Der blaue Eisdrache von Tobias Wagner
Kapitel VII (1)
Die Krypta

Ma´zachur landete am Fuße des beschriebenen Berges. Ein Friedhof lag vor einem großen schwarzen Steintor. Dünner Nebel strich über den Boden.
"Ich hab mich schon mal wohler gefühlt!" bemerkte Sukita schaudernd.
Syn steckte den rostigen Schlüssel ins Tor, doch es wollte nicht so leicht aufgehen.
Mit aller Kraft drückte Ma´zachur mit der Schnauze gegen das Steintor.
Knarrend schwang es auf und gab ein schwarzes Loch frei.
"Ruft mich, wenn ihr zurück seid. Ich fliege in die Stadt!" sagte der blaue Eisdrache.
Syn und Sukita nickten. Mit Fackeln in den Händen traten sie ein.
Der Gang führte zuerst geradeaus, mit leichtem Gefälle abwärts.
Spinnennetze und Wurzeln hingen zwischen dem grauen Gemäuer.
"ACHTUNG!!" rief Sukita, aber da war es schon zu spät. Zehn Stahllanzen schossen links und rechts aus den Wänden und trafen sich in der Mitte des Ganges.
Syn blickte sich entsetzt um. Sie stand zwischen zwei Lanzen mitten in einem Hohlraum.
"Das war Glück!!" sagte Sukita. Jetzt sah Syn auch den Trittschalter am dunklen Felsboden, der bei Gewicht die Speere auslöste.
Syn hob den Fuß und die Speere glitten wieder zurück in die Wand.
"Du musst über den Schalter springen!" sagte Syn.
Sukita tat dies und als sie weiterlaufen wollte, entdeckte sie in einer dunklen Ecke ein Skelett.
Einer der Speerspitzen aus der Wand steckte noch zwischen den Rippen. Neben dem Skelett lag ein Lederbeutel, der offenbar mit goldenen Münzen gefüllt war.
Sukita entdeckte darin ein Buch, deren Wörter sie nicht entziffern konnte.
"Syn, kannst du diese Schrift lesen?" Syn nahm das Buch und las vor.

Tagebuch von Afrael Darkthorn.

Tag 1:
Seit Mittag bin ich nun schon hier unten. Dass ich noch lebe, ist nur meiner Wachsamkeit zu verdanken. Es stimmt, was die Legenden sagen. Allen Leuten hat man ihre Kostbarkeiten mit ins Grab gelegt. Leider kann ich nicht so viel tragen, und muss deshalb später wieder kommen.

Tag 2: 
Heute hat mich eine riesige Giftspinne gebissen. Ich sehe alles nur noch verschwommen und das Gold in meinem Beutel wird immer schwerer. Ein Skelett stieg aus dem Sarg neben der großen Statue. Ich weiß nicht, ob es eine Halluzination war, hervorgerufen durch das seltsame Spinnengift, oder ist die Krypta doch verflucht.

Tag 3:
Meine Vorräte gehen zu Ende und ich habe noch immer nicht den Ausgang gefunden. Stattdessen bin ich auf eine der Trittfallen mit den Speeren getreten. Ein Speer bohrte sich in meine rechte Seite und brach ab. Die Verletzung ist sicher tödlich und ich weiß nicht, ob mich jemals jemand findet, deshalb eine Warnung an alle die diese Zeilen hier irgendwann lesen:
"Haltet euch vom Gold der Toten fern, es ist verflucht!"

"Das war der letzte Eintrag." sagte Syn nach der Vorlesung. Ich schlage vor, wir suchen den heiligen Speer und dann raus hier."
"Haben dir die Drachen das Lesen beigebracht?" fragte Sukita.
Syn nickte. "Ja, Sabion war´s."
Die Gänge waren an manchen Stellen so flach, dass Syn und Sukita krabbeln mussten, an anderer Stelle waren Decke und Boden bis zu zehn Meter voneinander entfernt. Immer wieder gab es in der Wand neben ihnen Hohlräume, in denen jeweils ein Skelett lag. Meistens waren sie mit Spinnennetzen und Staub überzogen. Einige Tote trugen ihre wertvolle Rüstung und hielten ihre Waffe in den Knochenfingern.
Neben ihnen lagen oft Schatullen voll Schmuck, einige Geldsäckchen oder Edelsteine. Doch weder Syn noch Sukita wagten etwas davon mitzunehmen. Sukita stattdessen interessierte sich für die Schriftzeichen, die an Decke und Wänden eingemeißelt waren. Einige davon stellten buchstabenähnliche Zeichen dar, andere glichen kleinen Figuren und Gegenständen.
"Etwas davon kann ich lesen." sagte Syn und zeigte auf den Torbogen vor ihnen.
"Es bedeutet:
Wer hier die Toten ehrt, dem wird im Leben kein Unglück widerfahren."
"Diesen Satz hätten sich die da wohl besser merken sollen!" Sukita zeigte auf ein viereckiges Loch vor ihnen. Das Loch war etwa fünf Meter tief und am Boden mit Stacheln übersät. Jede der Stacheln war ein Meter hoch und sah verdammt spitz aus.
Auf einigen Stacheln hingen Skelette. Am Boden lagen Goldmünzen verstreut.
"Arme Schweine!" murmelte Syn.
Sie schlichen sich um das Loch herum und gingen weiter.
Dann kam ein enger Gang, der wohl einige hundert Meter lang und knapp zwei Meter breit und hoch war. Am Boden und an der Decke verlief parallel eine Eisenschiene den Gang hinunter. Auch hier lagen Skelette am Boden. Sukita wunderte sich nur, dass keines davon vollständig war. Die Knochen lagen mehr oder weniger verstreut durcheinander.
Plötzlich fiel hinter ihnen der Rückweg von einer Steintür zu. Stattdessen ging in einer Nische  neben ihnen eine Holztür auf. Sie war das Ende des langen, engen Ganges auf dieser Seite.
Jetzt erkannten die beiden, warum die Skelettknochen verstreut waren und warum diese merkwürdigen Metallschienen an Decke und Boden waren.

Eine große, dicke Eisenstange verlief von der oberen zur unteren Schiene. An der Eisenstange waren im Abstand von etwa 15 Zentimetern lange, gebogene Messerklingen mit Stacheln und Widerhaken angebracht.
Die Hexelstange begann plötzlich zu rotieren und der Schiene zu folgen, direkt auf Sukita und Syn zu.
"RENN!!!" brüllte Syn.
Beide rannten den Gang entlang, dicht hinter ihnen die rotierende Messerstange.

.
"So, das müsste jetzt funktionieren!" sagte Jens. 
Hinter der Schmiede auf einer großen Wiese, hatte er das Rohgerüst seines Triebwerks stehen.
Die Apparatur glich einem langen Zylinder, der etwa einen Meter groß war. An der Austrittsöffnung und im Innenbereich gab es diverse Verengungen, die den Verbrennungsdruck in die richtige Richtung lenken sollten.
Ein kleines Fläschchen Mana hing seitlich daneben. Von ihm ging ein kleiner Schlauch hinunter ins Triebwerk.
Inzwischen war es dunkel geworden und die Drachen sind zum Hort zurückgeflogen. Nur Ma´zachur war noch da.
"Jens bist du fertig für heute? Lass uns losfliegen."
"Ich will gerade noch schnell einen Testlauf durchführen, dann mach ich auch Feierabend."
Eine Fackel steckte im Gras hinter der Austrittsöffnung des Triebwerkes.
"Los geht’s! Ich öffne jetzt die Treibstoffzufuhr..."
Jens drehte den Quetschhahn unter dem Manafläschchen auf und blaue Flüssigkeit tropfte in die Brennkammer.
Sofort schoss eine kleine Stichflamme in das hintere Triebwerkende von der Fackel aus hinein. Das Rohr vibrierte.
"Scheint zu funktionieren." meinte der Drache.
"Ja, aber die Leistung muss noch etwas erhöht werden, sonst hat das Triebwerk nicht genug Schub, um mein Flugzeug zu schieben!" Jens drehte den Hahn weiter auf und hatte plötzlich den Ventilgriff in der Hand.
"Oh Kacke Mann, jetzt ist der Griff abgebrochen!" Doch bevor Jens den Schlauch von der Mana-Flasche ziehen konnte, war das Triebwerk mit samt dem Gerüst schon unterwegs.
Das Ding sauste außer Kontrolle in zehn Meter Höhe über die Stadt, wie eine Silvesterrakete ohne Leitstab.
Zuerst sah es aus, als ob die Apparatur ins hintere Stadtviertel knallte. Doch dann machte das Triebwerk einen Bogen und sauste über die Schlucht in den Wald.
Eine gewaltige Explosion folgte.
Jens, der inzwischen schon auf Ma´zachurs Rücken saß, meinte: "Naja, vielleicht klappt´s beim nächsten Mal."
Der Drache lachte laut.
"Ja, mach dich nur lustig!" meinte Jens, jetzt ebenfalls lachend.
Dann flogen sie zum Drachenhort.

.
Syn und Sukita rannten den Tunnel entlang.
Etwa fünf Meter hinter ihnen hörten sie das Geräusch von Klingen, die in der Luft rotierten.
"Der Fleischwolf hat uns gleich eingeholt, ich kann nicht mehr!!" japste Sukita.
Beide sprangen jeweils rechts und links in eine der Aushöhlungen in der Wand. Die Messerstange ratterte an ihnen vorbei, den Gang weiter entlang und kam am Ende zum stehen.
Sukita lag auf einem staubigen Skelett drauf. Eine Spinne krabbelte aus dem Totenschädel.
"Igitt, das ist ja ekelhaft!" kreischte sie und sprang aus der Nische.
Syn lachte. Sie hatte eine leere Nische erwischt.
"Man kann anhand der Fallen und Mordraffinessen schon erkennen, dass hier unten etwas ganz besonderes liegen muss." meinte Sukita. "Wie lange sind wir eigentlich schon hier unten umhergewandert?" fragte sie.
Syn zuckte mit den Schultern. "Schwer zu sagen. Man verliert leicht das Zeitgefühl in so einem Tunnelsystem. Legen wir uns besser mal schlafen. Heute finden wir den heiligen Speer nicht mehr."
Sie holte zwei Decken aus ihrem Rucksack und drückte die Fackel aus.
Dann legten sich beide in leeren Nischen in der Wand schlafen.

.
Ma´zachur kam mit Jens auf dem Rücken am Drachenhort an. In Pyrotakans Höhle strahlte ihnen beim Landeanflug schon ein gemütlich warmes Licht entgegen.
Pyrotakan saß mit Sabion im Heu und spielte ein Spiel. Es war ein Ratespiel. In der Mitte zwischen den beiden Drachen lag eine leuchtende Kristallkugel. Im Abstand von etwa zehn Sekunden wechselte sie die Farbe. Beide rieten, welche Farbe sie wohl als nächstes annimmt. Wer Recht hatte, bekam einen Punkt.
Sabion führte mit 23 Punkten.

"Ah, auch schon da?" fauchelte Pyrotakan.
"Ja. Aber Syn und Sukita sind noch in der Krypta. Ich kann keine gedankliche Verbindung zu ihnen aufnehmen, sie sind zu tief in der Erde," sagte der Eisdrache.
"Oder schon tot."
"Pyrotakan!" fauchte Sabion, "sag so was nicht. So leicht stirbt Syn nicht, dazu ist sie zu clever!"
"War nur´n Spaß!" entgegnete Pyrotakan.
"Kein besonders guter!" meinte Sabion.

Ma´zachur stieß Jens seine Schnauze in den Rücken und meinte: "Los, Jens, erzähl Pyrotakan
doch mal dein Gedicht, das du mir als Mensch vorgelesen hast."
"Du meinst "Thomas lernt fliegen", das ich dir am Flugplatz aufsagte?"
Der blaue Eisdrache nickte. "Genau das. Pyrotakan liebt Gedichte!"
"Ich hab aber kein Bock jetzt...!" stöhnte Jens.
"Tu´s mir zuliebe," sagte Pyrotakan mit überraschend sanfter Stimme, "so wie gestern, das war doch lustig!"
"Na schön, mal sehen, ob ich das noch auswendig weiß...

Wem der Gedanke ist zu eigen,
"Es ist doch einfach in die Luft zu steigen",
der kennt noch den alten Grundsatz nicht
von Theorie und Unterricht..."

Während Jens Pyrotakan das Gedicht aufsagte, der amüsiert zuhörte, bildete sich vor der Höhle eine kleine grünschwarze Rauchwolke.
Darin materialisierte sich ein `Suchender`.
Dieser schlich sich an den Höhleneingang heran. Irgend ein langes Teil hatte er unter seinem Umhang versteckt. Er schlich sich in die Höhle herein, direkt auf Ma´zachur zu.
Dieser merkte es aber nicht, sondern hörte Jens zu:

"...Dann lässt er Thomas wie im Traum
die Arme seitwärts breiten,
und völlig blind den Praxisraum
als Seiltänzer durchschreiten.

Der Doktor sagt: "Auf diese Tour
will ich ihnen bloß erklären,
welch jämmerlich traurige Figur
sie wohl beim Blindflug wären !!!

Manch Jüngling, der im Geiste schon
als "Vollblutflieger" sich gebärdet,
wurde durch die Musterungsinspektion
mit " T 5  - untauglich " entwertet!

Denn es gilt nicht nur, die Tauglichkeit
von heute zu ergründen,
auch Makel der Vergangenheit
sind hier herauszufinden.

Drum nehmen sie dies Formular
um darin einzutragen,
wie ihr Gesundheitszustand war
seit frühen Kindheitstagen.

Die Seelenkrämpfe aller Art
Bettnässen und Neurosen,
und was sonst noch alles aufgespart
an Schwächen und Psychosen!"

Der Doktor meint mit leichtem Groll:
"Sie müssen sich bescheiden,
jetzt Nikotin und Alkohol
und Weiblichkeit vermeiden..."

Der `Suchende` schlich sich immer näher. Jetzt war auch zu erkennen, was er unter dem Umhang hatte. Es war ein langes, gläsernes Rohr. Darin waren viele kleine Fläschchen, die mit Manaflüssigkeit gefüllt waren. Am oberen Ende des Glasrohres war eine dünne, grüne Zündschnur, die schon glimmte.
Jetzt schob der `Suchende´ das Glasrohr direkt hinter Ma´zachur ins Heu.

"...Staurohr auf, die Haube dicht
den Fallschirm NICHT vergessen,
und außerdem versäume nicht
Benzin und Öl zu messen!

Zündung an, Benzinhahn auf
die Latte zweimal drehen,
so müsste dann der Probelauf 
an sich vonstatten gehn´

Um Ruderdruck und Lastigkeit
entsprechend abzustimmen..."
empfiehlt es sich, von Zeit zu Zeit -"

Pyrotakan hob den Kopf und meinte plötzlich: "Hier riecht es nach Feuer!"
"Ich rieche nichts." meinte Jens.
"Du bist auch kein Drache! Aber ich rieche Rauch zehn Kilometer gegen den Wind, und hier raucht es irgendwo in der Höhle. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer!"
Jens sah, wie hinter Ma´zachurs Schwanz ein kleines Rauchwölkchen aufstieg. Er holte das versteckte Glasrohr aus dem Heu.
"Eine Manabombe!" fauchte Pyrotakan. Jetzt entdeckte er auch den `Suchenden`, der sich zur Höhle rausschlich.
"Verdammtes Schnüffelpack, den schnapp ich mir!" Pyrotakan stieß einen Feuerstrahl auf den `Suchenden`, doch kurz bevor dieser ihn erreichte, verschwand er in einer Rauchwolke.
Jens schleuderte die Mana-Bombe mit einem kräftigen Wurf aus der Höhle hinaus in den Nachthimmel.
Die Bombe flog den Berg hinunter in den See. Sie detonierte unter Wasser und setzte ringförmig eine Flutwelle von etwa zwei Metern Höhe frei.
"Das war knapp! Diese verdammten Terroristen!" fluchte Pyrotakan. "Damit hätte man den halben Berg wegsprengen können!" Die Welle rauschte noch fünfzig Meter weit in den Wald.
"Jetzt siehst du, wie viel Kraft in diesem blauen Stoff steckt!" sagte Pyrotakan zu Ma´zachur.
 

Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!


Und schon geht es hier weiter zum 7. Kapitel (2.Teil): Die Krypta (2)

.
www.drachental.de