Schwer rumpelten die Wagenräder über
den alten Waldpfad. Schnee knirschte und Eis zerbarst in ihrer Spur. Allerlei
Gepäck und Werkzeug, außen festgezurrt, um im Inneren ein wenig
Raum zu schaffen, klirrte und klapperte bei jeder kleinen Unebenheit vor
sich hin.
Das Holz des betagten Schaustellerwagens knarrte
so klagend, als wären es die Knochen eines alten Mannes, die sich
darüber beschwerten, bei einem solchen Wetter vor die Tür zu
müssen, anstatt zu Hause vor dem wohlig warmen Kamin zu sitzen.
Und doch schluckte das dichte Schneegestöber,
das nicht einmal die Bäume des Waldes abhalten konnten, jedes dieser
Geräusche und verwandelte den Wagen für die, die in ihm reisten,
in eine abgeschiedene kleine Welt.
Tief hing eine einstmals prächtig rote
Plane über den sie haltenden Stangen und wurde nur gelegentlich durch
einen eisigen Windstoß von ihrer weißen Last befreit, nur um
sogleich wieder von den dicht herabfallenden Flocken bedeckt zu werden.
Dampf stieg aus den Nüstern der beiden
alten Gäule, die sich mühsam Schritt für Schritt vorwärts
kämpften und nur noch aus Gewohnheit und erschöpfter Gleichgültigkeit
vorwärts stapften.
Der Mann, der ihre Zügel hielt, war kaum
zu erkennen unter all den Lagen Stoff und Leder, die er um seinen Leib
geschlungen hatte. Ein schwerer Hut mit breiter Krempe hing ihm soweit
ins Gesicht, daß man es nicht erkennen konnte, abgesehen von einem
beeindruckenden Bart, der wegen seiner Länge und seiner grauen Farbe
auf ein hohes Alter schließen ließ.
Zusammengesunken saß er auf seinem Kutschbock.
Die Zügel verschwanden irgendwo unter seiner Kleidung und hätte
nicht auch sein Atem bisweilen Gestalt angenommen, hätte man nicht
sagen können ob er lebte oder nicht.
Ein kleiner Spalt erschien in der Plane hinter
ihm, geschaffen durch ein schmales Paar Hände.
Kurz schimmerte das schwache und flackernde
Licht einer kleinen Öllampe auf dem Rücken des Mannes, bis das
Gesicht einer Frau erschien und den Spalt ausfüllte, indem sie die
Plane gegen die Kälte um sich zusammenzog.
Tiefe Sorgenfalten durchzogen ein Gesicht,
das man sonst auf den ersten Blick hätte anziehend finden können,
umrahmt von einem dicken, langen und ungekämmten Wust von schwarzem
Haar.
Als sie den Mund öffnete, musste sie
rufen, um das Wetter und die beständigen Geräusche der beschwerlichen
Reise zu übertönen: "Wie lange noch, Vater?"
Bewegung kam in die Gestalt des vermummten
Fahrers, als er den Kopf zur Seite wandte, um ihr zu antworten. Nur zögerlich
kamen seine Worte: "Ich bin mir nicht sicher. Der Schnee macht mich fast
blind, so dicht ist er. Ich konnte lange keine Wegmarkierung mehr erkennen."
"Sind wir überhaupt noch auf dem richtigen
Weg?" fragte sie ihn plötzlich voller Sorge.
Wieder zögerte er, doch entschloss sich
dann ehrlich zu sein: "Ich weiß es nicht. Aber stehen zubleiben ist
bei diesem Wetter auch keine Lösung. Wir werden weiterfahren, solange
bis wir einen geschützten Ort erreichen."
Wie unwahrscheinlich ihm dies in jenem Moment
vorkam, wollte er vor ihr nicht eingestehen. So sprach er beruhigend auf
sie ein: "Kümmere dich wieder um die Kleine. Du wirst schon sehen,
wir sind schneller wieder im Warmen als du es erwartest."
Selbst konnte er nicht recht daran glauben
und die Sorge um seine kleine Familie wuchs in ihm, aber seine Tochter
verschwand wieder ins Innere des Wagens.
Dort war es nicht viel wärmer als draußen,
aber immerhin hielt die Plane den Wind und den Schnee von ihr fern und
die Öllampe schuf mit ihrem Glimmen einen kleinen Bannkreis gegen
die kalte Realität.
Zwischen ein paar Decken glitzerte ihr ein
junges Paar Augen entgegen, das sie erwartungsvoll anblickte.
"Hältst du es noch ein wenig länger
aus mein tapferer Engel? Großvater meint wir sind bald im Warmen",
wiederholte sie die beruhigenden Worte ihres Vaters, obwohl auch ihr bewusst
war, daß sie damit wahrscheinlich log.
Doch wusste sie einfach nicht, was sie ihrer
jungen Tochter sonst hätte sagen sollen. Hier draußen im Wald,
an diesem besonderen Abend des Jahres, wenn die Hoffnung eigentlich die
Herzen der Menschen erfüllen sollte.
Ein wenig wütend war sie schon auf ihren
Vater, dessen Entschluss es gewesen war, sie auch an diesem Abend, den
andere Familien im Kreise ihrer Liebsten in der warmen Stube verbrachten,
auf die Straße zu zwingen. Auch wenn sie verstand, daß die
ständige Wanderschaft nun mal das Los der Spielleute war, wenn sie
hoffen wollten genug zum Überleben zu verdienen. Und gerade die Aussicht
auf das leidige Geld war es gewesen, das sie nun in diese Situation gebracht
hatte. Die Hoffnung auf das Weihnachtsfest eines adeligen Grundbesitzers,
das mit dem Versprechen auf einen anständigen Lohn und einen warmen
Platz zum Schlafen im Gesindehaus gelockt hatte.
Nur waren sie kurz nach ihrem Aufbruch in
dieses schlimme Wetter geraten, das ihrem Vater die Orientierung raubte
mit all dem Schnee, der die Konturen der Landschaft und die alten Wegemarken
bedeckte. Nicht lange und sie würden sich überhaupt nicht
mehr zurechtfinden, wenn sich erst einmal die Nacht über sie senken
und das letzte bisschen Sicht rauben würde.
Ihre große Hoffnung war es nun wenigstens
einen einigermaßen sicheren Ort zu finden, der ihnen Schutz vor dem
Wind und eine Möglichkeit ein Feuer zu entzünden gewähren
würde. Ansonsten wären sie der Kälte und ihren düsteren
Folgen ausgeliefert.
Eine kleine Hand kämpfte sich unter den
schweren Decken hervor, gefolgt von einer neugierigen Hundeschnauze, und
streckte sich ihr fordernd entgegen. Sie musste lächeln.
"Bleibt ihr beide nur wo ihr seid", sagte
sie zu ihrer Tochter und dem kleinen Hund, die sie beide in die Decken
gepackt hatte, damit sie sich gegenseitig wärmten: "Sonst fangt ihr
an zu frieren und das wollt ihr doch nicht."
Zwar sagte ihr der Blick ihrer Tochter, daß
sie gerne selbst darüber entschied was sie wollte, doch die kurze
Berührung ihrer Hand mit der kalten Luft war anscheinend überzeugend
genug. Die Hand verschwand und nahm das Hundeköpfchen mit sich.
Kurz legte sie ihrer Tochter die Hand auf
den Kopf um sie zu beruhigen. Dann entschloss sie sich nach ihrem Vater
zu sehen. Schließlich war er dem Wetter schlimmer ausgeliefert als
sie selbst.
Gerade als sie die Plane beiseite ziehen wollte,
kam der Wagen holpernd zum stehen. Sie rutschte nach vorn und behielt nur
mühsam das Gleichgewicht. Die Plane wurde beiseite gezogen und sie
fand sich Angesicht zu Angesicht ihrem Vater gegenüber.
"Sieh nur", meinte er und deutete hinter sich
ins Schneegestöber.
Die Kälte ignorierend drängte
sie sich an ihm vorbei und versuchte trotz Wind und Schnee auszumachen,
was er ihr zu zeigen versuchte. Als sie zuerst nichts sah, wollte sie schon
fragen, auf was sein ausgestreckter Arm denn nun eigentlich gerichtet sei,
als sie gegen den dunklen Hintergrund einen noch dunkleren Schatten wahrnahm.
Langsam begriff sie, was sich ihr hier offenbarte.
Der Wagen befand sich vor einer steilen Felswand
und der Schatten den sie wahrgenommen hatte, war ein Höhleneingang.
Sie seufzte.
"Unsere Bleibe für die Nacht?" fragte
sie und wieder ging ihr dabei der Gedanke durch den Kopf, daß man
den Heiligen Abend anders verbringen sollte.
"Eine Chance diese Nacht zu überleben",
antwortete ihr Vater.
Sie stellten den Wagen quer in den Eingang
der großen Höhle. Benutzten ihn so gut es irgend ging als Schutz
gegen den Wind und begannen damit das wenige trockene Feuerholz, das sie
mitgebracht hatten, aufzuschichten.
Geschickt schaffte es der alte Mann das Feuer
zu entzünden und soweit zu nähren, daß sie langsam begannen
seine Wärme zu spüren. Dicht drängten sie sich um die Flammen,
um ihren kalten Gliedern wieder etwas Gefühl zurück zu geben.
Auch der Hund vergaß seinen Respekt vor den Flammen und legte sich
so dicht vor das Feuer, daß man Angst bekommen musste sein Fell würde
anfangen zu rauchen.
Der Schein des Feuers ließ sie nun auch
mehr von ihrer Umgebung erkennen. Wenn auch nicht viel. Das Licht tanzte
neben ihrem Wagen über vom Winter gelb gefärbte Moosflechten,
die sich um das Maul der Höhle schmiegten und so weit in ihr Inneres
vordrangen, wie es Sonne und Wasser in wärmeren Jahreszeiten wohl
zuließen.
Daran schloss sich der nackte, kalte Fels
an, der sie nun umgab und sich weit über sie wölbte, nur um sich
wieder in den Schatten zu verlieren. Es war unmöglich zu erkennen,
wie weit sich die Höhle noch erstreckte. Doch schien es weit zu sein,
da der Rauch ihres Feuers dorthin zog, sie aber nicht den Eindruck hatten,
er würde sich sammeln.
Das war denen, die hier Schutz gefunden hatten
aber auch egal. Geschützt vom Wind, gewärmt durch die Flammen,
starrten sie hinaus in das Schneegestöber.
Schuld begann sich in dem alten Mann zu regen,
als die dringende Sorge seine Lieben für die Nacht in Sicherheit zu
wissen zusammen mit der Kälte aus seinen Knochen verschwand. Nun hatte
er Gelegenheit darüber nachzusinnen, wie dumm es gewesen war ausgerechnet
heute auf die Straße zu gehen und sie den Gefahren des Winters auszusetzen.
Sein Blick wanderte über seine kleine
Familie. Seine Tochter, die ihre Arme um seine Enkelin geschlungen hielt
und sie mit ihrem eigenen Körper wärmte, während die Kleine
ihre Hände im Fell des Hundes vergraben hatte.
Sie hatten es nicht verdient hier in dieser
Höhle zu sitzen und gegen die Kälte zu kämpfen. Ganz besonders
nicht in dieser Nacht. Er seufzte.
Als seine Tochter fragend zu ihm herübersah,
schüttelte er nur leicht den Kopf und schenkte ihr ein aufmunterndes
Lächeln, das sie auch sogleich müde erwiderte. Seine Enkelin
dagegen war schon eingeschlafen und auch die Flanken des Hundes hoben sich
nur noch sehr selten und ruhig. Nicht lange, und alle drei schliefen tief
und fest. Erschöpft durch die Reise und eingelullt durch die Wärme
des Feuers.
Nur der alte Mann zwang sich wach zu bleiben
um über sie und die Flammen zu wachen.
Lange saß er so und grübelte über
das Leben nach, das sie führten. Schon lange hatte er den Wunsch gehabt
sich irgendwo zur Ruhe zu setzen und es vor allem seiner Tochter zu ermöglichen
ihr Kind wohlbehütet aufzuziehen. Aber seit das Unglück vor ein
paar Jahren ihm sein Weib und ihr ihren Mann geraubt hatte, waren sie einfach
nie mehr auf einen grünen Zweig gekommen und hatten sich mehr schlecht
als Recht durchgeschlagen.
Das das Schicksal sie aber nun am Heiligen
Abend in eine kalte Höhle verschlug, empfand sogar er, der sich schon
mit viel hatte abfinden müssen, als ungerecht.
Mit einem Stöhnen und Schmerzen in den
alten Knochen erhob er sich, um vom Wagen mehr Brennholz zu holen, das
ihm helfen sollte, das schon ein wenig hernieder gebrannte Feuer zu nähren.
Erschrocken musste er allerdings feststellen, daß sie bei weitem
nicht mehr so viel geladen hatten, wie er angenommen hatte.
Er schleppte das wenige, das sie noch hatten
zurück zur Feuerstelle, was die Flammen noch einmal befriedigend auflodern
ließ, was ihm vor allem das flüchtige Lächeln seiner Enkelin
bewies, die sich noch enger in die Arme ihrer Mutter kuschelte und dabei
am Fell des Hundes zog, der aber selbst zu träge war sich zu beschweren
und sich auch noch halb über sie legte um ihren Händen entgegen
zu kommen. Das entlockte ihrem Großvater ein zufriedenes Grinsen,
das sich sogleich jedoch wieder in Sorgenfalten verlor, als er darüber
nachzugrübeln begann, woher er weiteres Brennmaterial nehmen solle.
Aus dem Wald, war es nicht möglich. Bei
diesem Schneesturm würde er kein Stück trockenes Holz mehr finden,
so sehr er sich auch bemühte. Zudem wäre es Wahnsinn gewesen,
einen Schritt vor die Höhle zu wagen.
Da kam ihm der Gedanke, daß es vielleicht
schon andere Reisende gegeben haben mochte, die diesen Ort als Zufluchtsstätte
genutzt und dabei etwas Nutzbares hinterlassen hatten. Er griff einen brennenden
Scheit aus dem Feuer und begann damit die Höhle näher in Augenschein
zu nehmen.
Doch schien seine Suche vergebens. Immer weiter
wagte er sich in die Dunkelheit voran, fand aber keine Spuren anderer Reisender,
geschweige denn etwas Brennbares. Als er sich umwandte wurde ihm klar,
daß er schon eine größere Strecke zurückgelegt hatte,
als er sich bewusst gewesen war.
Der Widerschein ihres Feuers war nur noch
schwach um eine Biegung im Verlauf der Höhle herum zu erkennen. Es
schien unnötig noch weiter zu gehen. So tief wie er jetzt war, wäre
wohl kein anderer Reisender gekommen. Und doch zog ihn etwas weiter. Es
widerstrebte ihm aufzugeben und zudem taten seine Glieder einfach weniger
weh, wenn er sie bewegte. Für einen Platz am niederbrennenden Feuer
war immer noch Zeit.
So beschloss er noch ein wenig weiter vorzudringen.
Vielleicht hatte er ja doch noch Glück.
Schritt für Schritt arbeitete er sich
so vorwärts und bemerkte erst, als er seinen Hut abnahm, daß
ihm wärmer wurde, als durch seine Anstrengung erklärbar war.
Verwirrt hielt er inne und hob eine Hand an
seine Wange, nur um sie dann von sich zu strecken, als wolle er in der
Luft nach etwas Unsichtbarem greifen. Und ja, er hatte sich nicht getäuscht.
Die Luft war hier wärmer und als er ein paar Schritte weiterging erschien
sie ihm auch noch wärmer zu werden.
Seine Haare stellten sich jedoch auf, als
er merkte, daß er auch noch weiter sehen konnte, als es im Hinblick
auf seine improvisierte Fackel eigentlich möglich war. Ein goldener
Schein umgab ihn und erfüllte seine Umgebung mit einem gespenstischem
Leuchten.
Angst erfüllte ihn. Doch er wich nicht
zurück. Diese Wärme konnte schließlich die Lösung
seiner Sorgen sein. Nur wagte er es nicht seine Familie zu holen, bevor
er nicht wusste woher sie stammte und ob sich eine Gefahr dahinter verbarg.
Bange schlich er immer weiter in die stärker
werdende Wärme und das Leuchten hinein, auf der Suche nach einer Erklärung.
Als er eine weitere Biegung umrundete bekam
er sie.
Vor ihm öffnete sich ein großer
Raum. Durchflutet vom goldenen Leuchten und der Wärme eines Sommertages.
Doch war es nicht das, was seine Aufmerksamkeit fesselte, sondern das märchenhafte
Bild, das sich ihm bot.
Auf einem Haufen, nein man musste es schon
eher einen kleinen Berg nennen, bestehend aus allem was Menschen wertvoll
fanden, angefangen bei Gold und Silber, Edelsteinen und anderem Geschmeide,
wertvollen Pelzen und feinsten Stoffen, edlen Waffen aus blankem Stahl
und feinstem Elfenbein bis hin zu Wundern und Spielereien, die ein einfacher
Schausteller nicht benennen konnte, lag eine Kreatur, von der das Leuchten
ausging und die die Pracht ihres Ruhelagers aufs perfekteste ergänzte.
"Ein Drache!" fuhr es ihm schnell durch den
Kopf bevor es sein Unglaube verhindern konnte. Wie auch sonst sollte er
das, was er sah, beschreiben, wenn nicht mit diesem Wort, das er aus den
Geschichten seiner Kindheit kannte.
Sein Blick lag gebannt auf dem langen, von
silbrigen Schuppen bedecktem Körper der Kreatur. Wanderte über
den mächtigen Leib, die riesigen Schwingen, die sich eng angelegt
hatten, den langen gebogenen Hals entlang bis hin zum langgestreckten Kopf,
der geziert war von einem hoch aufragenden Knochenkamm. Die Augen der Kreatur
waren geschlossen.
Zitternd betrachtete der alte Mann die Reichtümer,
die vor ihm lagen und das Wesen, dem sie gehörten. Hier lagen Schätze,
deren geringster Teil seinen Traum vom friedvollen Lebensabend mehr als
erfüllen konnte.
Seine Gedanken schwirrten durch seinen Kopf.
Die Kreatur schien zu schlafen. Sollte er es wagen? Sollte er versuchen
auch nur einen der edlen Steine oder eine andere Kostbarkeit zu rauben,
um seiner Familie endlich das zu geben, was er sich wünschte? Sollte
er dieser wunderschönen Kreatur das rauben, was er selbst soviel nötiger
brauchte?
Nein. Das konnte er nicht. Sein ganzes Leben
war er ehrlich gewesen und bemüht, anderen kein Unrecht angedeihen
zu lassen. Selbst für seine Familie konnte er sich nicht ändern.
Wollte sich gar nicht ändern. Oder sollten sie etwa ein Leben führen,
das auf etwas Schlechtem begründet war?
Nach einem langen letzten Blick, der eher
zu einem staunenden Kind, denn zu einem alten Mann passte, wand er sich
ab, um zu seiner Tochter und seiner Enkelin zurück zu kehren. Fest
in seinem Entschluss, sie von diesem Ort und dieser Kreatur weg zu bringen,
um sie keinem Risiko auszusetzen. Besser arm, ehrlich und am Leben, dachte
er sich.
"Ich bin erstaunt, Mensch", grollte eine tiefe
Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr er herum und sank zu Boden,
als seine Beine unter ihm nachgaben als Reaktion auf das, was er sah.
Der Drache hatte sich lautlos erhoben und
sein Körper hatte sich zu seiner ganzen Größe entfaltet,
als er nun auf seinem Schatz stand und sein Haupt dem Eindringling entgegen
streckte.
Tief golden glänzende Augen waren weit
geöffnet und musterten mit einer tiefen Würde aber auch echter
Neugier den alten Mann. Das Maul der Kreatur war leicht geöffnet und
man sah eine gespaltene Zunge zwischen den nadelspitzen Zähnen tanzen.
"Ich bin erstaunt", wiederholte der Drache:
"Ihr wollt einfach wieder gehen? Kein Versuch, mich zu berauben? Sehr seltsam
für ein Wesen eurer Art."
Der Alte wollte antworten, brachte aber zunächst
kein Wort heraus. Zu sehr band ihm die Angst, das Unglaubliche an der Situation,
die Zunge. Doch letztendlich brachen mühsam ein paar Worte aus ihm
hervor: "Ich bin kein Dieb, Herr. Ich wollte eure Ruhe nicht stören.
Wir suchten nur Schutz..."
"Wir?" fragte der Drache und schien an dem
Mann vorbei zu sehen. "Ah, ein Weibchen, ihr Balg und dessen Spielgefährte
nehme ich an? Ich habe tief geruht, daß ich eure Anwesenheit nicht
früher bemerkte." Er wirkte nachdenklich.
"Schutz vor was?" fragte er schließlich.
"Vor dem Wetter und der Nacht, Herr", antwortete
der alte Mann mit kaum hörbar verschreckter Stimme.
"Hmmm? Dem Wetter? Ich hatte vergessen wie
zerbrechlich ihr kleinen Wesen doch seid. Doch warum ausgerechnet hier
und jetzt? Schon seit Jahrzehnten hat sich niemand mehr hierher verirrt
zu dieser Zeit des Jahres?" Interesse schien aus den Augen der Kreatur.
"Wir waren auf dem Weg zu einem Weihnachtsfest,
Herr. Wir kamen im Schnee vom Weg ab." Die Tatsache, daß er noch
immer nicht gefressen worden war und das dieser Drache mit ihm sprach,
lies den alten Mann seine Stimme wieder finden. Nur die Angst um seine
Kinder blieb.
"Weihnachten? Ah, ja, ich entsinne mich. Eine
der besseren Erfindungen von euch Menschen. Aber hatte das nicht etwas
mit Liebe und Familie zu tun? Doch wohl eher weniger mit kalten Höhlen
und dem Herumschnüffeln bei Drachen, oder?" Der Drache hatte sich
bei diesen Worten wieder auf seinem Ruhelager niedergelassen. Keine Bedrohung
schien mehr von ihm auszugehen, nur Neugier.
In seinen Schuldgefühlen getroffen antwortete
der alte Mann: "Ihr habt Recht, Herr. Wir sollten nicht hier sein. Wir
sollten stattdessen das Weihnachtsfest an einem angemessen Ort feiern.
Es ist meine Schuld...". Sein Kopf sank bei diesem Worten immer tiefer
auf seine Brust, als er sich seiner eigenen Scham in Anbetracht dieser
edel wirkenden Kreatur bewusst wurde.
Ein amüsiertes Schnauben lies ihn seinen
Kopf wieder heben.
"Ihr seid mir wahrlich ein interessantes Menschlein.
Nicht nur, daß ihr keiner der üblichen Diebe seid, die sich
früher einmal hierher verirrt haben, nein, ihr steht auch noch hier
vor mir und macht euch Gedanken darüber, daß ihr eurer Familie
nicht euer abergläubisches kleines Fest würdig bieten könnt.
Anstatt euch Sorgen um euer eigenes kleines Leben zu machen. Sehr amüsant."
Angst und Respekt hin oder her, um ausgelacht
zu werden waren die Gedanken des Alten zu schwermütig. Trotzig richtete
er sich deswegen dem Drachen gegenüber auf und meinte: "Es tut mir
leid, Herr, eure Ruhe gestört zu haben, aber wir werden uns gerne
wieder auf den Weg machen, wenn unsere Anwesenheit euch stört." Nur
weg von hier flüsterte in ihm eine Stimme, auch wenn seine Worte nach
außen vielleicht tapfer klangen.
Als er sich abwenden wollte, hielten ihn die
Worte des Drachen zurück: "Seid kein Narr alter Mensch. Euer Feuer
ist fast erloschen. Der Sturm tobt immer noch und es ist mitten in der
Nacht. Ihr würdet den kommenden Morgen nicht mehr erleben, wenn ihr
jetzt davon rennt."
Kein Spott lag in diesen Worten. Nur die bittere
Wahrheit.
Ein langgezogenes Drachenseufzen grollte durch
den Raum und ließ die Zähne des Alten klappern.
"Holt eure kleine Familie her. Wenn sie auch
nur halb so interessant wie ihr ist, dann möchte ich sie kennen lernen.
Gegen ein wenig Abwechslung in meiner Ruhe habe ich nichts einzuwenden",
sprach der Drache und ließ sich wieder auf sein Bett aus Kostbarkeiten
nieder sinken.
Der Alte erschrak ob dieser Worte und wusste
zuerst nicht was er tun sollte. Doch war ihm die Wahrheit in den Worten
des Drachen bewusst. Aus der Höhle zu fliehen bedeutete wahrscheinlich
das Ende für die Seinen. Wenn sie allerdings hier blieben, machte
es auch keinen Unterschied, ob sie am Eingang der Höhle froren oder
ob sie hierher kamen, wo es warm war. Für den Drachen war das bedeutungslos.
War er eine Gefahr, konnten sie ihm nicht entkommen.
Letzten Endes siegte die Wärme und das
goldene Licht über die Angst. Der Alte stapfte los, um die Seinen
zu holen.
Nicht lange und er kehrte mit seiner Tochter
an der Hand, seiner Enkelin auf dem Arm und einem jungen Hund zwischen
seinen Beinen zurück.
Der Zweifel am geistigen Gesundheitszustand
ihres Vaters, den sie hegte, seit er sie am Feuer aus ihren Träumen
gerissen und etwas von einem Drachen gefaselt hatte, verflog, als die junge
Schaustellerin mit dem selben Anblick konfrontiert wurde, der schon zuvor
ihren Vater überwältigt hatte. Ihre Tochter gluckste auf seinem
Arm und wedelte mit ihren Händchen in der Luft herum, als wolle sie
all den Glanz, der ihre Augen lockte, aus der Luft pflücken.
Der Hund saß zwischen ihren Füßen
und wirkte, als wisse er nicht ob er bellen oder winseln, angreifen oder
flüchten solle. Letztendlich saß er einfach nur stocksteif da.
Mit einem amüsierten Glitzern in den Augen
erwiderte der Drachen die Aufmerksamkeit seiner Gäste und betrachtete
die drei Menschen, die ihm das Wetter in seinen Hort getrieben hatte. Nicht
sehr beeindruckend kamen sie ihm vor, wie sie da in ihrer zusammengewürfelten
Winterkleidung vor ihm standen.
Der Alte, mit seinem Hut in der Hand und seiner
Enkelin auf dem Arm, schaffte es zugleich trotzig und beschützend
vor seinen Kindern zu stehen wie auch verschreckt zu wirken.
Seine Tochter war gefangen vom Glanz seiner
Höhle vergaß darüber aber nie ein Auge auf ihr Kind zu
haben, während ihr wacher Blick alles in sich aufnahm.
Der Blick der Kleinen hingegen verlor sich
völlig im Glitzern seiner Schätze und er hätte schwören
können, daß sie ihn anlächelte.
Sie waren eine interessante kleine Abwechslung
in seiner winterlichen Ruhe. Soviel stand fest.
"Habt keine Angst. Ich werde euch nichts tun",
sagte er und rollte sich dabei auf seinem Ruhelager ein wenig weiter zusammen:
"Setzt euch dort drüben hin und erzählt mir ein wenig von eurer
Menschenwelt dort draußen." Erwartungsvoll blickte er ihnen entgegen.
Geschichten waren für einen Drachen immer interessant.
Als die Menschen sich jedoch nicht rührten,
grollte er ein wenig frustriert: "Ich sagte doch euch droht keine Gefahr
von mir. Glaubt ihr etwa ich würde euch fressen?"
Verschüchtert setzten sich die Menschen
doch noch in Bewegung und nahmen an der bezeichneten Stelle Platz. Der
Drache musste dabei ein Lachen unterdrücken, als seine scharfen Ohren
ein geflüstertes: "Das ist mir durchaus in den Sinn gekommen..." der
Frau wahrnahm.
Auf sein erneutes Fragen hin begannen sie
zögerlich von sich und den neuesten Geschehnissen in ihrer Welt zu
berichten.
Gebannt lauschte der Drache ihren Worten und
seine Aufmerksamkeit brachte sie dazu immer mehr von sich und ihren Reisen
zu offenbaren.
Mitleid mit den Menschen regte sich in ihm,
als er die altbekannten Geschichten von Armut, Krieg, Krankheit und Leid
vernahm, die sich in seinen Augen schon immer mit dieser Rasse verbunden
hatten. Nichts schien sich geändert zu haben, seit er seine Aufmerksamkeit
zum letzten Mal der Welt geschenkt hatte. Wie so oft fragte er sich, wie
diese Wesen überhaupt weiterleben konnten, verglichen mit seiner eigenen
Existenz, die bestimmt war durch seine Magie, seine Macht und dem Wissen,
daß er der völlige Herr über sein Schicksal war in dieser
Welt, die ihm in diesen Dingen nichts ebenbürtiges bot.
"Warum?" flüsterte er deshalb nach einer
Weile.
"Warum was, Herr?" antwortete ihm der Alte,
der erschrocken in seinen Erzählungen innehielt.
"Warum macht ihr Menschen bei all dem Leid
und der Unsicherheit in eurem Leben immer weiter? Was treibt euch an?"
Bestürzt blickte der Alte in seine fragenden
Augen und wusste keine Antwort. Ein verlegenes Schweigen senkte sich über
den Raum.
Schon begann sich der Drache damit abzufinden
keine Antwort zu erhalten, als sich die junge Frau erhob, ihrem Vater ihre
Tochter aus dem Arm nahm und mit ihr zusammen ein paar Schritte auf den
Drachen zutrat.
"Vergebt mir Herr, aber hier habt ihr eure
Antwort", flüsterte sie und streichelte dabei über den Kopf ihrer
Tochter.
Verwirrt blickte der Drache sie an und verstand
nicht recht, was diese Menschenfrau ihm sagen wollte.
"Ich kann es nicht wirklich in Worte fassen,
Herr. Aber seht euch mein Kind an", und dann, nachdem sie einen Moment
nachgedacht hatte, meinte sie: "Vielleicht gibt es doch einen Weg."
Sie begann zu singen.
Langsam gewann ihre Stimme an Kraft und der
Drache lauschte der traurig beginnenden Melodie, die ihn, durch die klare
Schönheit ihrer Stimme in seinen Bann zog.
Es war ein Weihnachtslied. Sie sang von Freude,
von Liebe und der Hoffnung. Von ihrer Hoffnung auf ein gutes Leben, auf
Gerechtigkeit und der Verbundenheit unter den Menschen.
Erstaunt nahm der Drache wahr, daß sich
das anfänglich traurige Lied, das dem entsprochen hatte, was er in
seinem Mitleid für die Menschen empfunden hatte, immer mehr zu einer
wunderschönen Melodie wandelte, die ihm half zu verstehen.
Lange lauschte er ihrer Stimme. Nahm in sich
auf, was sie ihm schenkte.
Dann verklangen die letzten Töne.
Wieder senkte sich ein Schweigen über
die Höhle. Doch diesmal war es keine Verlegenheit, sondern das Zögern
diesen verzauberten Moment zu zerstören.
Als es dann endlich geschah, war es durch
das Glucksen der Kleinen, die mit einem strahlenden Lächeln ihrer
Mutter in die Haare griff und zu ziehen daran begann, um damit Aufmerksamkeit
einzufordern. Ebenfalls lächelnd befreite ihre Mutter ihre Haare aus
ihrem Griff und wandte sich dem Drachen zu, um zu fragen: "Habt ihr verstanden,
Herr?"
Nachdenklich blickte er auf sie herab. "Das
habe ich", musste er sich und ihnen dann erstaunt eingestehen: "Ihr überrascht
mich. Soviel Freude hatte ich in eurer Existenz nie gesehen. Ich danke
euch. Ihr habt mir heute ein großes Geschenk gemacht."
Verschmitzt grinste ihn die Sängerin
an: "Es ist Weihnachten, Herr." Er lächelte auf sie herab. "Das ist
es Menschenkind, das ist es."
Eine zeitlang redeten sie noch. Begannen einander
besser zu verstehen. Doch irgendwann wurden die Menschen müde in der
Wärme der Höhle und einer nach dem anderen schlief ein.
Der Drache wachte über sie und hing dabei
seinen eigenen Gedanken nach. Über das, was er in dieser Nacht gelernt
hatte und was es für ihn bedeutete.
Er war dabei von einer tiefen Zufriedenheit
erfüllt. Es bestand Hoffnung für die Menschen.
Besonders für diese drei beschloss er
dann und fragte sich, als ihr Wagen am nächsten Tag nach einem gutgelaunten
Abschied aus der Höhle rumpelte, wie lange es wohl dauern würde,
bis der Alte das kleine Kästchen mit Edelsteinen finden würde,
das er in seiner Kleidung verborgen hatte.
"Frohe Weihnacht euch Menschen!"
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Für Christiane - Weihnachten 2000
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