Ein Weihnachtsdrachenmärchen von Marc Kuhn

Schwer rumpelten die Wagenräder über den alten Waldpfad. Schnee knirschte und Eis zerbarst in ihrer Spur. Allerlei Gepäck und Werkzeug, außen festgezurrt, um im Inneren ein wenig Raum zu schaffen, klirrte und klapperte bei jeder kleinen Unebenheit vor sich hin.
Das Holz des betagten Schaustellerwagens knarrte so klagend, als wären es die Knochen eines alten Mannes, die sich darüber beschwerten, bei einem solchen Wetter vor die Tür zu müssen, anstatt zu Hause vor dem wohlig warmen Kamin zu sitzen.
Und doch schluckte das dichte Schneegestöber, das nicht einmal die Bäume des Waldes abhalten konnten, jedes dieser Geräusche und verwandelte den Wagen für die, die in ihm reisten, in eine abgeschiedene kleine Welt.
Tief hing eine einstmals prächtig rote Plane über den sie haltenden Stangen und wurde nur gelegentlich durch einen eisigen Windstoß von ihrer weißen Last befreit, nur um sogleich wieder von den dicht herabfallenden Flocken bedeckt zu werden.
Dampf stieg aus den Nüstern der beiden alten Gäule, die sich mühsam Schritt für Schritt vorwärts kämpften und nur noch aus Gewohnheit und erschöpfter Gleichgültigkeit vorwärts stapften.
Der Mann, der ihre Zügel hielt, war kaum zu erkennen unter all den Lagen Stoff und Leder, die er um seinen Leib geschlungen hatte. Ein schwerer Hut mit breiter Krempe hing ihm soweit ins Gesicht, daß man es nicht erkennen konnte, abgesehen von einem beeindruckenden Bart, der wegen seiner Länge und seiner grauen Farbe auf ein hohes Alter schließen ließ.
Zusammengesunken saß er auf seinem Kutschbock. Die Zügel verschwanden irgendwo unter seiner Kleidung und hätte nicht auch sein Atem bisweilen Gestalt angenommen, hätte man nicht sagen können ob er lebte oder nicht.

Ein kleiner Spalt erschien in der Plane hinter ihm, geschaffen durch ein schmales Paar Hände.
Kurz schimmerte das schwache und flackernde Licht einer kleinen Öllampe auf dem Rücken des Mannes, bis das Gesicht einer Frau erschien und den Spalt ausfüllte, indem sie die Plane gegen die Kälte um sich zusammenzog. 
Tiefe Sorgenfalten durchzogen ein Gesicht, das man sonst auf den ersten Blick hätte anziehend finden können, umrahmt von einem dicken, langen und ungekämmten Wust von schwarzem Haar.
Als sie den Mund öffnete, musste sie rufen, um das Wetter und die beständigen Geräusche der beschwerlichen Reise zu übertönen: "Wie lange noch, Vater?"
Bewegung kam in die Gestalt des vermummten Fahrers, als er den Kopf zur Seite wandte, um ihr zu antworten. Nur zögerlich kamen seine Worte: "Ich bin mir nicht sicher. Der Schnee macht mich fast blind, so dicht ist er. Ich konnte lange keine Wegmarkierung mehr erkennen."
"Sind wir überhaupt noch auf dem richtigen Weg?" fragte sie ihn plötzlich voller Sorge.
Wieder zögerte er, doch entschloss sich dann ehrlich zu sein: "Ich weiß es nicht. Aber stehen zubleiben ist bei diesem Wetter auch keine Lösung. Wir werden weiterfahren, solange bis wir einen geschützten Ort erreichen."
Wie unwahrscheinlich ihm dies in jenem Moment vorkam, wollte er vor ihr nicht eingestehen. So sprach er beruhigend auf sie ein: "Kümmere dich wieder um die Kleine. Du wirst schon sehen, wir sind schneller wieder im Warmen als du es erwartest."
Selbst konnte er nicht recht daran glauben und die Sorge um seine kleine Familie wuchs in ihm, aber seine Tochter verschwand wieder ins Innere des Wagens.

Dort war es nicht viel wärmer als draußen, aber immerhin hielt die Plane den Wind und den Schnee von ihr fern und die Öllampe schuf mit ihrem Glimmen einen kleinen Bannkreis gegen die kalte Realität.
Zwischen ein paar Decken glitzerte ihr ein junges Paar Augen entgegen, das sie erwartungsvoll anblickte.
"Hältst du es noch ein wenig länger aus mein tapferer Engel? Großvater meint wir sind bald im Warmen", wiederholte sie die beruhigenden Worte ihres Vaters, obwohl auch ihr bewusst war, daß sie damit wahrscheinlich log.
Doch wusste sie einfach nicht, was sie ihrer jungen Tochter sonst hätte sagen sollen. Hier draußen im Wald, an diesem besonderen Abend des Jahres, wenn die Hoffnung eigentlich die Herzen der Menschen erfüllen sollte.
Ein wenig wütend war sie schon auf ihren Vater, dessen Entschluss es gewesen war, sie auch an diesem Abend, den andere Familien im Kreise ihrer Liebsten in der warmen Stube verbrachten, auf die Straße zu zwingen. Auch wenn sie verstand, daß die ständige Wanderschaft nun mal das Los der Spielleute war, wenn sie hoffen wollten genug zum Überleben zu verdienen. Und gerade die Aussicht auf das leidige Geld war es gewesen, das sie nun in diese Situation gebracht hatte. Die Hoffnung auf das Weihnachtsfest eines adeligen Grundbesitzers, das mit dem Versprechen auf einen anständigen Lohn und einen warmen Platz zum Schlafen im Gesindehaus gelockt hatte.
Nur waren sie kurz nach ihrem Aufbruch in dieses schlimme Wetter geraten, das ihrem Vater die Orientierung raubte mit all dem Schnee, der die Konturen der Landschaft und die alten Wegemarken bedeckte.  Nicht lange und sie würden sich überhaupt nicht mehr zurechtfinden, wenn sich erst einmal die Nacht über sie senken und das letzte bisschen Sicht rauben würde. 
Ihre große Hoffnung war es nun wenigstens einen einigermaßen sicheren Ort zu finden, der ihnen Schutz vor dem Wind und eine Möglichkeit ein Feuer zu entzünden gewähren würde. Ansonsten wären sie der Kälte und ihren düsteren Folgen ausgeliefert.
Eine kleine Hand kämpfte sich unter den schweren Decken hervor, gefolgt von einer neugierigen Hundeschnauze, und streckte sich ihr fordernd entgegen. Sie musste lächeln.
"Bleibt ihr beide nur wo ihr seid", sagte sie zu ihrer Tochter und dem kleinen Hund, die sie beide in die Decken gepackt hatte, damit sie sich gegenseitig wärmten: "Sonst fangt ihr an zu frieren und das wollt ihr doch nicht."
Zwar sagte ihr der Blick ihrer Tochter, daß sie gerne selbst darüber entschied was sie wollte, doch die kurze Berührung ihrer Hand mit der kalten Luft war anscheinend überzeugend genug. Die Hand verschwand und nahm das Hundeköpfchen mit sich.
Kurz legte sie ihrer Tochter die Hand auf den Kopf um sie zu beruhigen. Dann entschloss sie sich nach ihrem Vater zu sehen. Schließlich war er dem Wetter schlimmer ausgeliefert als sie selbst.
Gerade als sie die Plane beiseite ziehen wollte, kam der Wagen holpernd zum stehen. Sie rutschte nach vorn und behielt nur mühsam das Gleichgewicht. Die Plane wurde beiseite gezogen und sie fand sich Angesicht zu Angesicht ihrem Vater gegenüber. 
"Sieh nur", meinte er und deutete hinter sich ins Schneegestöber.
 Die Kälte ignorierend drängte sie sich an ihm vorbei und versuchte trotz Wind und Schnee auszumachen, was er ihr zu zeigen versuchte. Als sie zuerst nichts sah, wollte sie schon fragen, auf was sein ausgestreckter Arm denn nun eigentlich gerichtet sei, als sie gegen den dunklen Hintergrund einen noch dunkleren Schatten wahrnahm. Langsam begriff sie, was sich ihr hier offenbarte.
Der Wagen befand sich vor einer steilen Felswand und der Schatten den sie wahrgenommen hatte, war ein Höhleneingang. Sie seufzte.
"Unsere Bleibe für die Nacht?" fragte sie und wieder ging ihr dabei der Gedanke durch den Kopf, daß man den Heiligen Abend anders verbringen sollte.
"Eine Chance diese Nacht zu überleben", antwortete ihr Vater.
 
Sie stellten den Wagen quer in den Eingang der großen Höhle. Benutzten ihn so gut es irgend ging als Schutz gegen den Wind und begannen damit das wenige trockene Feuerholz, das sie mitgebracht hatten, aufzuschichten.
Geschickt schaffte es der alte Mann das Feuer zu entzünden und soweit zu nähren, daß sie langsam begannen seine Wärme zu spüren. Dicht drängten sie sich um die Flammen, um ihren kalten Gliedern wieder etwas Gefühl zurück zu geben. Auch der Hund vergaß seinen Respekt vor den Flammen und legte sich so dicht vor das Feuer, daß man Angst bekommen musste sein Fell würde anfangen zu rauchen.
Der Schein des Feuers ließ sie nun auch mehr von ihrer Umgebung erkennen. Wenn auch nicht viel. Das Licht tanzte neben ihrem Wagen über vom Winter gelb gefärbte Moosflechten, die sich um das Maul der Höhle schmiegten und so weit in ihr Inneres vordrangen, wie es Sonne und Wasser in wärmeren Jahreszeiten wohl zuließen.
Daran schloss sich der nackte, kalte Fels an, der sie nun umgab und sich weit über sie wölbte, nur um sich wieder in den Schatten zu verlieren. Es war unmöglich zu erkennen, wie weit sich die Höhle noch erstreckte. Doch schien es weit zu sein, da der Rauch ihres Feuers dorthin zog, sie aber nicht den Eindruck hatten, er würde sich sammeln.
Das war denen, die hier Schutz gefunden hatten aber auch egal. Geschützt vom Wind, gewärmt durch die Flammen, starrten sie hinaus in das Schneegestöber.

Schuld begann sich in dem alten Mann zu regen, als die dringende Sorge seine Lieben für die Nacht in Sicherheit zu wissen zusammen mit der Kälte aus seinen Knochen verschwand. Nun hatte er Gelegenheit darüber nachzusinnen, wie dumm es gewesen war ausgerechnet heute auf die Straße zu gehen und sie den Gefahren des Winters auszusetzen. 
Sein Blick wanderte über seine kleine Familie. Seine Tochter, die ihre Arme um seine Enkelin geschlungen hielt und sie mit ihrem eigenen Körper wärmte, während die Kleine ihre Hände im Fell des Hundes vergraben hatte.
Sie hatten es nicht verdient hier in dieser Höhle zu sitzen und gegen die Kälte zu kämpfen. Ganz besonders nicht in dieser Nacht. Er seufzte.
Als seine Tochter fragend zu ihm herübersah, schüttelte er nur leicht den Kopf und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das sie auch sogleich müde erwiderte. Seine Enkelin dagegen war schon eingeschlafen und auch die Flanken des Hundes hoben sich nur noch sehr selten und ruhig. Nicht lange, und alle drei schliefen tief und fest. Erschöpft durch die Reise und eingelullt durch die Wärme des Feuers.
Nur der alte Mann zwang sich wach zu bleiben um über sie und die Flammen zu wachen.
Lange saß er so und grübelte über das Leben nach, das sie führten. Schon lange hatte er den Wunsch gehabt sich irgendwo zur Ruhe zu setzen und es vor allem seiner Tochter zu ermöglichen ihr Kind wohlbehütet aufzuziehen. Aber seit das Unglück vor ein paar Jahren ihm sein Weib und ihr ihren Mann geraubt hatte, waren sie einfach nie mehr auf einen grünen Zweig gekommen und hatten sich mehr schlecht als Recht durchgeschlagen.
Das das Schicksal sie aber nun am Heiligen Abend in eine kalte Höhle verschlug, empfand sogar er, der sich schon mit viel hatte abfinden müssen, als ungerecht.

Mit einem Stöhnen und Schmerzen in den alten Knochen erhob er sich, um vom Wagen mehr Brennholz zu holen, das ihm helfen sollte, das schon ein wenig hernieder gebrannte Feuer zu nähren. Erschrocken musste er allerdings feststellen, daß sie bei weitem nicht mehr so viel geladen hatten, wie er angenommen hatte.
Er schleppte das wenige, das sie noch hatten zurück zur Feuerstelle, was die Flammen noch einmal befriedigend auflodern ließ, was ihm vor allem das flüchtige Lächeln seiner Enkelin bewies, die sich noch enger in die Arme ihrer Mutter kuschelte und dabei am Fell des Hundes zog, der aber selbst zu träge war sich zu beschweren und sich auch noch halb über sie legte um ihren Händen entgegen zu kommen. Das entlockte ihrem Großvater ein zufriedenes Grinsen, das sich sogleich jedoch wieder in Sorgenfalten verlor, als er darüber nachzugrübeln begann, woher er weiteres Brennmaterial nehmen solle.
Aus dem Wald, war es nicht möglich. Bei diesem Schneesturm würde er kein Stück trockenes Holz mehr finden, so sehr er sich auch bemühte. Zudem wäre es Wahnsinn gewesen, einen Schritt vor die Höhle zu wagen.
Da kam ihm der Gedanke, daß es vielleicht schon andere Reisende gegeben haben mochte, die diesen Ort als Zufluchtsstätte genutzt und dabei etwas Nutzbares hinterlassen hatten. Er griff einen brennenden Scheit aus dem Feuer und begann damit die Höhle näher in Augenschein zu nehmen.
Doch schien seine Suche vergebens. Immer weiter wagte er sich in die Dunkelheit voran, fand aber keine Spuren anderer Reisender, geschweige denn etwas Brennbares. Als er sich umwandte wurde ihm klar, daß er schon eine größere Strecke zurückgelegt hatte, als er sich bewusst gewesen war. 
Der Widerschein ihres Feuers war nur noch schwach um eine Biegung im Verlauf der Höhle herum zu erkennen. Es schien unnötig noch weiter zu gehen. So tief wie er jetzt war, wäre wohl kein anderer Reisender gekommen. Und doch zog ihn etwas weiter. Es widerstrebte ihm aufzugeben und zudem taten seine Glieder einfach weniger weh, wenn er sie bewegte. Für einen Platz am niederbrennenden Feuer war immer noch Zeit.
So beschloss er noch ein wenig weiter vorzudringen. Vielleicht hatte er ja doch noch Glück.
Schritt für Schritt arbeitete er sich so vorwärts und bemerkte erst, als er seinen Hut abnahm, daß ihm wärmer wurde, als durch seine Anstrengung erklärbar war.
Verwirrt hielt er inne und hob eine Hand an seine Wange, nur um sie dann von sich zu strecken, als wolle er in der Luft nach etwas Unsichtbarem greifen. Und ja, er hatte sich nicht getäuscht. Die Luft war hier wärmer und als er ein paar Schritte weiterging erschien sie ihm auch noch wärmer zu werden.
Seine Haare stellten sich jedoch auf, als er merkte, daß er auch noch weiter sehen konnte, als es im Hinblick auf seine improvisierte Fackel eigentlich möglich war. Ein goldener Schein umgab ihn und erfüllte seine Umgebung mit einem gespenstischem Leuchten.
Angst erfüllte ihn. Doch er wich nicht zurück. Diese Wärme konnte schließlich die Lösung seiner Sorgen sein. Nur wagte er es nicht seine Familie zu holen, bevor er nicht wusste woher sie stammte und ob sich eine Gefahr dahinter verbarg.
Bange schlich er immer weiter in die stärker werdende Wärme und das Leuchten hinein, auf der Suche nach einer Erklärung. 
Als er eine weitere Biegung umrundete bekam er sie. 

Vor ihm öffnete sich ein großer Raum. Durchflutet vom goldenen Leuchten und der Wärme eines Sommertages. Doch war es nicht das, was seine Aufmerksamkeit fesselte, sondern das märchenhafte Bild, das sich ihm bot.
Auf einem Haufen, nein man musste es schon eher einen kleinen Berg nennen, bestehend aus allem was Menschen wertvoll fanden, angefangen bei Gold und Silber, Edelsteinen und anderem Geschmeide, wertvollen Pelzen und feinsten Stoffen, edlen Waffen aus blankem Stahl und feinstem Elfenbein bis hin zu Wundern und Spielereien, die ein einfacher Schausteller nicht benennen konnte, lag eine Kreatur, von der das Leuchten ausging und die die Pracht ihres Ruhelagers aufs perfekteste ergänzte.
"Ein Drache!" fuhr es ihm schnell durch den Kopf bevor es sein Unglaube verhindern konnte. Wie auch sonst sollte er das, was er sah, beschreiben, wenn nicht mit diesem Wort, das er aus den Geschichten seiner Kindheit kannte.
Sein Blick lag gebannt auf dem langen, von silbrigen Schuppen bedecktem Körper der Kreatur. Wanderte über den mächtigen Leib, die riesigen Schwingen, die sich eng angelegt hatten, den langen gebogenen Hals entlang bis hin zum langgestreckten Kopf, der geziert war von einem hoch aufragenden Knochenkamm. Die Augen der Kreatur waren geschlossen.
Zitternd betrachtete der alte Mann die Reichtümer, die vor ihm lagen und das Wesen, dem sie gehörten. Hier lagen Schätze, deren geringster Teil seinen Traum vom friedvollen Lebensabend mehr als erfüllen konnte. 
Seine Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Die Kreatur schien zu schlafen. Sollte er es wagen? Sollte er versuchen auch nur einen der edlen Steine oder eine andere Kostbarkeit zu rauben, um seiner Familie endlich das zu geben, was er sich wünschte? Sollte er dieser wunderschönen Kreatur das rauben, was er selbst soviel nötiger brauchte?
Nein. Das konnte er nicht. Sein ganzes Leben war er ehrlich gewesen und bemüht, anderen kein Unrecht angedeihen zu lassen. Selbst für seine Familie konnte er sich nicht ändern. Wollte sich gar nicht ändern. Oder sollten sie etwa ein Leben führen, das auf etwas Schlechtem begründet war?
Nach einem langen letzten Blick, der eher zu einem staunenden Kind, denn zu einem alten Mann passte, wand er sich ab, um zu seiner Tochter und seiner Enkelin zurück zu kehren. Fest in seinem Entschluss, sie von diesem Ort und dieser Kreatur weg zu bringen, um sie keinem Risiko auszusetzen. Besser arm, ehrlich und am Leben, dachte er sich.

"Ich bin erstaunt, Mensch", grollte eine tiefe Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr er herum und sank zu Boden, als seine Beine unter ihm nachgaben als Reaktion auf das, was er sah.
Der Drache hatte sich lautlos erhoben und sein Körper hatte sich zu seiner ganzen Größe entfaltet, als er nun auf seinem Schatz stand und sein Haupt dem Eindringling entgegen streckte. 
Tief golden glänzende Augen waren weit geöffnet und musterten mit einer tiefen Würde aber auch echter Neugier den alten Mann. Das Maul der Kreatur war leicht geöffnet und man sah eine gespaltene Zunge zwischen den nadelspitzen Zähnen tanzen.
"Ich bin erstaunt", wiederholte der Drache: "Ihr wollt einfach wieder gehen? Kein Versuch, mich zu berauben? Sehr seltsam für ein Wesen eurer Art."
Der Alte wollte antworten, brachte aber zunächst kein Wort heraus. Zu sehr band ihm die Angst, das Unglaubliche an der Situation, die Zunge. Doch letztendlich brachen mühsam ein paar Worte aus ihm hervor: "Ich bin kein Dieb, Herr. Ich wollte eure Ruhe nicht stören. Wir suchten nur Schutz..."
"Wir?" fragte der Drache und schien an dem Mann vorbei zu sehen. "Ah, ein Weibchen, ihr Balg und dessen Spielgefährte nehme ich an? Ich habe tief geruht, daß ich eure Anwesenheit nicht früher bemerkte." Er wirkte nachdenklich.
"Schutz vor was?" fragte er schließlich.
"Vor dem Wetter und der Nacht, Herr", antwortete der alte Mann mit kaum hörbar verschreckter Stimme.
"Hmmm? Dem Wetter? Ich hatte vergessen wie zerbrechlich ihr kleinen Wesen doch seid. Doch warum ausgerechnet hier und jetzt? Schon seit Jahrzehnten hat sich niemand mehr hierher verirrt zu dieser Zeit des Jahres?" Interesse schien aus den Augen der Kreatur.
"Wir waren auf dem Weg zu einem Weihnachtsfest, Herr. Wir kamen im Schnee vom Weg ab." Die Tatsache, daß er noch immer nicht gefressen worden war und das dieser Drache mit ihm sprach, lies den alten Mann seine Stimme wieder finden. Nur die Angst um seine Kinder blieb.
"Weihnachten? Ah, ja, ich entsinne mich. Eine der besseren Erfindungen von euch Menschen. Aber hatte das nicht etwas mit Liebe und Familie zu tun? Doch wohl eher weniger mit kalten Höhlen und dem Herumschnüffeln bei Drachen, oder?" Der Drache hatte sich bei diesen Worten wieder auf seinem Ruhelager niedergelassen. Keine Bedrohung schien mehr von ihm auszugehen, nur Neugier.
In seinen Schuldgefühlen getroffen antwortete der alte Mann: "Ihr habt Recht, Herr. Wir sollten nicht hier sein. Wir sollten stattdessen das Weihnachtsfest an einem angemessen Ort feiern. Es ist meine Schuld...". Sein Kopf sank bei diesem Worten immer tiefer auf seine Brust, als er sich seiner eigenen Scham in Anbetracht dieser edel wirkenden Kreatur bewusst wurde.
Ein amüsiertes Schnauben lies ihn seinen Kopf wieder heben.
"Ihr seid mir wahrlich ein interessantes Menschlein. Nicht nur, daß ihr keiner der üblichen Diebe seid, die sich früher einmal hierher verirrt haben, nein, ihr steht auch noch hier vor mir und macht euch Gedanken darüber, daß ihr eurer Familie nicht euer abergläubisches kleines Fest würdig bieten könnt. Anstatt euch Sorgen um euer eigenes kleines Leben zu machen. Sehr amüsant."
Angst und Respekt hin oder her, um ausgelacht zu werden waren die Gedanken des Alten zu schwermütig. Trotzig richtete er sich deswegen dem Drachen gegenüber auf und meinte: "Es tut mir leid, Herr, eure Ruhe gestört zu haben, aber wir werden uns gerne wieder auf den Weg machen, wenn unsere Anwesenheit euch stört." Nur weg von hier flüsterte in ihm eine Stimme, auch wenn seine Worte nach außen vielleicht tapfer klangen.
Als er sich abwenden wollte, hielten ihn die Worte des Drachen zurück: "Seid kein Narr alter Mensch. Euer Feuer ist fast erloschen. Der Sturm tobt immer noch und es ist mitten in der Nacht. Ihr würdet den kommenden Morgen nicht mehr erleben, wenn ihr jetzt davon rennt."
Kein Spott lag in diesen Worten. Nur die bittere Wahrheit.
Ein langgezogenes Drachenseufzen grollte durch den Raum und ließ die Zähne des Alten klappern.
"Holt eure kleine Familie her. Wenn sie auch nur halb so interessant wie ihr ist, dann möchte ich sie kennen lernen. Gegen ein wenig Abwechslung in meiner Ruhe habe ich nichts einzuwenden", sprach der Drache und ließ sich wieder auf sein Bett aus Kostbarkeiten nieder sinken. 
Der Alte erschrak ob dieser Worte und wusste zuerst nicht was er tun sollte. Doch war ihm die Wahrheit in den Worten des Drachen bewusst. Aus der Höhle zu fliehen bedeutete wahrscheinlich das Ende für die Seinen. Wenn sie allerdings hier blieben, machte es auch keinen Unterschied, ob sie am Eingang der Höhle froren oder ob sie hierher kamen, wo es warm war. Für den Drachen war das bedeutungslos. War er eine Gefahr, konnten sie ihm nicht entkommen.
Letzten Endes siegte die Wärme und das goldene Licht über die Angst. Der Alte stapfte los, um die Seinen zu holen.

Nicht lange und er kehrte mit seiner Tochter an der Hand, seiner Enkelin auf dem Arm und einem jungen Hund zwischen seinen Beinen zurück.
Der Zweifel am geistigen Gesundheitszustand ihres Vaters, den sie hegte, seit er sie am Feuer aus ihren Träumen gerissen und etwas von einem Drachen gefaselt hatte, verflog, als die junge Schaustellerin mit dem selben Anblick konfrontiert wurde, der schon zuvor ihren Vater überwältigt hatte. Ihre Tochter gluckste auf seinem Arm und wedelte mit ihren Händchen in der Luft herum, als wolle sie all den Glanz, der ihre Augen lockte, aus der Luft pflücken.
Der Hund saß zwischen ihren Füßen und wirkte, als wisse er nicht ob er bellen oder winseln, angreifen oder flüchten solle. Letztendlich saß er einfach nur stocksteif da.

Mit einem amüsierten Glitzern in den Augen erwiderte der Drachen die Aufmerksamkeit seiner Gäste und betrachtete die drei Menschen, die ihm das Wetter in seinen Hort getrieben hatte. Nicht sehr beeindruckend kamen sie ihm vor, wie sie da in ihrer zusammengewürfelten Winterkleidung vor ihm standen.
Der Alte, mit seinem Hut in der Hand und seiner Enkelin auf dem Arm, schaffte es zugleich trotzig und beschützend vor seinen Kindern zu stehen wie auch verschreckt zu wirken.
Seine Tochter war gefangen vom Glanz seiner Höhle vergaß darüber aber nie ein Auge auf ihr Kind zu haben, während ihr wacher Blick alles in sich aufnahm.
Der Blick der Kleinen hingegen verlor sich völlig im Glitzern seiner Schätze und er hätte schwören können, daß sie ihn anlächelte.
Sie waren eine interessante kleine Abwechslung in seiner winterlichen Ruhe. Soviel stand fest.
"Habt keine Angst. Ich werde euch nichts tun", sagte er und rollte sich dabei auf seinem Ruhelager ein wenig weiter zusammen: "Setzt euch dort drüben hin und erzählt mir ein wenig von eurer Menschenwelt dort draußen." Erwartungsvoll blickte er ihnen entgegen. Geschichten waren für einen Drachen immer interessant.
Als die Menschen sich jedoch nicht rührten, grollte er ein wenig frustriert: "Ich sagte doch euch droht keine Gefahr von mir. Glaubt ihr etwa ich würde euch fressen?"
Verschüchtert setzten sich die Menschen doch noch in Bewegung und nahmen an der bezeichneten Stelle Platz. Der Drache musste dabei ein Lachen unterdrücken, als seine scharfen Ohren ein geflüstertes: "Das ist mir durchaus in den Sinn gekommen..." der Frau wahrnahm.
Auf sein erneutes Fragen hin begannen sie zögerlich von sich und den neuesten Geschehnissen in ihrer Welt zu berichten. 
Gebannt lauschte der Drache ihren Worten und seine Aufmerksamkeit brachte sie dazu immer mehr von sich und ihren Reisen zu offenbaren.
Mitleid mit den Menschen regte sich in ihm, als er die altbekannten Geschichten von Armut, Krieg, Krankheit und Leid vernahm, die sich in seinen Augen schon immer mit dieser Rasse verbunden hatten. Nichts schien sich geändert zu haben, seit er seine Aufmerksamkeit zum letzten Mal der Welt geschenkt hatte. Wie so oft fragte er sich, wie diese Wesen überhaupt weiterleben konnten, verglichen mit seiner eigenen Existenz, die bestimmt war durch seine Magie, seine Macht und dem Wissen, daß er der völlige Herr über sein Schicksal war in dieser Welt, die ihm in diesen Dingen nichts ebenbürtiges bot.
"Warum?" flüsterte er deshalb nach einer Weile.
"Warum was, Herr?" antwortete ihm der Alte, der erschrocken in seinen Erzählungen innehielt. 
"Warum macht ihr Menschen bei all dem Leid und der Unsicherheit in eurem Leben immer weiter? Was treibt euch an?"
Bestürzt blickte der Alte in seine fragenden Augen und wusste keine Antwort. Ein verlegenes Schweigen senkte sich über den Raum.
Schon begann sich der Drache damit abzufinden keine Antwort zu erhalten, als sich die junge Frau erhob, ihrem Vater ihre Tochter aus dem Arm nahm und mit ihr zusammen ein paar Schritte auf den Drachen zutrat.
"Vergebt mir Herr, aber hier habt ihr eure Antwort", flüsterte sie und streichelte dabei über den Kopf ihrer Tochter.
Verwirrt blickte der Drache sie an und verstand nicht recht, was diese Menschenfrau ihm sagen wollte.
"Ich kann es nicht wirklich in Worte fassen, Herr. Aber seht euch mein Kind an", und dann, nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, meinte sie: "Vielleicht gibt es doch einen Weg."
Sie begann zu singen.
Langsam gewann ihre Stimme an Kraft und der Drache lauschte der traurig beginnenden Melodie, die ihn, durch die klare Schönheit ihrer Stimme in seinen Bann zog. 
Es war ein Weihnachtslied. Sie sang von Freude, von Liebe und der Hoffnung. Von ihrer Hoffnung auf ein gutes Leben, auf Gerechtigkeit und der Verbundenheit unter den Menschen. 
Erstaunt nahm der Drache wahr, daß sich das anfänglich traurige Lied, das dem entsprochen hatte, was er in seinem Mitleid für die Menschen empfunden hatte, immer mehr zu einer wunderschönen Melodie wandelte, die ihm half zu verstehen.
Lange lauschte er ihrer Stimme. Nahm in sich auf, was sie ihm schenkte.
Dann verklangen die letzten Töne.
Wieder senkte sich ein Schweigen über die Höhle. Doch diesmal war es keine Verlegenheit, sondern das Zögern diesen verzauberten Moment zu zerstören.
Als es dann endlich geschah, war es durch das Glucksen der Kleinen, die mit einem strahlenden Lächeln ihrer Mutter in die Haare griff und zu ziehen daran begann, um damit Aufmerksamkeit einzufordern. Ebenfalls lächelnd befreite ihre Mutter ihre Haare aus ihrem Griff und wandte sich dem Drachen zu, um zu fragen: "Habt ihr verstanden, Herr?"
Nachdenklich blickte er auf sie herab. "Das habe ich", musste er sich und ihnen dann erstaunt eingestehen: "Ihr überrascht mich. Soviel Freude hatte ich in eurer Existenz nie gesehen. Ich danke euch. Ihr habt mir heute ein großes Geschenk gemacht."
Verschmitzt grinste ihn die Sängerin an: "Es ist Weihnachten, Herr." Er lächelte auf sie herab. "Das ist es Menschenkind, das ist es."

Eine zeitlang redeten sie noch. Begannen einander besser zu verstehen. Doch irgendwann wurden die Menschen müde in der Wärme der Höhle und einer nach dem anderen schlief ein.
Der Drache wachte über sie und hing dabei seinen eigenen Gedanken nach. Über das, was er in dieser Nacht gelernt hatte und was es für ihn bedeutete. 
Er war dabei von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt. Es bestand Hoffnung für die Menschen.
Besonders für diese drei beschloss er dann und fragte sich, als ihr Wagen am nächsten Tag nach einem gutgelaunten Abschied aus der Höhle rumpelte, wie lange es wohl dauern würde, bis der Alte das kleine Kästchen mit Edelsteinen finden würde, das er in seiner Kleidung verborgen hatte.

"Frohe Weihnacht euch Menschen!"
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Für Christiane - Weihnachten 2000

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