Der erste König von Yador von Dorte Schünecke

   Es war nur noch eine Woche bis Mittsommer, und das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite mit angenehmer Wärme und viel Sonne. Der ewige Wind blies zwar von Osten über die Klippen und Grasflächen und brachte das Meer so sehr zum Schäumen, daß die Boote nicht zum Fischen fahren konnten und die Mondinsel nur schwer und bei Ebbe zu erreichen war. Doch so sehr das Meer auch tobte, die Sonne erwärmte die Luft, so daß Taveli, der Schafhirte, seinen Wollumhang zum Mittagessen abgelegt hatte und nun in der warmen Sonne saß, sein Brot mit Schafskäse genoß und dazu frisch gemolkene Milch aus seiner Schäferflasche trank.
   Er blinzelte in das helle Licht am Himmel und ließ sich den Wind durch das blonde Haar streichen. In der Luft lag Salz und der Geruch von angeschwemmtem Tang, eine Ahnung des offenen Meeres jenseits der Mondinsel, die nur durch einen schmalen Meeresarm vom Festland Yadors getrennt wurde. Dort war Taveli noch nie gewesen. Er hatte zwar auf seinen Wanderungen ganz Yador durchquert, aber er hatte noch nie einen Fuß auf einen Ozeankreuzer gesetzt.
   Eine Bewegung am Fuß des Hügels, den er für den heutigen Tag für die Schafe zum Grasen ausgewählt hatte, ließ ihn etwas wacher werden. Es war keiner der Hunde, denn die lagen japsend neben ihm und warteten auf ein Stückchen Brot oder einen Happen Käse.
   Taveli richtete sich auf und korkte die Flasche mit der Milch zu. Den Rest würde er später trinken.
Die Gestalt, die mittlerweile den Hügel emporgeklettert war, ließ sich keuchend neben ihn auf das graugrüne drahtige Gras sinken. Es war ein kleiner zierlicher Junge von etwa zehn Jahren mit schwarzem, zerzaustem Haar, das ein beinahe weißes Gesicht umrahmte.
   Taveli schaute den Jungen an und lächelte. „Na, Rian, hast du denn gar nichts zu tun?"
„Und du, sollst du nicht Schafe hüten statt zu faulenzen?" gab eine leise, schüchterne Stimme zurück, begleitet von einem abwesenden Lächeln. Die dunklen Augen blickten Taveli nicht an. Sie schienen nirgendwo hinzublicken, als sähen sie nicht die wirkliche Welt, sondern etwas anderes, als sei Rians Blick irgendwo im Nichts hängengeblieben.
   Als Taveli ihn zum ersten Mal getroffen hatte, hatte ihn der Junge verwirrt. Er hatte ihn für eines jener Kinder gehalten, die ihr ganzes Leben lang Kinder bleiben und deren Verstand nicht die Wege normaler Menschen beschreitet. In gewisser Weise traf das auch zu, so hatte er mittlerweile herausgefunden, aber in ganz anderer Weise, als er es gewohnt war.
   Er brach ein Stück Brot ab und reichte es dem Jungen, der es gedankenverloren aufknabberte. Besser seltsame Gesellschaft als gar keine. Schafehüten zählte nicht gerade zu den aufregendsten und abwechslungsreichsten Tätigkeiten, aber Taveli war froh, sich damit einen Schlafplatz und Essen verdienen zu können.
   „Also, Rian, was führt dich zu mir?" fragte er daher in der Hoffnung auf ein Gespräch mit einem menschlichen Wesen.
   „Der Ostwind", murmelte Rian und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
   „Soso, der Ostwind." Taveli mußte grinsen. Unterhaltungen mit Rian wurden oft ziemlich interessant. Irgendwie kam man sich immer vor, als würde man gerade mit einem der Seher aus den längst vergangenen Tagen reden, da paßten die Antworten auch nie zu den Fragen, wenn man den Märchen Glauben schenken konnte. „Und warum schickt dich der Ostwind zu mir?"
   Der Junge blickte ihn aus seinen schwarzen Augen an, die viel zu alt für sein Kindergesicht waren. „Er hat mich nicht geschickt", antwortete er ruhig, wie ein Erwachsener, der ein Kind darüber belehrt, daß es gerade Unsinn geredet hat.
   Taveli schmunzelte. „Magst du Milch?" fragte er dann und hielt Rian die Flasche entgegen. Er nahm sie langsam und nachdenklich in die Hand, starrte eine kleine Weile darauf und zog schließlich den Korken heraus, als sei es ein heiliger Akt. Dann trank er ein paar Schlucke und gab die Flasche zurück.
   „Was machst du hier oben?" fragte er, als er sich den Milchbart vom Gesicht wischte.
   Taveli dachte kurz über die Antwort nach. Sicher wollte Rian nicht hören, daß er Schafe hütete. Der Junge war seltsam, aber nicht dumm. Also antwortete er: „Ich höre dem Wind zu."
   „Was sagt er?" Die Frage war vollkommen ernsthaft.
   „Nun, er erzählt mir, wo er heute schon überall war und was er gesehen hat."
   „Und wo war er?"
   Der Schafhirte lehnte sich gegen einen der Felsen, die verstreut auf dem Hügel standen. „Also, er ist heute morgen auf den Ostinseln aufgestanden. Wo, hat er mir nicht gesagt - vielleicht auf Aylinn, vielleicht woanders. Er hat sich mit ein paar Walen unterhalten und sich dann auf den Weg zur Mondinsel gemacht, wo er der Herrin Geheimnisse entlockt hat. Und dann kam er her, um sich etwas bei mir auszuruhen und sich mit mir zu unterhalten."
   Rian runzelte die Stirn und sah an Taveli vorbei ins Gras. „Du spinnst", meinte er geduldig mit seiner kleinen Stimme, um dann aufzustehen und einen Grashüpfer aus den grüngrauen Wogen zu fangen, nur, um ihn gleich danach wieder fortspringen zu lassen.
   Dann, urplötzlich, wandte er sich um und starrte Taveli direkt in die Augen, so überraschend, daß der Schafhirte vor Schreck die Milchflasche fallen ließ, die er noch immer in der Hand hielt. „Feyadh sagt, du bist ein Nachkomme der Könige von Yador", sagte Rian so leise, daß der Wind seine Worte eigentlich hätte verschlucken müssen, was er aber nicht tat.
   „Naja", antwortete Taveli mit einem Lächeln, „aber das ist lange her, daß wir Könige in Yador hatten."
   „Wie lange?"
   „Jahrtausende."
   „Oh." Die dunklen Augen wandten sich nachdenklich ab und streiften ziellos umher. Dann ging Rian auf Taveli zu, setzte sich neben ihn und lehnte sich wie er gegen den Felsen. „Ich will auch mal ein Wandernder wie du werden", sagte er dann zögernd.
   Taveli lachte. „Warum denn das? Das mußt du doch gar nicht! Deine Tante hat doch den Hof und die Tiere. Du bist doch kein landloser armer Schlucker wie ich, der durch die Welt zieht und Schafe hütet oder Geschichten erzählt."
   „Aber das tust du doch gerne."
   „Ja, das tu ich gerne."
   „Na, siehst du!" Für einen kurzen Augenblick huschte ein Lächeln über das sonst meist ausdruckslose Gesicht des Jungen. „Ich würde das auch gerne tun. Einfach umherwandern, mal hier, mal da..."
   „Und kein Zuhause haben?" fragte Taveli skeptisch. „Das ist nämlich schade, wenn man nie nach Hause kommen kann."
   „Doch, ein Zuhause hätte ich schon", antwortete Rian auf seine bedächtige Art, „und mein Vater würde da auch wohnen und mein Bruder, und ab und zu würde ich nach Hause gehen und mich ausruhen und mit ihnen spielen."
   Interessiert beugte sich Taveli vor. „Ich wußte gar nicht, daß du einen Bruder hast!"
   Die einzige Antwort, die er bekam, war ein stummer Blick aus großen, schwarzen Augen. 
   Taveli wußte nichts über Rian, jedenfalls nicht mehr als die anderen Einwohner Kar-Njalls mit Ausnahme der Leute vom Mittelhof. Man wußte nur, daß sein Vater ihn vor zwei Jahren bei der Frau des Mittelhofbauers abgegeben hatte, die, so munkelte man, die Schwester von Rians toter Mutter war. Seitdem lebte Rian auf dem Mittelhof wie eines der Kinder der Bauern, und er sprach nie über seinen Vater. Er sprach überhaupt selten mit irgendjemandem.
   Letzten Herbst nun war Taveli nach Kar-Njall gekommen auf der Suche nach einem Winterquartier. Die Leute aus Kar-Njall hatten ihm einen Platz in der großen gemeinsamen Scheune angeboten und ihn gut mit Essen versorgt, und so hatte er sich im Frühjahr dafür entschieden, zu bleiben und die Schafe zu hüten. 
   Er mochte die Menschen hier in Kar-Njall. Sie waren so anders als die mißtrauischen Menschen in der Brückenstadt oder die schlecht gelaunten in Kar-Siona oder die leichtfertigen in Algath. Seltsam wie Menschen aus Ostyador, diesen Spruch hatte er auf seinen Reisen oft genug gehört. Sie hätten zuviel mit Elfen zu tun, munkelte man, das sei nicht gut für den Verstand, und deswegen seien sie alle etwas eigenartig.
   Etwas besonderes waren sie auf jeden Fall: freundlich, musikalisch und meist guter Laune. Aber das mußte nicht an den Elfen liegen. Das konnte auch einfach an der Abgeschiedenheit liegen, und daran, daß nur so wenige Menschen in den fünf Höfen Kar-Njalls lebten. Die beiden Südhöfe standen momentan leer, und im Nordwesthof lebte nur ein neu zugezogenes Paar mit zwei Kindern. Insgesamt gab es dreiundzwanzig Menschen in Kar-Njall, denn es gab außer Taveli keine Dienstleute. 
   Von diesen dreiundzwanzig Menschen hatte mindestens die Hälfte elfisches Blut. Die Bäuerin des Mittelhofs war eine reinblütige Waldelfin, und Rian mußte auch Elfenblut haben, wenn sie seine Tante war. Aber er sah eher so aus wie die Steinelfen aus den Legenden. Vielleicht hatte er wirklich Steinelfenblut, das wäre wirklich etwas Besonderes. Taveli hatte den Bauern vom Mittelhof danach gefragt, aber der hatte nur gelächelt.
   Tavelis Blick strich über die Schafherde. Die Tiere grasten ruhig und träge, nur die Lämmer von diesem Frühjahr sprangen munter umher und verunsicherten die vier großen Hunde aus Kar-Njall, die Taveli bei seiner Arbeit halfen. Im Osten grummelte das Meer unter den Peitschenhieben des Windes, und jenseits davon lag die Mondinsel im Dunst der aufsprühenden Wassertropfen, die von der Sonne stellenweise in Regenbogen verwandelt wurden.
   „Freust du dich schon aufs Mittsommerfest?" fragte Taveli und wickelte das letzte Stück Käse aus dem Tuch, das Rians Tante ihm reichlich mit Essen gefüllt hatte, bevor er am Morgen aufgebrochen war.
   „Ja, denke schon", murmelte Rian, aber seine Augen funkelten aufgeregt.
   „Kommen denn Gäste, oder feiert das Dorf unter sich?"
   Rian legte den Kopf schief und schaute den blonden Mann listig an, so daß er aussah wie eine kecke Dohle. „Was denkst denn du?" fragte er zurück.
   Taveli zuckte mit den Schultern. „Vielleicht kommen ja Leute von der Mondinsel rüber", meinte er.
   „Vielleicht. Vielleicht feiern die aber auch in der Bardenschule."
   „Ja, vielleicht", lächelte Taveli. „Also, nun heraus damit. Keine Geheimnistuerei. Wer kommt? Elfen?"
   „Kann sein. Aber meistens gehen wir zu ihnen. Ihre Feste sind schöner als unsere."
   Taveli beugte sich überrascht vor. „Ihr geht zu den Elfen? Ins Elfenland?" Der Junge nickte. „Aber kein Sterblicher darf ins Elfenland gehen!" rief Taveli aus.
   „Elfen sind auch sterblich, und die wohnen da sogar", gab Rian zurück.
   Der Schafhirte schüttelte den Kopf. „Ihr seid ein komisches Völkchen hier im Osten", murmelte er. „Mal eben ins Andere Land gehen, als sei das nichts Besonderes!"
   „Ich bin da aufgewachsen", murmelte Rian.
   Taveli starrte ihn an, aber der Junge schaute nur vor sich hin ins Nichts, und beinahe schien es, als hätte er die Anwesenheit des Schafhirten beinahe vergessen.
   „Im Elfenland?" entfuhr es ihm ungläubig.
   „Nein... nicht im Elfenland." Rians Blick wurde wieder schärfer und er schaute Taveli nachdenklich an. „Erzählst du mir eine Geschichte?" fragte er dann unvermittelt.
   „Eine Geschichte. Was denn für eine Geschichte?"
   „Eine alte. Über Könige und Geister und so."
   „Ein Märchen also."
   „Sie darf auch wahr sein. Hauptsache, es gibt Könige oder schöne Prinzessinnen oder Geister oder Drachen oder so."
   „Gut", sagte Taveli, nahm den Wollumhang und faltete ihn zusammen, damit er als Rückenstütze dienen konnte, „eine Geschichte mit irgendsolchen Sachen also. Kennst du die Geschichte, wie der erste König von Yador König von Yador wurde?"
   Rian schüttelte den Kopf.
   „Ach ja, die Geschichte kennt man heute kaum noch. Aber meine Familie, die kennt die. Ist ja unsere Geschichte, nicht wahr? Sitzt du bequem? Gut.
   Vor ganz langer Zeit gab es in Yador noch keine Menschen. Sicher, ab und zu kamen mal Elfen aus dem Elfenland vorbei, um sich die wirkliche Welt anzusehen, aber sie lebten nicht wirklich hier. Aber auf den Ostinseln lebten Menschen, Menschen wie ich."
   „Blonde Shedali", sagte Rian.
   „Genau. Und irgendwann beschlossen diese Menschen, daß es im Westen doch auch Land geben müßte. Also bauten sie ein paar große Schiffe, und die mutigsten unter ihnen machten sich auf den Weg - oder besser, auf die Wellen - und kamen irgendwann irgendwo hier an der Ostküste an. Vielleicht sogar genau hier bei Kar-Njall, aber ich denke, es war weiter im Süden, wo es Strände gibt statt der Steilküste hier.
   Sie bauten also ihre ersten Hütten und fingen an, es sich gemütlich zu machen. Weil es so viele Bäche und Teiche gab, nannten sie das Land Yadn’anor, das Wasserland, und im Laufe der Zeit - weil Menschen faul sind und das Wort zu lang war - ist daraus der Name Yador geworden.
   Jedenfalls besiedelten sie immer mehr Land. Und irgendwann stellte man fest, daß man sich kaum noch kannte und auch ganz selten traf, denn zu den Things kamen nur noch die, die in der Nähe wohnten, weil für die anderen der Weg zu weit und beschwerlich war. Da beschloß man, daß es einen geben müßte, der die Geschehnisse im Blick haben müßte. Also machte man sich auf der Suche nach einem König.
   Den Visha, den großen Geistern der Welt, blieb dies natürlich nicht verborgen, und sie machten sich Sorgen, was ein schlechter König so alles mit dem Land anstellen könnte. Also beschlossen sie, die Königswahl zu überwachen.
   Schließlich hatten die Menschen drei Männer ausgewählt, denen sie es zutrauten, König zu sein. Aber man konnte sich nicht einigen, welchen man nehmen sollte. Also trafen sich alle, die kommen konnten, beim Thing und versuchten, eine Lösung für das Problem zu finden.
   Und da fanden die Visha, daß der richtige Zeitpunkt gekommen war, einen König zu bestimmen. Bist du noch wach?" fragte Taveli, da Rian sich auf dem Gras zusammengeringelt hatte und mit geschlossenen Augen ruhig dalag.
   „Ja, ich hör zu."
   „Gut, die Schafe wollen das nämlich sicher nicht hören.
   Also, jedenfalls beschlossen die Visha, den richtigen König zu bestimmen, und dazu wollten sie die drei Kandidaten auf die Probe zu stellen.
   Jeder der drei hatte eine kleine Hütte, in der er die Nacht verbringen konnte. Abends also klopfte es an der ersten Hütte, und der erste Kandidat machte auf. ‘Bitte, Herr, ich habe Hunger’, sagte das kleine Mädchen, das draußen stand."
   „Das war die Weiße Herrin", unterbrach Rian.
   Taveli runzelte die Stirn. „Du kennst die Geschichte?"
   „Nein."
   „Dann halt den Mund und laß mich erzählen."
   „Entschuldige." Rian krabbelte zu Tapps, dem Hund vom Mittelhof, und kraulte ihm die Ohren, während Taveli fortfuhr.
   „Der Königskandidat schaut also das Mädchen an. Sie ist total schmutzig und ihre Kleidung ist alt und abgetragen. ‘Wenn ich ihr helfe’, denkt er, ‘wird es mir nichts nützen bei der Königswahl. Keiner wird auf ein kleines Bettelmädchen hören.’ Also sagte er: ‘Wenn du essen willst, mußt du dir dein Essen auch verdienen wie jeder andere!’ und machte die Tür zu.
   Da ging das Mädchen zu dem zweiten Kandidaten und klopfte. ‘Bitte, Herr, ich habe Hunger’, sagte es, als dieser die Tür aufmachte. Der guckt es an und denkt sich: ‘Igitt, wie schmutzig und heruntergekommen sie aussieht! Was sollen die Leute denken, wenn ich mich mit jemandem wie ihr abgebe?’ Also sagte er: ‘Wenn du essen willst, dann darfst du anderen nicht den Appetit verderben mit deinem Aussehen!’ und machte die Tür zu.
   Da ging das Mädchen zu dem dritten Kandidaten und klopfte. Doch dieser schlief schon tief und fest und ließ sich nicht durch das Klopfen wecken. Sein Diener aber hörte es und öffnete die Tür. ‘Bitte, Herr, ich habe Hunger’, sagte das Mädchen. ‘Hm’, machte der Diener, ‘ich glaube nicht, daß es meinem Herren gefallen würde, wenn ich dir von seinem Essen gebe. Aber ich habe noch etwas Brot und Dörrfleisch übrig, wenn du willst, kannst du das haben.’
   Das Mädchen nahm das Essen entgegen, bedankte sich und ging fort in die Nacht."
   „Wieso war es denn Nacht?" unterbrach Rian. „Der Thing ist doch immer vier Wochen nach Mittsommer, da ist es nachts doch immer noch nicht richtig dunkel."
   „Und was soll ich dann sagen? Es war jedenfalls spät, und alle schliefen!" grummelte Taveli, verärgert über die neuerliche Unterbrechung. „Und wenn man schläft, ist es Nacht! Und jetzt laß mich weitererzählen!"
   „Entschuldige."
   „Am nächsten Tag berät der Thing weiter und die drei Kandidaten halten ihre Ansprachen und dann wird wieder abgestimmt, doch noch immer ist nicht eindeutig, wer der nächste König werden soll.
   Und am späten Abend klopft es beim ersten wieder an die Tür. Er will erst nicht aufmachen, weil er denkt, daß es wieder das Bettelmädchen ist, aber als das Klopfen nicht aufhört, öffnet er schließlich die Tür. Vor der Tür steht ein junger Mann aus seinem Volk mit einem Fisch in der Hand. ‘Guten Abend, Herr. Würdet Ihr den Fisch gegen etwas Milch eintauschen? Meine Frau ist krank, und wir haben einen Säugling, der Milch braucht.’ Der Königskandidat kann sich nicht an den Mann erinnern, also nimmt er an, daß er nicht auf dem Thing gewesen war. Daher denkt er sich: ‘Der geht nicht zum Thing, wird also auch nicht für mich stimmen.’ Deswegen sagt er: ‘Nein, ich habe keine Milch. Kauf dir doch eine Kuh!’ und schickt ihn weg.
   Der Mann geht zum zweiten Kandidaten und fragt ihn, ob er den Fisch gegen Milch eintauscht. Der Kandidat schaut auf das tote, stinkende Tier und ekelt sich und sagt: ‘Wenn du ihn mir ausnehmen und zubereiten würdest, könnte ich dir morgen etwas Milch vorbeibringen.’ Da sagt der Mann: ‘Aber mein Kind schreit jetzt! Den Fisch zuzubereiten dauert lange, ich kann doch meine kranke Frau nicht so lange alleine lassen!’ Da sagt der Kandidat: ‘Nun, ich jedenfalls will deinen Fisch nicht!’ und schickt ihn fort.
   Da geht der Mann zum dritten Kandidaten, doch der hat sich ein Mädchen ins Bett mitgenommen und achtet nicht auf das Klopfen, also macht sein Diener auf. ‘Warte’, sagt der Diener, ‘ich geh eben in den Stall und hol dir etwas Milch, mein Herr wird sie schon nicht vermissen, und von dem Fisch koch lieber eine Mahlzeit für deine kranke Frau, damit sie wieder kräftig wird.’ Also melkt er ein Schaf, gießt die Milch in seine Flasche und schenkt sie dem Mann."
   Taveli grinste und nahm seine eigene Flasche. „Und dieser Diener hier braucht auch erstmal was zu trinken!" Er ging zu einem der Mutterschafe, molk sie in seine Ledermütze und goß die Milch vorsichtig in die Flasche. „Möchtest du auch?"
   Rian nahm ein paar kräftige Schlucke. „Erzählst du weiter?"
   „Ja, sofort. Weißt du, wer der zweite Besucher war?"
   „Das Mädchen war doch die Weiße Herrin, die Königin der Elfen, oder?" Als Taveli nickte, sagte Rian: „Dann war der Mann bestimmt Dhoni, der Herr der Flüsse."
   Taveli lächelte. „Stimmt. Schade, die Kinder in Kar-Siona kommen auf so etwas nicht. Ihr kennt hier im Osten eben noch viel mehr von den alten Legenden und so."
   „Erzähl weiter!"
   „Ist ja gut!" lachte Taveli. „Wie der junge Herr wünscht.
   Auch am nächsten Tag konnte sich der Thing nicht auf einen Kandidaten festlegen. Also geht man abends wieder in die Hütten. Das Wetter hat sich geändert, und es gießt in Strömen.
   Schließlich klopft es beim ersten Kandidaten an der Tür. Er seufzt und macht auf und fragt sich, was für ein armer Bittsteller wohl diesmal draußen steht. Und deswegen ist er ziemlich überrascht, als eine wunderschöne Frau dort steht, in einem kostbaren Gewand mit Perlen. ‘Guten Abend, Herr’, sagt die Frau, ‘darf ich mich an Eurem Herd etwas trocknen, bevor ich den Rest des Weges nach Hause zurücklege?’ Der Kandidat denkt: ‘Diese Frau ist reich, dann ist ihr Mann das auch, und dann sind beide hoch angesehen.’ Also sagt er: ‘Ich will dir gerne helfen, wenn du deinen Mann bittest, morgen im Thing für mich zu stimmen.’ Die Frau willigt ein, und so bittet er sie hinein und bewirtet sie fürstlich.
   Schließlich verabschiedet sie sich und geht, aber sie geht nicht heim, sondern zum zweiten Kandidaten. Der schaut sie an, wie sie so im Regen steht, und denkt: ‘Ich alleine mit einer so wunderschönen Frau! Das könnte böse Gerüchte geben, wenn die Leute davon hören, und ich will kein dummes Gerede.’ Also schickt er sie fort.
   Da geht sie zum dritten Kandidaten, der diesmal die Tür selbst öffnet. Er schaut sie an und denkt: ‘Eine so wunderschöne Frau, und sie ist ganz alleine. Da soll sie mir doch wohl zu Willen sein!’ Und so bittet er sie hinein und bewirtet sie, und als sie gegessen hat, sagt er: ‘Jetzt hast du gegessen und getrunken und die Wärme meines Feuers genossen. Jetzt mußt du mir etwas zurückzahlen und dich ausziehen und mir zu Willen sein.’ Sie jedoch will nicht, und da geht er auf sie zu und will sie zwingen. In dem Moment jedoch wirft sich sein Diener, der still auf dem Boden gesessen hatte, dazwischen und kämpft mit seinem Herrn, so daß die Frau fliehen kann. Als sie fort ist, reißt sich der Diener los und rennt weg, so schnell er kann, und versteckt sich im Wald.
   Am nächsten Morgen trifft man sich wieder und beratschlagt über den zukünftigen König, und man kann sich nicht einigen. Da kommt einer auf einem Pferd dazu, mit Pfeil und Bogen und einem Jagdmesser. Er wird freudig begrüßt und man bittet ihn, am Thing teilzunehmen, damit sein Wort Ausschlag gebe in der Königsfrage. Der Jäger schaut sich also die Kandidaten an und spricht mit ihnen und sagt dann: ‘Ja, ich weiß, wer König sein sollte.’
   Da sind alle natürlich sehr aufgeregt. ‘Der erste’, sagen einige, ‘weil er der mutigste ist!’ Andere sagen: ‘Der zweite, natürlich, weil er so hoch angesehen ist!’ Und wieder andere meinen: ‘Der dritte, natürlich, weil er der majestätischste von den dreien ist!’
   Da meint der Fremde: ‘Keiner von ihnen sollte euer König sein, denn der erste ist berechnend und kalt, der zweite feige und eitel und der dritte ist lüstern, faul und gemein. Doch ich kenne einen, der der richtige König für euch wäre.’ Und er sagt ihnen, wo sie diesen Mann finden und wie sie ihn erkennen könnten. Da es aber schon Abend ist, gehen erst einmal alle schlafen.
   Der Diener des dritten Kandidaten kann aber nicht schlafen, denn er versteckt sich noch immer im Wald. Da steht plötzlich eine Gestalt vor ihm: ein großer Mann mit silbernem Haar und in Jagdkleidung, und er sitzt auf einem weißen Pferd, das weder Sattel noch Zaumzeug trägt. ‘Morgen wirst du Besuch bekommen’, sagt der Große Jäger, denn es ist niemand anderes als der Elfenkönig Orva selbst, ‘doch du mußt keine Angst haben.’ Und er streckte die Hand aus und berührte den Diener am Arm, und dann war er fort, und der Diener dachte am nächsten Morgen, er hätte alles geträumt.
   Da aber kommen auf einmal einige Männer vom Thing, und der Diener hat Angst, weil er denkt, daß sie ihn wegen seines Ungehorsams bestrafen wollen. Die Männer jedoch sehen auf seinem Arm einen Fleck wie einen Daumenabdruck, und genau dieses Zeichen hatte ihnen der fremde Jäger beschrieben. Also bitten sie den Diener, mit zum Thing zu kommen.
   Und dann beginnt man erneut, die Leistungen der Kandidaten zu beschreiben. Viele treten vor und erzählen von den großen Taten des ersten. Andere preisen den Schöngeist des zweiten, und wieder andere schwärmen von den rauschenden Festen des dritten. Als es an der Zeit wird, den vierten Kandidaten zu preisen, schweigen alle, denn keiner der freien Männer kennt den Diener wirklich.
   Da tritt ein kleines Mädchen vor. ‘Als keiner mir Essen geben wollte, hat er mir welches gegeben.’ Und plötzlich wandelt sich ihre Gestalt, und sie wird zu einer wunderschönen, schwarzhaarigen Frau in einem langen, silberweißen Kleid.
   Und dann tritt ein armer Fischer vor. ‘Als keiner auf den gerechten Handel eines verzweifelten Mannes eingehen wollte, hat er statt eines Handels ein Geschenk gemacht.’ Und auch er verwandelt sich und ist plötzlich reich gekleidet in Grün und Blau, und seine Stimme ist wie das Plätschern eines Baches.
   Und dann tritt eine schöne Frau vor. ‘Als alle nur ihren Vorteil aus einer Frau ohne Schutz ziehen wollten, hat er sie aus den Händen seines lüsternen Herrn befreit und dabei sein eigenes Leben riskiert.’ Und sie verwandelt sich nicht, aber sie scheint noch schöner zu werden, und ihre Stimme klingt wie das Raunen des Meeres."
   „Das ist Dhonis Schwester Dhoa", murmelte Rian.
   „Pssst! Ich bin ja gleich fertig!
   Also, während die Menge noch verwirrt auf die drei Fremden starrte, kommt plötzlich der fremde Jäger zurück. Doch auch er verwandelt seine Gestalt, und plötzlich steht niemand anders als Orva vor dem Thing. ‘Wir haben eure Kandidaten geprüft’, sagt er, ‘und keiner von ihnen taugt etwas. Doch dieser da, ein einfacher Diener, hat ein großes Herz und Mut, wie ihn ein König haben sollte. Wir befehlen euch nichts: wir sind nur Geistwesen und dürfen euch nichts vorschreiben. Doch wir raten euch, daß er euer König sein soll.’
   Und dann verabschieden sich die vier Visha und gehen jeder auf seine Weise: Dhoa wird zu einer Möwe und fliegt aufs Meer zu, ihr Bruder Dhoni geht zurück in den Fluß, und Orva setzt die Weiße Herrin auf sein Pferd und bringt sie zurück ins Elfenreich.
   Und danach hat der Thing den Diener zum ersten König von Yador gewählt." Taveli nahm einen Schluck aus der Flasche und schaute Rian prüfend an. „Hat dir die Geschichte gefallen?"
   „Ist sie wahr?"
   Taveli lächelte, gab Rian die Flasche und krempelte seinen Ärmel hoch. Auf seinem Oberarm war ein dunkles Mal, das fast wie der Abdruck eines Daumens aussah. 
   Rian kniff die Augen zusammen. „Du bist aber nicht der König von damals, oder?"
   Taveli lachte. „Weißt du, wie lange das her ist? Abertausende von Jahren! Wir Shedali sterben zwar wie ihr Elfen nicht am Alter, aber so lange leben... das tun nur sehr wenige. Solche Zeichen werden manchmal auch vererbt."
   Aus einiger Entfernung hörten die beiden plötzlich eine schwache Stimme. „Deine Tante ruft dich", meinte Taveli, „geh besser. Ich glaube nicht, daß sie will, daß du dich mit Taugenichtsen wie mir herumtreibst."
   „Ja", murmelte Rian und stand seufzend auf. „Darf ich morgen wiederkommen?"
   „Sicher, wenn du dich wegschleichen kannst..."
   Rian schaute auf den sitzenden Schafhirten hinunter, der gemütlich gegen den Felsen gelehnt saß und zu ihm aufschaute. „Ich hab schon gemerkt, daß du meine Frage eben nicht beantwortet hast", sagte der Junge listig, und für einen kurzen Moment lächelte er. „Aber keine Angst, ich sage nichts weiter."
   Damit sprang er den Hügel hinunter und rannte auf die fünf Höfe Kar-Njalls zu, und Taveli, der erste König von Yador, schaute ihm lächelnd hinterher, während er seine Flöte hervorzog, um den Schafen ein Liedchen zu spielen.
 
.