Dracania von Tobias Wagner
IX
Rettungsaktion

Die Nacht brach herein.
Während die Drachen auf dem Plateau warteten, kletterten Rafael, Elsyria, Akarian und Mirinur den Felshang hinunter. Ein großes Feld lag vor dem Tor. Überall lagen Skelette, Schwerter, Schilde, Lanzen und ähnliches verteilt herum.
"Hier beginnt das Minenfeld!" flüsterte Akarian. "Wir kriechen jetzt hintereinander, wie eine Schlange."
Akarian fuhr im Winkel mit seiner Schwertklinge vorsichtig durch den Sand. Immer, wenn er eine Miene berührte, schlängelten sie sich in einem Bogen drum herum.
Nach etwa einer halben Stunde hatten sie die Mauer erreicht. Vor ihr war ein Zaun, der vollgespickt mit Granaten und Stromdrähten war.
"Wir buddeln uns drunter hindurch." sagte Rafael, der schon eifrig am graben war.
Ta´Rakan kaute nervös an seinen Krallen herum, während Rake und Mondkralle die Festung nicht eine Sekunde aus den Augen ließen. Draku flog, und hielt von oben Ausschau (in gebührendem Abstand von den Türmen). Seine scharfen Drachenaugen erkannten Elsyria, Rafael, Akarian und Mirinur, wie sie gerade unter dem Zaun hindurchschlüpften und die Todeszone überquerten.
Zwei Transportfahrzeuge rollten ans Haupttor.
"Wir springen bei dem hinteren auf!" rief Mirinur.
Als es soweit war, sprangen sie hinter ihm auf die Straße und hüpften nacheinander hinten auf die Ladefläche. Zwei Goblins saßen hinten drin. Als sie die Drachenreiter erkannten, wollte der rechte von ihnen sein Ork-Schwert ziehen. Doch dazu lebte er nicht lange genug. Akarian schlug ihm mit einer lässigen Bewegung den Kopf von den Schultern, der dann sogleich hinten von der Ladepritsche rollte.
Der zweite ging auf Akarian los. "DU BASTARD!!" zischte er. Dann war er plötzlich auch still.
Er klappte in zwei Hälften auseinander und Mirinur putzte das schwarze Blut von seinem Schwert. "Na endlich – jetzt ist Ruhe!" sagte er.
Die Fahrer vorne hatten anscheinend nichts gemerkt.
Rafael öffnete eine der Kisten, die hinten drin standen. Sie waren alle randvoll mit magischen Zielsuchprojektilen, die auf Infrarottechnik basierten. Magische Stabgeschosse, mit der Durchschlagskraft einer Panzerfaust, und dann noch jede Menge kleinerer Zauberstabgeschosse. Rafael steckte sich einen ein.

"OK, ab jetzt trennen sich unsere Wege!" sagte Mirinur. "Das Verlies liegt hinter den Schlossmauern. Wir befreien die Gefangenen und ihr zwei besorgt den Drachenstein!"
Rafael und Elsyria nickten.
Mirinur und Akarian sprangen von der Pritsche ab und schlichen rasch zur Burg. Rafael und Elsyria fuhren noch ein paar Minuten mit, bis sie den Turm aus dem Seitenfenster des Lastwagens direkt vor sich sahen.
"JETZT!" rief Elsyria und sprang mit Rafael ab. Sie landeten zwischen ein paar Kisten. "Los jetzt, wir müssen auf diesen Turm!" sagte Elsyria.

Dass plötzlich wieder ein Kopf über die Straße rollte, lag daran, dass Akarian und Mirinur an zwei Goblinwachen vorbeikamen, die sich so ganz und gar nicht freuten, dass zwei Drachenreiter einfach so ihren Schlosskerker betreten wollten. Doch sie hatten zwei Profischwertkämpfern nichts entgegenzusetzen. Ein matschiges Geräusch wies darauf hin, dass auch der zweite Goblin die Drachenreiter "passieren" lassen musste.
Akarian und Mirinur schlichen sich eine lange Wendeltreppe runter ins Verlies. Fackeln waren in Zweierreihe an den Wänden montiert und warfen ein unheimliches, flackerndes Licht auf einen sich erstreckenden Gang. Halb verfaulte Skelette, die noch immer angekettet waren, wiesen darauf hin, dass man als Gefangener leicht in das Verlies kam, aber nie wieder raus.
Verzweiflungsschreie hallten wie ein Echo durch das Labyrinth der Gänge und Abzweigungen. Mirinur kratzte in regelmäßigen Abständen einige Zeichen an die Wand, um später den Rückweg zu erleichtern. Dann kam plötzlich der Zellenblock und die Drachenreiter klopften an das Gitter. Mirinur mit seinem Schwert:

*Klong*

nichts...

*Klong* *Klong*

Eine verwahrloste Gestalt schleppte sich an das Gitter. "Verpiss dich, Goblin !" brüllte er.
"Hey, hey, bleib mal cool, Fritz! Wir kommen, um euch zu helfen, wir sind Drachenreiter und mit Rafael und Elsyria zusammen hier, um dieses Mistschwein zu beseitigen."
"Rafael und Elsyria leben noch?" fragte die Gestalt.
"Ich wusste es, dass sie noch leben." Eine zweite Gestalt trat ans Gitter. "Ich bin Thomas. Rafael und Elsyria sind unsere Flugschüler und seit unserer Gefangennahme verschwunden. Man sagte uns, dass sie tot seien, aber ich hatte nie daran gezweifelt!"
Jochen, Peter, Michael, Shark Dixon und Lucas Miles – alle waren sie da.
Während Akarian die Gittertür aufbrach, sagte er: "Wir können uns ja später noch darüber unterhalten. Aber zuerst müssen wir sehen, dass wir hier wegkommen. Rafael und Elsyria sind schon auf dem Weg zum Flugzeugwrack, das Nemesar in die Festung hat schleppen lassen. Rafael hatte einen Plan..."

Elsyria und Rafael waren inzwischen am Flugzeugwrack. Sie kletterten hinten durch die Ladeluke in den Frachtraum.
"Die Fallschirme und das Ultraleichtflugzeug befinden sich im Nebenraum, aber da braucht man ein Passwort, um die Tür zu öffnen." Rafael drückte auf die Tasten über dem Schloss.

*1978*
- no access 

"Na Super! Sollen wir jetzt Lotto spielen, bis wir die richtige Kombination haben?"
Rafael sagte: "Ich hab die Kombination beim Einladen in Gründorf schon mal gehört. Thomas sagte sie dem Copilot."
"Denke daran, wenn du sie dreimal falsch eingibst, verriegelt das Schloss automatisch!" sagte Elsyria besorgt.
"Es war ein Geburtsjahr von jemandem an Bord, das weiß ich genau!" Rafael gab das Geburtsjahr von Thomas ein:

*1982*
- no access

"Das Geburtsjahr von dem Pilot – jetzt weiß ich’s wieder!" Rafael gab ein:

*1979*
Und auf dem Display blinkte plötzlich zweimal:  *RECOGNIZED* *

Das Schloss entriegelte, und die Tür öffnete sich.
"Jeah – Glück gehabt!" rief Rafael und ging hinein in den Nebenraum. Er legte sich den Fallschirm um und gab auch Elsyria einen. Dann öffnete er die Seitenluke per Handkurbel, weil die Hydraulik hin war.
"Das Ultraleichtflugzeug bauen wir zusammen, damit die anderen damit starten können." sagte Elsyria.
Das ULF basierte auf der Form der "Entenflugzeuge". Diese hatten die Haupttragflächen am hinteren Ende des Flugkörpers und bestanden hauptsächlich aus einem fiberglasverstärktem Kohlenstofffasergewebe. Leichter als Aluminium, belastbarer als Stahl. Der Vorteil: leicht und agil*. Und bei ausgeschaltetem Motor konnte im Gleitflug mit einem Winkel von ca. 1:25 geflogen werden.
Rafael hinterließ einen Zettel auf der Plexiglasscheibe und legte seinen Rucksack mit dem Laptop und den anderen Sachen hinten rein. Nur die Leuchtpistole und einige Signalpatronen nahm er mit. Sein Schwert und das magische Stabgeschoss nahm er ebenfalls mit. Elsyria hatte Probleme mit dem Fallschirmgurtzeug, doch Rafael half ihr und so schlichen sie zum Turm.
Einige Wachen saßen vor dem Eingang, bemerkten sie aber nicht, als sie reinhuschten, da sie in eine andere Richtung sahen. Zudem war es plötzlich ziemlich neblig geworden.
"Gib jetzt nicht so an mit deinem neuen Zauber!" sagte Elsyria.
Im Innern des Turmes erhob sich eine riesige Wendeltreppe, bis ganz nach oben. An der Wand ging sie kreiselförmig nach oben und Elsyria stöhnte:
"Wenigstens einen Fahrstuhl hätte er einbauen können!"
Rafael grinste. Doch sie mussten wohl oder übel zu Fuß gehen.

Akarian und Mirinur schlichen voran, als sie aus dem Kerker türmten. Den selben Weg zurück, den sie gekommen waren, gingen sie. Akarian machte mit einem Zauberspruch die Markierung an der Wand wieder sichtbar, die er extra hatte verschwinden lassen, falls ein Goblin zufällig vorbeigekommen wäre. Im Abstand folgten ihnen Shark Dixon, Lucas Miles, Jochen, Thomas Michael und Peter. Die Drachenreiter kannten den Plan und wollten sie zum Flugzeugwrack bringen. Einige Goblins standen plötzlich im Gang.
"PACKT SIE!!" grunzte der erste. Der zweite schoss Miles mit einer Armbrust ins Bein.
Er schrie. Akarian zog sein Schwert und spaltete dem Goblinschützen buchstäblich den Schädel. Der dritte wollte auf Shark Dixon mit einem Dolch losgehen, doch er wich ihm geschickt aus und trat ihn (an eine Stelle, wo es wirklich weh tat). Dann schlitzte er ihn mit Akarians zweitem Schwert auf.
"Man sollte dich ab jetzt "Goblin-slayer" nennen, Dixon" sagte Jochen grinsend.
Der erste Goblin rannte davon.
"Oh Scheiße, wir müssen ihn schnappen, bevor er die anderen warnt!" rief Akarian, doch Miriur sagte: "Es ist zu spät, wir bringen euch jetzt schnell zum Flugzeug!"
Mirinur rief über seine Gedanken die Drachen.
"Es geht los!" brüllte Mondkralle. Sie sprangen nacheinander vom Plateau und flogen zur Festung.

Rafael und Elsyria waren inzwischen oben angekommen. Eine große Flügeltür öffnete sich wie von Geisterhand. Rafael zog sein Schwert, Elsyria nahm das Zauberstabgeschoss von Rafael. In der Mitte des Raumes (der riesig war) stand ein Metallgerüst, und obendrauf lag der Drachenstein.
"Da ist er, der dritte Stein!" sagte Rafael und wollte ihn holen. Doch Elsyria packte ihn am Arm.
"Warte mal, nicht so schnell. Die Sache hat doch todsicher einen Haken!"
Rafael sah das glänzende Gerüst mit den Metallverstrebungen misstrauisch an. Er nahm von einem Kerzenständer eine Kerze und warf sie auf das Gerüst. Elsyria hatte recht.
Plötzlich schoss ein Blitz heraus und traf die Kerze im Flug. Rafael und Elsyria staunten, als die Kerze in Form von flüssigem Wachs an die Wand spritzte. Plötzlich trat Nemesar hinter einem Vorhang hervor.
Elsyria flüsterte zu Rafael: "Ich bereite mal unseren 'Abgang' vor!"
Er nickte und gab Elsyria seinen Fallschirm. Dann rannte sie aus dem Raum.
"Siehst du, deine Schwester weiß, wann man lieber aufgeben soll!" sagte Nemesar. Sein Umhang schleifte hinterher, als er durch den Raum um Rafael herum schlich.
"Wieso willst du unsere Welt zerstören?" fragte Rafael und bereute sogleich seine Frage, denn Nemesar feuerte mit einer Handbewegung eine Lichtkugel auf ihn. Doch er duckte sich und sie riss ein zwei Meter breites Loch in die Wand hinter ihm. Rafael konnte durch das Loch direkt runter in den Burghof blicken. Er sah Nemesars Armee in Stellung und fertig zum Aufbruch.
"Das kann dir scheißegal sein, bald seid ihr eh alle tot!" brüllte Nemesar. "Ich habe lange daran gearbeitet, um meinen Plan zu verwirklichen. Die Menschen auf der Erde glauben nicht mehr an Magie und das verschafft mir einen großen strategischen Vorteil. Bis die Regierungen geschnallt haben was läuft, habe ich schon halb Europa erobert. Ich werde mit meinen Geheimwaffen und mit meiner Goblinarmee morgen früh in eurer Welt einmarschieren. Glaubst du, du kannst meine Entscheidung mit deinem Geplapper einfach so umpolen? Wer sich nicht unterwirft, muss sterben!"
Nemesars Stimme überschlug sich fast, doch Rafael sagte: "Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst? Wir hatten in unserem Land schon mal so einen Diktator, der mit seiner menschenrechtsfeindlichen Ideologie die Welt in Brand setzen wollte! Millionen von Toten waren zu beklagen - gebracht hat es nichts."
"Halt die Klappe!!" brüllte Nemesar. "Genug geredet, STIRB!" Er feuerte weitere Blitze auf Rafael ab, der ihnen aber jedes Mal auswich.
Dann zog Rafael seinen Stab und erwiderte das magische Feuer. Er traf Nemesar und es fegte ihn von den Füßen. Dann schoss Rafael auf den Drachenstein. Das Metallgerüst zerbrach und der Drachenstein rollte über den Boden. Rafael reagierte sofort und schnappte sich ihn.
Nemesar rappelte sich wieder auf. 
"Dafür wirst du langsam sterben, kleiner Drachenreiter!" zischte er.
Rafael rannte aus dem Raum und kletterte die Leiter hoch auf das kugelförmige Dach. Elsyria hatte inzwischen auf der riesigen Kuppel schon die Gleitschirme ausgepackt und zurechtgelegt.

"Falsche Hoffnungen sind gefährlicher als falsche Ängste." Dieser Satz schoss Thomas immer wieder durch den Kopf. Er war mit den Drachenreitern und den anderen inzwischen am Flugzeugwrack angekommen und las den Zettel an der ULF Windschutzscheibe.

"Hallo Leute. Ich weiß nicht, wie viele von euch noch am Leben sind, aber ihr müsst mit dem Ultraleichtflugzeug, das Elsyria und ich zusammengebaut haben, schnell fliehen. Wir kommen mit den Gleitschirmen hinterher. Folgt den Drachenreitern, sie suchen nach der Flucht einen sicheren Landeplatz (Schloss Lanciata...)
Gruss Elsyria und Rafael

PS.: Nehmt euch vor den Abwehrtürmen in Acht. 
Holm & Rippenbruch !!!!!"

"So, also los geht’s!" rief Thomas. "Das ULF hat nur vier Sitzplätze. Also müssen wir enger zusammenrücken, dann passen wir alle rein!" Thomas ließ noch etwas Benzin ab, damit das Ultraleichtflugzeug die zulässige Höchstgewichtladung nicht ganz so extrem übertrat. Zwei Rollen PVC* und andere Kunststoffsachen, die noch drin lagen, warf er raus. "Je leichter desto besser!"
Er blickte beim Einsteigen besorgt auf den Schlosshof. "Wieder mal ein Kavalierstart, na toll!" sagte er. "Wie kommt ihr hier weg?"
Akarian und Mirinur zeigten auf ihre Drachen, die gerade Feuerkugeln auf die Türme spuckten. "Wir werden 'abgeholt'" sagte Akarian.
Dann warf Thomas den Motor am ULF an und sie rollten los.

*
recognized
= engl. "erkannt"
agil = flink, beweglich
PVC = Polyvinylchlorid  (ein Kunststoff)

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Und schon geht's weiter zum 10. Kapitel: Flucht

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