Sie waren noch nicht weit in den lichtlosen
Stollen eingedrungen, als es geschah: ein dumpfes Grollen, eine Erschütterung
und dann eine Wolke von Staub und plötzlichem Wind, der sie gegen
die Wände stieß, über ihre Köpfe fuhr und die Lampen
löschte. Sie standen in völliger Dunkelheit, und Boric spürte,
wie sich die Luft veränderte. Ein Druck lag auf seinen Ohren. Er schluckte
heftig, und das erstickende Gefühl löste sich. Er hörte
sich mit fremder Stimme sagen: "Der Tunneleingang ist eingestürzt."
Neben ihm keuchte jemand. Einer schrie auf,
und sie hörten das Geräusch von Füßen, die den Weg
zurückstolperten, den sie gekommen waren. "Komm zurück!" schrie
Boric. "Vielleicht stürzt noch mehr ein! Komm zurück, du Narr!"
"Die Lampen", hörte er Gelen sagen. "Im
Namen der Wanderer, wir brauchen Licht!"
"Wer ist das da vorne?" fragte Boric scharf,
um den jähen Anfall von Panik zu unterdrücken. "Val'el?"
"Ich bin hier", hörte er die zitternde
Stimme des Jungen, aus der jede Blasiertheit verschwunden war. "Ich glaube,
es ist Relos -"
Ein zweites, lauteres Krachen schnitt seine
Worte ab. Steine rumpelten beängstigend nah herab. Boric fühlte,
wie sich um ihn die Erde bewegte. "Nach hinten!" schrie er. "In den Stollen
hinein!"
"Aber Relos!" schrie Val'el auf.
"Nach hinten! Lauf!" Schon rannte er selbst
los, stolpernd, mit den Händen an den Steinwänden, hinter denen
sich der ganze Berg zu verschieben schien. Er hörte die leichten Schritte
des Jungen und sein Schluchzen. Nach ungefähr fünfzig Schritten
blieb sein Fuß an einer Steinkante hängen, und er stürzte
schwer. Er krallte die Finger in die Felsen und lauschte. Das Poltern hatte
aufgehört. Die Luft war still und schwer. Nur das schnelle, flache
Atmen des Jungen drang an sein Ohr. Mühsam rappelte er sich auf. "Gelen?"
Keine Antwort. "Gelen!" schrie er und hörte
zu seiner unaussprechlichen Erleichterung die Antwort seines Bruders aus
einiger Entfernung. "Ich bin in Ordnung, Boric."
"Wo bist du?" rief er, denn er hatte völlig
die Orientierung verloren.
"Noch vorne."
"Was tust du, in Levarnas Namen?"
Diesmal antwortete Gelen nicht. Angestrengt
lauschte Boric in die Finsternis. Etwas scharrte, ein Stein polterte zur
Seite, und alle seine Muskeln spannten sich zur Flucht. Doch die Erde blieb
ruhig. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, hörte er Gelens
Schritte und seine leise Frage: "Wo seid ihr?"
"Hier", sagte Boric und dämpfte ebenfalls
seine Stimme, aus Furcht vor dem Zorn der Steine, die sie aus ihrer Ruhe
aufgestört hatten. Gleich darauf berührte eine Hand seine Wange.
"Gelen?"
"Ja."
"Was ist mit..." Er sprach den Namen nicht
aus.
"Tot", sagte Gelen.
Val'el stolperte von ihnen fort. Sie hörten
sein rauhes Schluchzen, das bald in ein abgehacktes Wimmern überging.
Boric kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Relos, den
sie in Cai Antur angeworben hatten, war ihr Führer gewesen, der einzige,
der den Weg zu den verborgenen Schatzkammern der Zwerge kannte, und er
hatte die Karte der verlassenen Stadt im Berg bei sich gehabt. Doch nun
schien es, als sei der Weg zu gut bewacht: Vor einer halben Stunde waren
sie aufgebrochen, und nun waren sie schon nur noch zu dritt.
Er streckte die Hand aus und stieß gegen
Gelens Arm. Schweigend drückte der andere ihm einen Fetzen Stoff in
die Hand, und seine Finger schlossen sich darum. Der Fetzen war naß,
und Boric versuchte, nicht daran zu denken, wie seine Hand jetzt aussah,
beschmiert mit Blut. Er steckte den Fetzen in die Tasche, die an seiner
Seite hing; der Fetzen bedeutete nichts, nur eine Erinnerung. Die Seele
des Mannes war für immer in der Dunkelheit verloren.
"Wir können nicht zurück", sagte
er und zwang sich, ruhig zu bleiben. "Wir müssen weiter und einen
anderen Ausgang suchen. Die Zwerge hatten immer Unmengen von Toren nach
draußen, in jedem Berg mindestens fünfzig. Wir werden schon
eins finden."
"Aber nicht ohne Licht", sagte Gelen. "Meine
Lampe ist zerbrochen. Wie ist es mit deiner?"
"Ich weiß nicht." Boric betastete die
kleine Ölflasche; sie fühlte sich glatt und heil an. "Scheint
in Ordnung zu sein. Wir brauchen nur Feuer. Und deine Lampe, Val'el?"
"Verloren", flüsterte der Junge. Boric
hörte die Panik in der heiseren Stimme und sagte scharf: "Reiß
dich zusammen! Wir kommen wieder hinaus."
"Aber wir wissen nicht, wann", sagte Gelen.
"Wir müssen sparsam mit dem Öl umgehen, Boric. Er... er sagte,
daß der Weg etwa tausend Fuß weit gerade und ohne Unebenheiten
wie eine Straße in den Berg führt und dabei leicht abfällt.
Dafür brauchen wir kein Licht."
"Also gut." Boric stand schwerfällig
auf. "Laßt uns nur zusammenbleiben." Er steckte die Ölflasche
sorgfältig in die Tasche und streckte seine Hand nach Gelen aus. "Kommt.
Ich gehe voran." Gelens schwielige Hand umfaßte seine eigene, die
schweißnaß war, und der vertraute Druck beruhigte Boric, obwohl
es dazu keinen Anlaß gab; er war nur froh, nicht allein mit dem Berg
zu sein. Langsam ging er los. Seine freie Hand tastete sich an der Stollenwand
entlang. Hinter sich hörte er Gelens gleichmäßige Schritte
und die hastigen des Jungen, während er lautlos zählte.
Bei neunhundertsechsundachtzig stieß
er mit dem Fuß an einen Stein. Er blieb stehen und bückte sich.
Seine tastende Hand fand einen etwa kniehohen Felsen, der das Ende des
sicheren Weges kennzeichnete. Er ließ Gelen los und holte die Lampe
aus der Tasche. Gelen drückte ihm die Feuersteine in die Hand, und
er kniete sich hin, kramte in der Tasche nach dem Moos, das er vor ihrem
Aufbruch gesammelt und getrocknet hatte, und legte eine Handvoll davon
auf den felsigen Boden. Dann schlug er die Steine gegeneinander. Ein Funke
sprang auf und erlosch. Er versuchte es wieder, und diesmal sprang der
Funke in das Moos, das knisternd zu glimmen begann. Er hob es vorsichtig
hoch und hielt es an den Docht, der aus der Ölflasche ragte. Nach
einigen Augenblicken ungeduldigen Wartens brannte der Docht.
Boric gab Gelen alles, was er zum Feueranzünden
brauchte. Im schwachen Schein der Lampe erkannte er die Frage in den dunklen
Augen und sagte: "Falls ich falle." Gelen nickte schweigend. Die Augen
des Jungen waren riesengroß und schwarz, und er starrte in hungriger
Sehnsucht auf die winzige Flamme. "Ich will hier raus", flüsterte
er.
"Fang nicht so an", sagte Gelen. "Dafür
besteht kein Grund."
"Denk an das Gold", fügte Boric hinzu.
"Es ist kein Unterschied zu vorher. Wir hatten ohnehin nicht vor, zu diesem
Ausgang zurückzukehren." Das war gelogen, aber er hoffte, daß
es den Jungen beruhigen würde. Doch der Versuch scheiterte.
"Wir wissen aber den Weg nicht!" Val'els Stimme
klang unnatürlich schrill. "Du weißt auch nicht, wie wir hier
herauskommen! Relos wußte es, und Relos ist tot! Wir werden nie hier
herauskommen!"
"Schweig!" schnauzte Boric ihn an. "Wenn du
ein Feigling bist, hättest du nicht mitkommen dürfen!" Er sah,
wie der Junge zusammenfuhr, und sagte freundlicher: "Es hilft uns nichts,
wenn wir in Panik geraten. Wir werden einen Weg nach draußen finden,
und wenn wir Glück haben und die Schatzkammern finden, sind wir auch
noch reich. Denk daran!"
Der Junge schwieg, aber Boric sah, wie das
alte Funkeln, um dessentwillen er Val'el mitgenommen hatte, in die schwarzen
Augen zurückkehrte. Er hob die Lampe. "Also gut", sagte er. "Gehen
wir weiter."
Was folgte, war kein Weg, nicht einmal ein
Pfad, sondern ein roh in den Fels gehauener - oder vielleicht sogar natürlich
entstandener - Schacht voller Unregelmäßigkeiten und Abgründe.
Das schwache Licht der Lampe erhellte immer nur einen winzigen Ausschnitt
der Höhlen, durch die sie krochen, umgeben von vieltausendjährigem
Schweigen und dem steten Tropfen von Wasser auf ferne Steine. Sie kletterten
über die Felsen, duckten sich unter Überhängen hindurch
und klammerten sich an die Wände, während kaum zwei Schritte
weiter unergründliche Abgründe sich öffneten, die vielleicht
nicht einmal so tief waren, doch das Licht konnte sie nicht erhellen, und
so hatte Boric den Eindruck unvorstellbarer Tiefen, die bis unter die Erde
hinabführten, in Welten voller Dämonen. Stille herrschte in dieser
Welt der Dunkelheit, und manchmal stürzten Steine in die Tiefe, deren
Echo tausendfach von den Felsen widerhallte, und die drei Männer blieben
jedesmal stehen, erstarrten in ihren Haltungen und bewegten sich erst wieder,
wenn die Stille zurückgekehrt war.
Wie Ameisen krochen sie durch unermeßlich
große Höhlen und durch Gänge, die sie nur auf Händen
und Knien bewältigen konnten, und selbst Boric gestand sich schließlich
ein, daß sie den Weg zu den Schatzkammern, falls es je einen gegeben
hatte, völlig verloren hatten. Als sich einer der schmalen Gänge
endlich zu einer etwa mannshohen Höhle weitete, hielt er an und sagte:
"Laßt uns ausruhen."
Gelen nickte. Val'el war zu erschöpft,
um auch nur einen Anflug von Trotz zu zeigen. Er sank auf den Boden und
schloß die Augen. Die beiden älteren Männer blickten sich
stumm an. Dann löschte Boric das Licht.
Ein schriller, gellender Schrei weckte ihn.
Er fuhr hoch, denn der Schrei klang direkt neben ihm, und griff nach seinem
Schwert. Dann erkannte er die Stimme; es war Val'el.
"Ich will raus!" kreischte der Junge. "Ich
will hier raus! Ich halte das nicht mehr aus! Licht! Licht!" Die Worte
gingen in einen schier endlosen, wortlosen Schrei über, doch dann
gab es ein scharfes Klatschen; und das furchtbare Geräusch brach abrupt
ab.
"Ruhig, Junge", sagte Gelen ganz sanft in
das folgende Schluchzen hinein. "Ruhig. Es ist ja gut. Boric, mach Licht."
Boric tastete nach dem Beutel und holte die
Feuersteine heraus. Wenige Augenblicke später flackerte der Docht
und brannte dann gleichmäßiger. Val'el hatte sein Gesicht in
Gelens Schoß vergraben, und seine Schultern zuckten krampfhaft. Der
Mann streichelte mit sanften Bewegungen den schweißnassen Haarschopf.
Über dem weinenden Jungen traf sein Blick Borics Augen und löschte
die Verachtung darin. "Wir sollten etwas essen", sagte er leise. "Wir sind
alle erschöpft."
Schweigend holte Boric Brot und getrocknetes
Fleisch aus dem Beutel und gab es ihm. Gelen richtete den Jungen auf und
hielt ihm einen Kanten Brot hin. Val'el starrte ihn stumpf an, nahm das
Brot und begann daran zu nagen, während ihm die Tränen noch über
die Wangen liefen. Ebenso stumpf aß er das Fleisch. Boric ließ
ihn nicht aus den Augen. Er selbst aß rasch und schweigend und nur
soviel, bis der ärgste Hunger gestillt war. Panik war lebensgefährlich.
Er hatte ebenfalls Angst, aber er gestattete sich nicht, die Selbstbeherrschung
zu verlieren, denn er wußte, daß hinter der Panik der Wahnsinn
lauerte, der einen Menschen blindlings in einen Abgrund springen ließ.
Er steckte das Brot und das Fleisch wieder
weg; auch Gelen gab ihm einen Teil wieder zurück. Er verstaute es
sorgfältig. Sie wußten nicht, wie lange die Nahrung reichen
mußte. Gelen reichte ihm die Wasserflasche, und er trank ein paar
kleine Schlucke, um dann schweigend zuzusehen, wie Val'el die Flasche gierig
an die Lippen riß und hastig trank, bis Gelen sie ihm wieder fortnahm
und den Laut des Protestes ruhig zurückwies.
Boric stand auf. "Wir müssen weiter."
Er konnte in der Höhle gerade aufrecht stehen, aber Gelen mußte
den Kopf zwischen die Schultern ziehen. Val'el blieb auf dem Boden hocken,
den Kopf kraftlos gesenkt. Wut stieg in Boric auf. Er trat auf den Jungen
zu und riß ihn in die Höhe. Val'el keuchte vor Schreck und starrte
ihn an. Boric schnauzte ihn an: "Hoch mit dir, du verfluchter Feigling!
Reiß dich zusammen, verdammt, oder ich schlage dir den Schädel
ein!"
Der Junge starrte ihn mit offenem Mund an.
Boric stieß ihn von sich fort, und er taumelte rückwärts.
Boric griff nach der Lampe und verließ den Rastplatz. Es war besser,
wenn der junge Bursche Angst vor ihm hatte als vor der Dunkelheit. Wenn
er etwas Wirkliches zu fürchten hatte, vergaß er vielleicht
die Angst vor seinen eigenen Gedanken und Hirngespinsten. Gelen hatte nicht
eingegriffen; Boric wußte, daß er verstand, was er getan hatte
und weshalb.
Die Wanderung durch die unterirdische Welt
ging weiter, mühsam und kräftezehrend. Boric hatte längst
keine Ahnung mehr, ob sie sich über oder unter dem Meeresspiegel befanden
und in welche Richtung sie gingen. Er kletterte um einen riesenhaften Felsen
herum, und plötzlich wichen die Wände vor dem Licht zurück,
und er stand allein im Schein der Lampe, umgeben von völliger Finsternis.
Vor und über sich spürte er einen ungeheuer großen Raum,
dessen Ende in tiefster Dunkelheit lag. Er hörte, wie Gelen hinter
ihm einen leisen Pfiff ausstieß, dessen Klang sich ausbreitete und
wie aus tausend Mündern aus großer Entfernung zu ihnen zurückkehrte.
Es klang, als ob ein Heer von Dämonen vor ihnen stand und ihre Angst
verhöhnte. Er wich an die Wand zurück und sagte mit belegter
Stimme: "Wir gehen besser nicht mitten hinein, sondern an der Wand entlang."
Das Echo seiner Worte verspottete ihn.
Da sagte Val'el hinter ihm in unnatürlicher
Fröhlichkeit: "Aber das ist doch ein großer Raum! Endlich können
wir uns frei bewegen!" Und er drängte sich an Gelen vorbei, der vergebens
nach ihm griff, und stürzte nach vorne in die Dunkelheit.
"Komm zurück!" schrie Boric, der plötzlich
von einem schrecklichen, namenlosen Grauen erfüllt wurde. "Komm zurück!
Val'el!"
Aber der Junge hörte ihn nicht. Die Wände
warfen sein lautes Lachen zurück, das sich von ihnen entfernte, und
dann hörten sie einen Laut, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren
ließ: ein ungeheuer mächtiges, langsames Knirschen, das aus
den Gebeinen der Erde selbst drang, und dann einen Donner wie im Mittelpunkt
eines Gewitters, ungleich lauter und machtvoller als das Poltern, mit dem
der Höhleneingang eingestürzt war. Val'el, inmitten des Donners,
schrie einmal.
Dann ebbte der Donner ab, die Echos, die von
den Wänden dröhnten, erstarben. Kein Laut mehr, kein Geräusch
aus der Richtung, in die der Junge gelaufen war. Die beiden Männer
blickten sich über dem Licht der Lampe an, ihre Gesichter erfüllt
von dem Grauen, das der Donner und der Schrei in ihnen geweckt hatte. Endlich
sprach Boric, flüsternd, damit er die Echos nicht rief. "Wir müssen
weiter. Wir können ihm nicht mehr helfen."
Gelen nickte. Selbst in dem schwachen Licht
konnte Boric sehen, daß er kalkweiß geworden war, und er vermutete,
daß auch sein eigenes Gesicht aussah wie eine Kalkmauer, in der zwei
Kohlen brannten. Er wandte sich nach rechts und tastete mit zitternder
Hand nach der Felswand.
Sie hatten erst vierzig Schritte zurückgelegt,
eng an die Felsen gedrückt, als sie ein fernes Geräusch hörten,
das von links irgendwo erklang. Sie blieben stehen und lauschten. Boric
spürte, wie sein Herz gegen die Rippen schlug, und wagte kaum zu atmen,
als Gelen fragend Val'els Namen rief und ein Stöhnen ihm antwortete.
"Er lebt", sagte Gelen. "Wir müssen ihm
helfen."
"Nein", sagte Boric mit greller Stimme. Diesmal
achtete er nicht auf das Echo. "Wenn wir ihm folgen, geschieht uns das
Gleiche wie ihm. Ich gehe nicht dort hinaus!"
Gelen stand schweigend ein paar Augenblicke
lang. Dann nickte er und löste den Beutel mit den Feuersteinen vom
Gürtel. Er hielt ihn Boric hin. "Hier. Falls ich falle."
"Was hast du vor?" fragte Boric, obwohl er
es wußte.
Gelen antwortete nicht; er drehte sich nur
um und trat in die Dunkelheit hinaus, fort vom Schein der Lampe.
"Halt!" rief Boric und verachtete sich selbst
dafür. "Hier, du Narr, nimm die Lampe mit, sonst findest du ihn nie!"
Während er noch sprach, fragte er sich, wie er allein und ohne Licht
aus dem Berg herausfinden sollte, aber nun war es gesagt. Gelen kehrte
zu ihm zurück, nahm ihm die Lampe ab und wandte sich wieder um. Boric
sah zu, wie sich der winzige Schein von ihm entfernte, als Gelen die glatte,
abfallende Fläche hinunterging. Es schien ihm, als ob irgendwelche
Schatten in Tiergestalt vor dem Licht davonhuschten, aber er hörte
keinen Laut als Gelens Schritte und das leise Stöhnen, das ihm den
Weg durch die Schwärze wies, jede Sekunde gewärtig, das grausige
Knirschen und den Donner wieder zu wecken. Doch alles blieb still.
Das Licht bewegte sich weiter von ihm weg,
als er es für möglich gehalten hatte, und sank immer tiefer.
Der Boden dieser Höhle schien eine Art Schüssel zu sein, deren
tiefster Punkt genau in der Mitte lag. Und dort, offensichtlich, lag auch
Val'el... oder ein Wesen, das seine Stimme nachahmte, um auch die beiden
anderen Eindringlinge in eine Falle zu locken.
Das Licht stockte. Boric konnte nicht erkennen,
was Gelen tat. Eine Ewigkeit lang geschah nichts. Das Licht schimmerte
in einer Entfernung, die unüberwindlich schien. Boric, allein in der
Dunkelheit, wartete mit geballten Fäusten, und es schien ihm, als
müsse er hier für alle Zeiten verharren
und warten und das Licht anstarren, gebannt durch die Mächte, die
hier im Herz des Berges hausten - die Geister des lange toten Zwergenvolkes,
das er hatte berauben wollen. Vielleicht war Gelen ja auch schon tot, erschlagen
oder erschossen, lautlos gefallen außerhalb des Lichtkreises. Vielleicht
würde sich das Licht wieder in Bewegung setzen und sich Boric nähern,
getragen von einem Wesen, das aus den Knochen der Erde geboren war und
das er erst erkannte, wenn es zu spät war. Oder es konnte Gelen sein,
doch durch Zauberei grauenhaft verändert und kein Mensch mehr, sondern
ein Geschöpf der Finsternis wie die, die hier lauerten. Boric hatte
von solchen Geschöpfen gehört und sich von den Bergen ferngehalten,
bis die Gier nach dem Zwergenschatz und Relos' überzeugende Worte
seine Furcht abgetötet hatten. Er tastete nach dem Stein in seinem
Rücken. Wie konnte ein Mensch dort hinausgehen, ohne Halt, ohne Richtung?
War Gelen auf eine ähnliche Weise wahnsinnig geworden wie Val'el?
Und wenn er nicht zurückkam, würde Boric es fertigbringen, weiterzugehen,
während das Licht, das er so dringend brauchte, fern und unerreichbar
brannte, bis das Öl aufgebraucht war? Es würde ihm nichts anderes
übrigbleiben. Um nichts in der Welt, selbst für den gesamten
Zwergenschatz war er nicht bereit, die schützende Wirklichkeit der
Felswand zu verlassen und in das Nichts hinauszugehen.
Da hörte er seinen Namen. Gelen rief
ihn. "Boric!"
"Ich komme nicht!" schrie er.
Als die Echos nachließen, hörte
er wieder Gelens Stimme. "Er lebt, Boric, aber er ist verletzt. Ich bringe
ihn zurück. Ich werde rufen, und du rufst ebenfalls, damit ich dich
finde. Verstehst du?"
"Ja", rief er zurück. "Was ist passiert?"
Er bekam keine Antwort. Das Licht setzte sich
wieder in Bewegung, langsam und schwankend, und er beobachtete es so gebannt
wie ein Verdurstender einen Becher Wasser. Gelegentlich, jedesmal ein wenig
näher, hörte er Gelens Stimme, die ihn rief, und er rief zurück:
"Ja, hier!" und dachte dabei, daß es ihn nicht kümmerte, was
aus seinen Gefährten wurde. Das einzige, was er haben wollte, war
das Licht. Er war überrascht über den Gedanken, daß er
Gelen vielleicht kaltblütig zurückgelassen hätte, wenn er
selbst die Lampe behalten hätte, als sein Bruder auf die Fläche
hinausging, um Val'el zu suchen. Nur das Licht hatte ihn zurückgehalten,
das Licht, das sich von ihm entfernt hatte und nun zu ihm zurückkam.
"Boric!" Die Stimme war nun nahe.
"Hier", sagte er, krank vor Gier nach der
Lampe, und als Gelen bei ihm war, entriß er ihm das kostbare Ding
und sagte heiser: "Los, laß uns von hier verschwinden." Er warf keinen
Blick auf den Jungen, der schlaff und leblos in Gelens Armen lag. Er drehte
sich um und hastete am Rand der Höhle weiter. Irgendwo mußte
es einen Ausgang geben. Gelen folgte ihm schweigend.
Es gab einen Ausgang. Nach tausend oder mehr
Schritten, die ein einziger Alptraum waren, öffnete sich die Wand,
und Boric taumelte in einen breiten, gerade angelegten Weg, dessen Boden
glatt und eben war und an dessen Wänden vor tausend Jahren Fackeln
befestigt gewesen waren. Dazwischen erfaßte das Licht Steine, die
in leuchtenden Farben glänzten. Sie hatten den Weg gefunden.
Boric wollte weiterhasten, aber Gelen sagte:
"Warte."
Verärgert drehte er sich um. Sein Bruder
hatte Val'el auf den Boden gelegt und hockte neben ihm. Über die kurze
Entfernung hinweg blickte er zu Boric hoch. "Ich brauche eine Rast", sagte
er. "Und ich will mir seine Verletzungen ansehen."
Boric starrte den bewußtlosen Jungen
an und schluckte seinen Ärger mühsam hinunter. "Also gut", sagte
er beherrscht und kam zu ihnen. Er stellte die Lampe auf den Boden und
hockte sich direkt daneben. Gelen beobachtete ihn und sagte nichts. Boric
wandte den Blick ab. "Dann erzähl mir wenigstens, was passiert ist."
Gelen zog sein Messer aus dem Gürtel
und schnitt Val'els Hemd auf. Der Stoff war zerfetzt und die Haut darunter
voller Schnitte und Abschürfungen, aber es gab hier keine tieferen
Verletzungen. "Es scheint hier mehrere Wächter zu geben", sagte Gelen,
"nicht nur den am Eingang." Er betrachtete die klaffende Wunde an Val'els
Schläfe, aus der immer noch Blut sickerte. "Es ist wahrscheinlich
respektlos, die Anlage dort hinten mit dem Trichter eines Ameisenlöwen
zu vergleichen, aber es ist etwas Ähnliches. Die ganze Fläche
ist frei beweglich. Ich glaube, sie liegt nur an wenigen Stellen fest auf
dem, was darunter ist - Fels, Erdboden, Säulen, ich weiß es
nicht." Er zog Val'el das Hemd aus, riß es in Streifen und verband
die Kopfwunde damit.
"Und?" fragte Boric ohne Mitgefühl. Der
Junge hatte verdient, was er erhalten hatte. Sie waren alle drei in Gefahr
gewesen, sie hätten das Licht verlieren können.
"Die Verletzung ist zu tief", sagte Gelen
leise. "Das Gehirn ist beschädigt. Ich weiß nicht, wie er werden
wird."
"Dann hättest du ihn dort lassen sollen",
erwiderte Boric kalt. "Er wird uns nur behindern."
Gelen hob den Kopf und sah ihn fest an. "Du
bist nicht dort gewesen, Boric. Du hast diesen Wächter nicht gesehen."
Borics Mund war plötzlich trocken. "Du
- hast ihn gesehen?"
"Ja", sagte Gelen und blickte auf Val'els
totenblasses Gesicht hinab. Und wie für sich selbst fügte er
hinzu: "Und ich möchte ihn nicht noch einmal sehen."
"Wie sieht er aus?" Boric warf einen Blick
auf die Dunkelheit jenseits des Ganges, aus der sie gekommen waren, und
stellte sich vor, daß er noch einmal dort hinausgehen müßte,
jetzt, wo er wußte, daß jemand - etwas - tatsächlich auf
sie gelauert hatte. Bei dem bloßen Gedanken brach ihm der Schweiß
aus. Er wiederholte seine Frage mit heiserer Stimme.
Gelen zögerte. Auch er schaute zurück
und dann rasch wieder fort. Sehr leise sagte er: "Ich konnte nicht viel
erkennen, nur die Augen und einen Teil des Körpers. Ich glaube, es
ist eine Spinne, größer als ein Pferd und -"
"Schon gut", sagte Boric mit trockener Kehle.
"Sprich nicht weiter. Laß uns verschwinden. Warum hat das Biest dich
gehen lassen?"
"Ich weiß es nicht." Gelen zog seine
Jacke aus und legte sie Val'el um die Schultern. Der Junge bewegte unruhig
den Kopf und stöhnte leise. "Ich denke, es war das Licht. Sie zog
sich davor zurück. Aber es war auch noch etwas anderes."
"Was?" fragte Boric gegen seinen Willen.
Gelen blickte ihn an. Seine Augen waren sehr
dunkel. "Sie schien nicht zornig zu sein... oder hungrig. Sie beobachtete
mich nur, selbst als ich Val'el hochhob und fortging. Sie hätte mich
von hinten angreifen können, aber sie hat es nicht getan. Ich hatte
das Gefühl..."
"Was?" fragte Boric wieder, als er verstummte.
Der Heiler schwieg lange. Endlich sagte er:
"Ich hatte das Gefühl, als sei sie nicht darauf bedacht, mich oder
Val'el zu töten. Sie hätte ihn durch das Loch nach unten ziehen
können, bevor ich kam, aber sie ließ ihn am Rand liegen und
wartete auf mich. Vielleicht sollte sie mich wirklich nur beobachten...
oder warnen."
"Warnen?" fragte Boric rauh. "Wovor denn noch?"
Gelen zuckte nur mit den Schultern, stand
auf und hob den Jungen auf. Val'el war noch immer bewußtlos, aber
er stöhnte leise, wie im Schlaf.
"Wir sind hier im Reich der Zwerge", sagte
Gelen. "Sie sind fort, aber sie waren einst ein mächtiges und gefürchtetes
Volk. Sie können viele Dinge unter dem Stein gefunden und geweckt
und für ihre Zwecke eingesetzt haben, um sich vor Eindringlingen zu
schützen. Komm."
Boric bückte sich nach der Lampe und
stellte in aufspringenden Schrecken fest, daß das Ölfläschchen
halb leer war. Doch bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, hörten
sie aus der Finsternis hinter ihnen ein dumpfes Grollen, nur eine Andeutung
der Gegenwart des Wächters, aber genug, um selbst Val'el aus seiner
Ohnmacht zu wecken. Er stieß einen Schrei aus und schlug um sich.
Als Gelen ihn hinstellte, öffnete er die Augen und blickte sich um.
"Ich habe geträumt", sagte er erstaunt. "Mutter, ich hatte einen fürchterlichen
Traum, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern."
"Komm", sagte Gelen sanft. "Wir müssen
weiter."
"Und zwar schnell", fügte Boric hinzu.
Und weil er die Anspannung nicht mehr ertrug, schrie er nach hinten: "Wir
gehen ja schon!"
Ein erneutes Grollen, lauter diesmal, war
die Antwort. Boric drückte die Lampe an sich und ging tiefer in den
Gang hinein. Gelen folgte ihm. Er hielt Val'el an der Hand, der ihm wie
ein Kind nachtrottete und mit leeren Augen um sich schaute.
Der Gang war so breit wie eine Straße
und ebenso ordentlich angelegt. Im Lampenlicht schimmerten die Edelsteine,
die in den Wänden festsaßen. Boric versuchte, ein paar von ihnen
mit seinem Messer herauszubrechen, aber sie waren nicht zu lösen.
Er fluchte erbittert. Hier waren sie mitten in einem Reich voller Schätze,
und nicht einmal den kleinsten davon konnten sie mitnehmen!
Dann machte der Gang plötzlich eine Biegung
und gabelte sich. Jeder der beiden neuen Gänge sah glatt und ordentlich
aus, und es gab keinen Hinweis darauf, wohin sie führten.
"Rechts", sagte Boric, weil es gleichgültig
war, welchen Weg sie wählten, und sie folgten der kleinen Lampe in
die Nacht.
Auch dieser Gang gabelte sich, ebenso der
nächste, dem sie nachgingen, und alle diese Wege waren ohne Kennzeichen.
Dann kam wieder eine Abzweigung, und noch eine, und so ging es weiter,
stetig und unerbittlich, und sie drangen immer tiefer in das Labyrinth
aus Gängen ein, das die Stadt der Zwerge umschloß, ohne zu wissen,
ob sie jemals wieder herauskommen würden.
Sie rasteten an einer Gabelung, die genauso
aussah wie alle vorherigen. Boric warf sich auf den Boden, wütend
und hoffnungslos. Gelen schnitt Brot und Fleisch in kleine Streifen und
fütterte Val'el, der es sich widerstandslos und mit ausdruckslosen
Augen gefallen ließ. Seit seinem Erwachen hatte er kein Wort mehr
gesprochen.
"Weiß er, wo er ist?" fragte Boric.
"Möglich", sagte Gelen. "Es kann sein,
daß er alles aufnimmt und weiß, was vorgeht. Aber es kommt
nichts mehr aus ihm heraus. Ich glaube nicht, daß er jemals wieder
sprechen wird."
Er löste den Verband um den Kopf des
Jungen und betrachtete die Wunde, die sich nicht schloß. Auch Boric
schaute hin, zum ersten Mal, und sah, daß der Schädelknochen
völlig zertrümmert war. Unter einer dunklen Masse aus Blut sah
er etwas Helles. Er schaute in Val'els leeres junges Gesicht und wandte
sich ab. "So einfach...", hörte er sich murmeln, ohne genau zu wissen,
was er meinte. Doch Gelen nahm den Gedanken auf und führte ihn aus.
"So schnell kann das gehen", sagte er sehr
ruhig. "Sieh ihn dir nur an, Boric. Wenn ich ihn nicht führen würde,
würde er hier sitzenbleiben und verhungern, weil er nicht mehr die
Entscheidung treffen kann, aufzustehen und weiterzugehen."
"Dann laß ihn hier", erwiderte Boric
grob. "Er ißt unser Brot, das wir zum Überleben brauchen. Ohne
ihn haben wir eine bessere Chance, hier herauszukommen."
"Nein", sagte Gelen. "Er wollte wieder zum
Licht. Dorthin bringe ich ihn. Mit oder ohne ihn haben wir die gleiche
Chance."
Boric wollte widersprechen, aber er begegnete
dem festen Blick der dunklen Augen und begriff, daß es keinen Sinn
hatte, nicht hier und nicht jetzt. Brummend legte er sich hin, löschte
das Licht und schlief ein.
Er erwachte von seinem eigenen Schrei und
fuhr in die Höhe. Er hatte von der Dunkelheit geträumt, von saugender,
alles erstickender Dunkelheit, die sich auf seine Brust legte und ihm die
Luft nahm, und selbst jetzt noch atmete er heftig und keuchend. "Licht",
sagte er heiser. "Licht! Im Namen der Wanderer, zünde die Lampe an!"
"Sofort", sagte Gelens Stimme beruhigend.
Boric, dessen Nerven zum Zerreißen angespannt waren, horchte auf
das Rascheln des Mooses und das Knacken der Steine. Ein Funke sprang auf,
und die Öllampe begann zu brennen, zuverlässig wie der allmorgendliche
Sonnenaufgang in einer anderen Welt.
"Wie konnten sie hier nur leben?" flüsterte
er. "Was kann uns fremder sein als ein Volk, das in der Dunkelheit unter
den Bergen lebt?"
"Sie hatten Licht", sagte Gelen. "Tausende
von brennenden Fackeln und lodernden Feuern. Und sie kannten die Ausgänge."
Selbst seine Stimme klang jetzt hoffnungslos. Sie wußten nicht, wie
lange sie schon durch den Berg irrten; Boric schienen es Monate zu sein.
Sie standen auf und gingen weiter, weil es
das einzige war, das sie tun konnten. Sie gelangten in neue Gänge,
die sich gabelten, einer wie der andere. Vielleicht gingen sie längst
im Kreis.
Boric schraubte die Flamme niedriger. Es war
fast kein Öl mehr in der Flasche.
Val'el tappte wie ein Geist hinter Gelen her,
der ihn an der Hand führte. Der Gang gabelte sich. Sie folgten der
linken Abzweigung. Boric hatte längst aufgehört, sie zu zählen.
Dann erlosch die Flamme.
"O Götter", sagte Gelen tonlos. Val'el
summte leise.
"Hol die Steine heraus", sagte Boric, der
Verzweiflung gefährlich nahe. "Los, mach schon! Vielleicht habe ich
sie nur zu niedrig eingestellt. Hol sie heraus!" schrie er, und sein Schrei
kehrte aus den Gängen zu ihnen zurück.
Gelen öffnete den Beutel. Er holte den
letzten Rest Moos heraus, er holte die Feuersteine heraus. Er schlug die
Steine gegeneinander und entzündete das Moos. Boric riß es ihm
aus der Hand und hielt es mit bebenden Fingern an den Docht der Lampe.
Die Flamme leckte darüber hinweg, doch er brannte nicht. Boric hielt
das Moos fluchend immer wieder an die Lampe, bis das Feuer ihm die Finger
versengte und er es mit einem Aufheulen der Verzweiflung fallenließ.
Im letzten ersterbenden Licht sah er Val'els friedliches Gesicht, dessen
Augen träumerisch in die Ferne blickten. Dann schloß sich die
Dunkelheit um sie.
"Ich werde wahnsinnig", sagte Boric und wußte,
daß es die Wahrheit war. Nie wieder würde er sein, was er gewesen
war, selbst wenn er - was er nicht mehr glaubte - jemals aus dem Berg herausfand,
der ihn festhielt. Einen Augenblick lang hatte er daran gedacht, Gelen
oder Val'el anzuzünden, um das Licht noch eine kurze Zeit lang festzuhalten,
und das Bild eines brennenden Körpers stand ihm zu deutlich und entsetzlich
verlockend vor Augen.
"Laß uns weitergehen", sagte Gelen.
Doch er reichte ihm nicht die Hand, als hätte er seine Gedanken erraten,
sondern zog nur den Jungen mit sich. Boric hörte die Schritte und
schloß sich ihnen an. Immer noch sah er Val'els friedliches Gesicht
vor sich. Ob es wohl auch noch friedlich gewesen wäre, wenn er ihn
angezündet hätte? Er stellte sich das faltenlose Gesicht vor,
umgeben von einem Flammenkranz. So viel Schönheit... so viel Licht.
Der Gang gabelte sich wohl wieder; sie wußten
es nicht. Sie tasteten sich auch nicht mehr an der Wand entlang; es war
ihnen gleichgültig geworden, ob sie stürzten oder in eine plötzlich
auftretende Spalte fielen. Der Tod erschien ihnen hell und freundlich.
Sie hielten die Hände nur nach vorne, um nicht gegen die Wände
zu laufen.
Dann plötzlich stolperte Gelen und fiel
nach vorne. Da er Val'el festhielt, gegen seinen Willen, denn er wollte
ihn ja nicht mit in den Tod reißen, konnte er sich nur mit der anderen
Hand abstützen und stürzte schwer auf etwas Kantiges, das vor
ihm aufragte. Seine Schienbeine, seine Hüfte und Schulter schlugen
gegen Stein. Sein Kopf prallte auf eine Kante, und er verlor das Bewußtsein.
Val'el, den er nach vorne gerissen hatte, fiel auf die Knie, aber er verletzte
sich nicht. Still und verständnislos blieb er, wo er war.
Boric hörte nur die Geräusche des
Sturzes und ein kurzes Stöhnen. Vorsichtig tastete er sich nach vorne,
ließ sich dann auf Hände und Knie hinunter und tastete mit den
Fingern über den Boden, gefaßt auf eine bodenlose Schlucht.
Doch seine Finger berührten nur Stoff und warme Haut.. Er zuckte zurück.
"Gelen?"
Er erhielt keine Antwort. Er fuhr mit den
Fingern über den Körper zum Gesicht.
"Val'el?"
Niemand antwortete. Der Mann, der gestürzt
war - er wußte nicht, welcher von beiden es war, aber es mußte
wohl Gelen sein, denn sonst hätte er ihm doch geantwortet -, rührte
sich nicht. Boric suchte blind nach dem Hindernis. Seine Hand traf auf
glatten, behauenen Stein, auf eine Kante, anders als in all den furchterregend
gleichartigen Gängen des Labyrinths. Es war eine Treppe. Schluchzend
vor Furcht und Hoffnung begann Boric hinaufzukriechen, Stufe um Stufe,
bis er an eine Tür kam, die seit tausend Jahren nicht geöffnet
worden war. Er zog sich an den eisernen Verzierungen hoch und stand schwankend
auf den Füßen. Er tastete nach dem Riegel, aber es gab keinen
Riegel, nur einen schweren Knauf, der sich nicht drehen ließ. Er
drückte dagegen, dann zog er daran. Die Tür schwang nach außen
auf und hätte ihn beinahe die Treppe hinuntergeworfen, aber er klammerte
sich an den Rahmen und blieb oben.
Er stand im Licht. Tausende von kleinen Lichtern
spiegelten eines wieder, das von hoch oben herabfiel, und der Glanz blendete
den Mann, der so lange in Dunkelheit gewandert war. Er blinzelte gegen
die Helligkeit an, bis er sich an sie gewöhnt hatte und erkannte,
daß er sich nicht im Freien befand, wie er zuerst geglaubt hatte,
sondern in einem Saal, dessen Boden mit funkelnden Gegenständen bedeckt
war. Er brauchte eine ganze Weile, bis er begriff, daß er den Schatz
des Zwergenvolkes gefunden hatte. Zitternd trat er einen Schritt nach vorne
und blieb jäh stehen.
In der Mitte des Saales, umgeben von Gold
und Edelsteinen, stand eine uralte Frau und sah ihn an.
Er war so betäubt von dem gleißenden
Glanz, daß er nur dastehen und sie anglotzen konnte. Die Frau hob
einen zaundürren Arm und zeigte genau auf ihn. Mit lauter, zorniger
Stimme sagte sie: "Du wirst von hier fortgehen. Diese Dinge sind mir anvertraut.
Sie sind nicht für dich bestimmt."
Er begriff ihre Worte nicht. Er war doch wegen
dieses Schatzes hierhergekommen, wegen des Lichtes, das darauf funkelte
-
Er trat einen Schritt weiter nach vorn.
Die Frau sagte: "Noch einen Schritt, und ich
werde dich töten."
Er blieb stehen. Überall war Licht, er
konnte sich nicht sattsehen daran. Doch plötzlich erhielt er aus dem
Nichts einen Schlag gegen die Brust und taumelte rückwärts. Ein
weiterer Schlag trieb ihn die Treppe hinunter, weg vom Licht. Er heulte
auf. Nur mit Mühe erkannte er seine eigene Stimme. "Gib mir das Licht!
Das Licht! Ich will nur das Licht!"
Die Tür schlug zu und ließ ihn
in der Dunkelheit, allein mit einem bewußtlosen Mann und einem Jungen,
der nicht mehr sprechen konnte. Doch er hörte ihre Stimme. "Das Licht
hat einen Preis."
"Was du willst", flüsterte er.
"Ein Leben", sagte sie. "Eins bekam der Wächter
am Tor. Ein zweites bekam der Wächter in der Höhle. Ein drittes
will ich für die Dunkelheit unter der Erde."
Er packte Val'el, zerrte ihn hoch und stieß
ihn in die Richtung der Stimme.
Doch sie sagte kalt: "Ihn will ich nicht.
Was soll ich damit? Er hat keine Seele, er gehört dem Wächter
in der Höhle."
Er zögerte. Sein ganzes Leben lang würde
er sich daran erinnern, daß er wenigstens gezögert hatte. Dann
sagte er: "Hier ist noch einer. Nimm ihn, aber gib mir das Licht!"
Stille.
"Wo bist du?" schrie er.
"Ich bin hier", sagte die Stimme. Nichts Menschliches
lag darin. "Ich nehme ihn. Du bringst den anderen fort von hier, aus dem
Berg hinaus. Ich werde die Gänge erhellen, die dich und ihn nach draußen
führen. Geh jetzt, und geh schnell." Links von der Treppe begann etwas
zu schimmern, wurde heller. Rings um die drei Männer erschienen die
Konturen eines schmalen Ganges, der von der Schatzkammer und dem Labyrinth
fort nach oben führte. Er faßte Val'el am Arm und zerrte ihn
mit sich, aber er drehte sich, von einem unwiderstehlichen Zwang getrieben,
noch ein letztes Mal um und sah Gelen, der sich eben halb aufrichtete und
ihn aus aufgerissenen Augen vollkommen fassungslos anstarrte. Da drehte
er sich um und floh. Er rannte durch die leeren, hellen Gänge, ohne
die Edelsteine zu sehen, die zu beiden Seiten aufgetürmt waren, und
hinter ihm her rannte Val'el, schweigend und ohne Seele. Sie rannten durch
eine Stadt, die in den Fels gehauen war, und durch einen letzten Gang,
der an einer Tür endete. Die Tür schwang auf, als sie sie erreichten,
und sie stolperten hinaus in das Licht des Tages, das Licht eines leuchtenden,
weiten Himmels und der unendlichen Ferne. Die Tür fiel hinter ihnen
ins Schloß, und als Boric sich nach ihr umwandte, konnte er ihre
Umrisse nicht mehr erkennen; er sah nur nackte Felsen.
So kehrte Boric aus dem Berg des Zwergenvolkes
zurück, und er brachte einen Jungen mit, der nicht mehr sprechen konnte.
Er selbst betrat während seines ganzen Lebens kein Haus und keine
Halle mehr; er konnte die Dächer und die Dämmerung nicht mehr
ertragen.
Aber Gelen kehrte nie wieder aus dem Berg heim,
und niemand, der über die Erde ging, hörte oder sah jemals wieder
etwas von ihm, und die Tore zum Berg blieben verschlossen.
|