehalten und mit großen
rötlichen Flecken versehen worden. Durch den bemalten Stuck wirkten
die Farben weniger glänzend als das Bodenmosaik, dafür aber auch
weicher und wärmer.
Die 'Ecken' der Halle waren, wie es sein sollte,
stark abgerundet, da nach Ruydis Regeln keine 'harten Ecken' den Tempel
entweihen durften, wie er es nannte. Nahezu alles musste 'apfelrund' sein,
auch die Kanten der Treppenstufen zum Altar waren stark abgerundet, und
sogar die Wände waren im untersten knapp kniehohen Bereich stark verbreitert
und zur Hallenmitte und zum Boden hin abgerundet.
Die Wände, die unmittelbar oberhalb der
abgerundeten Verdickung immerhin noch nahezu zwei Schritt dick waren, erstreckten
sich mehrere Troll-Längen in die Höhe, wo sie allmählich
dünner wurden, bevor sie der Decke begegneten, die im schummrigen
Kerzenlicht aber im Moment kaum erkennbar war.
Die übrige Einrichtung war sehr einfach
gehalten. Sitzgelegenheiten gab es keine. Entlang den Wänden - der
Wandrundungen am Boden wegen etwa in jeweils einem Schritt Abstand zu ihnen
- reihten sich etwa zwei Dutzend bronzene Kerzenständer auf, von denen
jeder drei dicke Kerzen trug. Auch die gut trullhohen Kerzenständer
deuteten mit schwungvollen Bögen und Schnörkeln Apfelrundungen
an.
"In den vier Tempel-Ecken - ähm, Rundecken,
Rundungen... naja, du weißt, was ich meine - werden noch die Holzpfosten
in Apfelform platziert, auf denen dann die echten Äpfel liegen. Die
werden aber erst übermorgen geliefert - die Pfosten, meine ich", erklärte
Ûro, als er einen kritischen Blick des Trulls bemerkte, der sich
damit auch gleich zufriedenzugeben schien.
"Sehr gut", urteilte dieser schließlich
nach einem weiteren längeren Rundblick, "aber es ist jetzt leider
doch schon zu dunkel, um den Tempel in seiner ganzen Pracht genießen
zu können; trotz der Kerzen. Aber morgen ist auch noch ein Tag, Aurogodolufo
sei gepriesen! - Oh, und sag nicht Pfosten, es sind immerhin Aurogodolufos
heilige Tempeläpfel! Das solltest Du inzwischen wissen."
Ûros gemurmeltes "Jaja" war zum Glück
so leise, dass Ruydi es überhörte. "Ihr seid sicher müde",
lenkte der Ôrg dennoch sicherheitshalber vom Thema ab. "Wollt ihr
nicht ins Nebengebäude und schlafen gehen?"
Wie auf Kommando gähnte Ruydi ausgiebig.
"Guter Gedanke!" Er wollte bereits umdrehen und den Tempel verlassen, als
Ûro ihn zurückhielt:
"Nicht da lang, wir können durch den
Tempel durchgehen."
"Durch den Tempel?" fragte Ruydi verwundert.
"Ich bin zwar ein Trull, aber durch Wände gehen kann ich trotzdem
nicht..."
"Ist auch nicht nötig, ich habe da eine
Tür einbauen lassen. Kommt mit..."
Tatsächlich befand sich schräg gegenüber
des eigentlichen Eingangs eine gut getarnte kleinere Tür, die, obwohl
sie aus Holz bestand, in Farbe und Struktur sehr gründlich der umgebenden
Wand angepasst worden war, so dass man sie nur erkennen konnte, wenn man
sehr genau hinsah oder direkt davor stand.
"Davon war in meinen Regeln aber nicht die
Rede...", monierte der Trull halbherzig, ging aber dennoch als Erster durch
die Tür, ohne einen weiteren Kommentar dazu abzugeben.
Das - natürlich gelbe - Nebengebäude
bestand im wesentlichen aus einem Lagerraum, einer kleinen Küche,
zwei einfachen kombinierten Wohn- und Büroräumen für im
Tempel tätige Priester - im Normalfall war natürlich Ûro
der Einzige - und drei Kammern mit Betten für Gäste, wie es nun
Ruydi und Schorsch waren.
Ein markerschütterndes Brüllen zerriss
die morgendliche Stille des darauffolgenden frühen Tages. Die Sonne
war noch nicht ganz aufgegangen, erhellte aber bereits den Himmel und weite
Teile der Stadt.
Das entsetzte Brüllen aus dem Tempel
war längst verklungen, als Ûro hektisch und zugleich noch schlaftrunken
denselben durch die Hintertür betrat und beinahe in den wie angewurzelt
dastehenden und nach oben starrenden Trull gerannt wäre.
"Wasnlos?" fragte Ûro, ein Gähnen
unterdrückend. Da er keine Antwort erhielt, folgte er einfach Ruydis
Blick, konnte aber nichts Außergewöhnliches erkennen.
Seitlich hoch über dem Eingang der Vorderwand
saßen zwei große, fast kreisrunde Fenster, deren Formen natürlich
an Äpfel erinnerten, mit dickem, milchigem Glas, das einen minimalen,
kaum wahrnehmbaren Gelbstich aufwies. Wäre das Glas stärker gelb
gefärbt gewesen, hätte man kaum das Rot der Flecken als solches
erkennen können. Dadurch war das Innere des Tempels nun wesentlich
besser beleuchtet als am Vorabend.
Von den hoch aufragenden Wänden wölbte
sich die Decke zur Tempelmitte hin nach unten, von der ihr mittlerster
Bereich wiederum leicht nach oben gestülpt war - es dürfte unnötig
sein zu erwähnen, dass die Deckenwölbung stark an einen gelben
Apfel erinnerte, wobei die Apfeloberseite jedoch nach unten zeigte. Natürlich
waren weder die roten Flecken noch der Stiel vergessen worden, auch wenn
der nur durch einen kurzen Stumpen angedeutet wurde. An der niedrigsten
Stelle befand sich die Decke immernoch gut dreieinhalb Trull-Längen
über dem Boden, während die Wände etwa doppelt so weit in
die Höhe ragten, bevor sie sich mit dem Decken-Apfel vereinigten.
"Achso, ja", begann Ûro, der nun zu
verstehen glaubte, "die Deckenwölbung musste etwas niedriger ausgeführt
werden und die Wände dafür höher. Der Architekt meinte,
die Wände hätten sie sonst nicht tragen können, irgendwo
müsse die Decke ja aufliegen; dabei hat er schon das leichteste steinähnliche
Material verwendet, das er finden konnte. Deshalb steht der Apfel - also
das Dach - auch etwas über, aber ich finde, der Tempel sieht dadurch
von außen noch besser aus als auf deiner Zeichnung."
Endlich löste Ruydi den starren Blick
von der Decke und sah den Ôrg an, mit nicht weniger Entsetzen in
den Augen als zuvor. "Steht über? Decke muss aufliegen? Aber das würde
sie doch... Was hast du getan?" In Ruydis Augen blitzte für einen
kurzen Moment sowas wie Aggressivität auf, äußerlich blieb
er jedoch erstaunlich ruhig.
"Iiich?? Nichts! Sooo schlimm kann das doch
nicht sein mit dem Dach... ich meine, es ist ja schon eine recht eigenwillige
Konstruktion. Ich war froh, überhaupt einen Architekten gefunden zu
haben, der den Auftrag übernehmen wollte..."
"Ja, verstehst du denn nicht...?" Ruydi hielt
inne und sein Blick wirkte plötzlich abwesend, als wäre ihm ein
Gedanke gekommen. Dann sprang er ohne Vorwarnung mit wenigen, aber gewaltigen
Schritten zur Eichentür, riss sie auf und rannte ins Freie.
Erst auf der gegenüberliegenden Seite
des Platzes blieb er stehen und wagte es, sich umzudrehen. Was er sah,
ließ ihn erneut erstarren. Könnten Trulle Tränen vergießen,
er hätte jetzt bitterlich geweint. So blieb es bei einem tiefen Seufzen.
Vor der gelben Tempelfassade mit den beiden
großen Fenstern, die von außen deutlich gelber wirkten als
von innen, ragte etwa sieben Schritte links und rechts vom Eingang je eine
- erstaunlicherweise nicht gelbe sondern weiße - glattpolierte Säule
etwa fünf Trull-Längen in die Höhe. Ihre Aufgabe bestand
jedoch nicht darin, ein Vordach oder etwas ähnliches zu tragen, sondern
deren Kronen waren stark verbreitert und - wen erstaunt es? - als Äpfel
nachgebildet worden. Diese waren dann natürlich doch wieder im üblichen
Gelbton mit roten Flecken gestaltet worden.
Wo die Tempelwände zu enden schienen,
ragte das eigenwillige Dach weit über den Tempelgrundriss hinaus,
über den Seitengassen berührte es beinahe die benachbarten Gebäude.
Nach oben hin setzte sich die Wölbung aus dem Tempel-Inneren fort,
bis sie schließlich gut drei Troll-Längen höher senkrecht
nach oben endete. Dachte man sich die Tempelwände als durchsichtig,
war das Dach also wie ein in der Mitte quer durchgeschnittener Apfel, der
mit der Schnittfläche nach oben auf die vier Wände gestülpt
worden war und in der Mitte sozusagen durchhing. Die "Schnittfläche"
war von Ruydis Position am Boden aus natürlich nicht zu sehen.
Endlich kam auch Ûro aus dem Tempel und
ging zum Trull, der sein Unglück immer noch nicht begreifen konnte.
"Sieht doch gar nicht so schlimm aus, fast genauso wie auf der Zeichnung."
Ûro hielt seinem Obersten Gläubigen die Skizze hin, die er wohl
inzwischen aus dem Nebengebäude geholt haben musste.
Ruydi genügte ein kurzer Blick, um zu
verstehen. "Falschrum", murmelte er nur.
"Was?"
"Dem Architekten hast Du meine Zeichnung auch
so gezeigt wie mir jetzt?" fragte er statt einer Erklärung.
"Äh... ja...?"
Ruydi nickte resignierend, bevor er Ûro
ansah. "Du hast die beiden Teile falschrum zusammengehalten. Das Dach -
die Kuppel - gehört andersrum hin, mit der Wölbung nach oben."
Ûro sah sich die in zwei Teile zerlegte
Zeichnung genauer an, schließlich machte sich Erkenntnis in seinen
Gesichtszügen breit und er drehte den kleineren Teil nun um. Der relativ
glatte Knick, wodurch das Papyrus zerrissen war, ging nun genau zwischen
der gezeichneten Kuppel und den unteren Tempelwänden durch. Unglücklicherweise
hatte Ruydi einst die ganze Größe des Papyrusblattes ausgenutzt
und die apfelförmige Kuppel bis an den oberen Rand gezeichnet, so
dass deren Ausrichtung auf dem abgerissenen Teil nur schwer zu erkennen
gewesen war.
Es wurde bereits erwähnt, dass Ûro
nicht mit dem allergrößten geistigen Talent gesegnet worden
war. Vielleicht war es sogar doch noch geringer, als gedacht... Weshalb
auch immer, irgendwie war er nie auf den Gedanken gekommen, dass das Dach
eine Kuppel sein sollte sondern hatte es für eine sonderbare Konstruktion
gehalten, was ihn angesichts der ausgefallenen Religionslehre des Trulls
aber nicht verwundert hatte. Außerdem hatte Ûro nie die drei
anderen Tempel gesehen.
"Vielleicht hättest du besser einen Tswerg
beauftragen sollen", meinte da Schorsch, der inzwischen unbemerkt dazugekommen
war und sich den Plan in Ûros Händen nun ansah. "Wir kennen
uns mit solchen Dingen offensichtlich besser aus als Ôrgs... - Trotzdem
sehr erstaunlich, dass die Wände nicht einfach zur Seite kippen..."
Doch Ûro beachtete ihn nicht weiter.
"Immerhin ist das Dach hohl wie es sich für eine Kuppel gehört,
es wäre sonst sowieso viel zu schwer gewesen, aber halt auch oben
offen... Außerdem sieht man ja noch, dass es einen Apfel... ups,
den heiligen Apfel der Aurogodolufo darstellen soll... naja, zumindest
von innen...", versuchte er stattdessen Ruydi zu beruhigen.
"Nur ein halber Apfel..." Ruydi war noch immer
schwer enttäuscht, ja, geschockt über den Anblick. Langsam und
sichtlich lustlos begann er, sich dem Tempel wieder zu nähern. "...
nicht zu übersehen, halber Apfel...", murmelte er.
"Naja, aber ein Apfel... Ich bin mir
sicher, Aurogodolufo ist damit ebenso zufrieden wie mit dem ursprünglichen
Entwurf." Ûro schöpfte weiter Hoffnung, Ruydi doch noch davon
überzeugen zu können, dass alles gar nicht so schlimm war.
"Nein, kann sie nicht, Aurogodolufo ist die
Göttin der gelben Äpfel mit roten Flecken. Hast Du das schon
vergessen?"
"Aber das Dach ist doch gelb und hat
rote Flecken...!"
Ruydi erreichte gerade eine der Säulen
vor dem Tempel und blieb stehen. Er schüttelte den Kopf. "Aber es
ist deutlich ein halber Apfel. Gott der halbierten Äpfel ist
Oulaguromaru, nicht Aurogodolufo. Und Bokoi ist sein Oberster Gläubiger.
- Ich kann Bokoi nicht ausstehen, ist total eingebildet. Aber mal ganz
ehrlich: Wer braucht schon einen Gott der halbierten Äpfel?!" Er sah
Ûro und Schorsch an, die ihm gefolgt waren, erkannte in beider Augen
aber nur Unverständnis. "Bokoi würde wahrscheinlich einen Tempel
für Oulaguromaru sogar genau so aussehen lassen, wie den hier, zumindest
das Dach." Er zeigte auf das Bauwerk schräg hinter ihm. Doch dann
brach die ganze aufgestaute Wut aus ihm heraus: "Und das kann nicht
sein!" brüllte er. "Ein Aurogodolufo-Tempel genauso wie ein Oulaguromaru-Tempel?
Niemals!"
Mit dem letzten Wort schlug er mit der Faust
heftig - extrem heftig - gegen die Säule, an der er stand, die daraufhin
trotz ihres sicherlich beachtlichen Gewichts bedrohlich wackelte. Trotz
des gewaltigen Fausthiebs und harten Gesteins schien Ruydi keinerlei Schmerz
zu spüren, er sah wie gelähmt dem nun folgenden Schauspiel zu.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die
Säule sich dazu entschloss, der Schwerkraft nachzugeben und langsam
umzukippen. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig:
Während die erste Säule unter den
entsetzten Blicken des Trulls und seiner beiden Begleiter genau gegen den
Fuß der zweiten stieß und auch diese dadurch wiederum zu wanken
und schließlich zu kippen begann, kamen drei Ôrgs um jene (übrigens
auch außen stark abgerundete) Tempel-Ecke, die der zweiten Säule
am nächsten war.
"Vorsicht!" rief Ûro mit wedelnden Armen,
als er die Gefahr erkannt hatte; die drei Ôrgs schienen den Lärm
der ersten gefallenen Säule nicht bemerkt zu haben und wunderten sich
nur ein wenig über die staubige Luft. "Weg da!"
Die Drei erfassten die heikle Situation jedoch
zu spät und konnten der nun krachend und komischerweise sehr rasch
niederstürzenden zweiten Säule nicht mehr ausweichen.
Nachdem sich der Staub gelegt hatte, sah Schorsch
nach den Dreien, kam jedoch kopfschüttelnd mit betrübter Miene
zurück. "Nichts mehr zu machen..."
Schließlich fand auch Ûro wieder
aus der Schockstarre heraus. "Das waren ausgerechnet der Architekt und
die beiden Baumeister, die den Tempelbau geleitet haben... Was für
eine Tragödie!"
"Na, die Falschen hat's dann ja nicht erwischt",
meinte der Tswerg trocken, aber für die anderen kaum hörbar.
"Was... was machen wir jetzt...?" Ûro
wandte sich hilfesuchend um - doch Ruydi war spurlos verschwunden.
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