Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 17

Wie genau der Tag zuende gegangen war, wußte er nicht mehr. Am Ende hatten ihm vermutlich wirklich Dinin und Nalfein in seine Hütte geholfen, wo er nach wenigen Momenten, die er auf seinem Bett gelegen hatte, schon vor Erschöpfung eingeschlafen war.
Er wachte mitten in der Nacht auf, wobei er feststellte, daß er noch immer seine Rüstung trug. Er streifte sie so gut es ging ab und schlief dann einfach weiter.
Als Joro erwachte war es schon Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel und draußen war die Luft klar und der Himmel wolkenlos.
Schlimm nur, daß allein das Aufrichten im Bett schon so schlimme Schmerzen verursachte, daß er es nicht noch einmal versuchte.
Nach einer weiteren Phase des Schlafens, meldete sich seine Blase zu Wort, in einer sehr penetranten Art, die es komplett verhinderte, daß er noch einmal einschlafen konnte, daher mußte es wohl sein.
Er rollte sich aus den Federn, schlug hart auf den Boden auf, was allerdings nicht wirklich mehr weh tat, als das Rollen selbst.
Wackelnd und unter horrenden Schmerzen taumelte er aus der Hütte in das kleine Häuschen, das dahinter stand.
Als er fertig war, blieb er erst einmal vor dem Lokus stehen und schaute sich um. Entweder er würde jetzt wieder ins Bett gehen oder sich zwingen, zumindest die grundlegenden Dinge des Tages zu erledigen. Das Bett schien so derart verlockend...
Es half nichts. Wenn er auch in Zukunft Stärke beweisen wollte, dann durfte ihn auch eine solche Strapaze nicht daran hindern.
Schon wenig später bereute er seinen Entschluß, als er in voller Rüstung ums Dorf keuchte.
Dinin, an dem er dabei vorbeikam, zeigte ihm ziemlich deutlich den Vogel, sagte aber nichts.
Seltsamerweise ging es ihm besser, als er wieder an der Hütte ankam und seine Runden alle geschafft hatte. Klar, der Körper lief immernoch Amok, aber er fühlte eine unglaubliche Zufriedenheit in sich.
Es war schon Abend, als er auch mit den täglichen Arbeiten am Friedhof fertig war, da kam Dinin um das Haus herum und hatte ein großes Stück Fleisch für das Abendessen dabei.
"Ich habe mich vorhin wirklich gefragt, was du das machst. Ich hätte selbst nackt nicht einmal den Weg von meinem Haus herüber zu dir geschafft, als ich aufgestanden bin."
Joro grinste.
"Die ersten zwei Runden waren die Hölle, aber danach war es eigentlich ganz einfach."
"Manchmal denke ich, daß du einen größeren Schaden haben mußt, als ich mir vorstellen kann, Joro."
Ein Feuer war schnell gemacht und sie saßen schweigend da und aßen. Irgendwann rümpfte Joro die Nase.
"Wir brauchen mehr Leute."
Dinin sah überrascht auf.
"Wie meinst du das?"
"Genauso wie ich es sage. Wir brauchen mehr Leute. Es wird nicht lange dauern, bis auch Daishan von ihnen angegriffen wird. Vielleicht sogar nur ein paar Monate. Und dann werden wir nur noch die Wahl haben, uns auf ewig zu verstecken oder zu kämpfen."
"Das stellst du dir so einfach vor, was?"
"Nein, einfach bestimmt nicht, aber selbst wenn wir uns verstecken wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie uns finden. Und von da an werden sie gezielt Jagd auf uns machen. Es bleibt also gar keine andere Wahl, als uns aktiv zu verteidigen."
Dinin verzog den Mundwinkel.
"Das kannst du ja mal mit Nalfein bereden. Ich bin mir allerdings sicher, daß ihm das nicht gerade angenehm sein wird."
Joro machte eine weit ausholende Geste.
"Was wäre die Alternative? Herumhocken und hoffen, daß es nicht schlimmer wird? Wir haben jetzt noch über zweihundert Leute mehr, für die wir verantwortlich sind."
"Meinst du nicht, daß die auch auf sich selber aufpassen können?"
"Mach’ dich doch nicht lächerlich, Dinin. Wenn wir sie nicht beschützen, sind sie so gut wie tot. Und ohne sie stehen unsere eigenen Chancen noch schlechter als sie eh schon sind."
Das konnte der Drow nicht bestreiten.
"Hm... Auch wenn mir das nicht gefällt, hast du recht."
Er dachte eine Weile nach.
"Sprich morgen mal mit Nalfein. Es scheint so, als sei das ruhige Leben hier für eine ganze Weile vorbei. Und du hast vor allem in dem Punkt recht, daß wir nicht mehr warten sollten, sondern die Sache so lange wir es noch können auf unsere eigene Weise anpacken."
Sie fachsimpelten noch eine ganze Weile über ihre Möglichkeiten, bis sie beide so müde waren, daß sie schlafen gingen.

Am nächsten Morgen, als Nalfein zu Joros Hütte ging, stand dieser bereits davor und wartete.
Der Drow sah sich betont übertrieben um und fragte dann:
"Bin ich hier richtig? Du bist doch Joro oder?"
"Hör mit den Witzen auf, laß uns anfangen."
"Meinetwegen, dann lauf mal los."
"Ich bin schon gelaufen. Laß und trainieren."
Nalfein hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Soso, du bist also schon gelaufen, ja?"
Joro lächelte ihn an. "Du weißt, was man über Daishanis sagt, oder?"
"Was, die alte Mär, daß ihr nicht lügen könnt?"
"Du hältst das für eine Legende?"
"Kannst du mir das Gegenteil beweisen?"
Der Priester zog das Kettengeflecht unter seiner Halsberge ein Stück herab und entblößte seine Brust direkt unter dem Kehlkopf. Darauf konnte Nalfein eine Rune erkennen.
"War die schon immer da?"
"Ich verberge sie normalerweise. Aber ja, die war schon immer da. Ich habe sie eingebrannt bekommen, als ich zwei Jahre alt war. Das wird bei allen Daishanis gemacht, es ist eine jahrhundertealte Tradition."
"Und die hindert dich also am Lügen?"
"Wenn ich jemals wissentlich eine Unwahrheit ausspreche, beginnt sie zu glühen. Den Schmerz kann man nicht unterdrücken, und glaub mir, ich weiß wovon ich rede."
"Aha?"
"Den Fehler habe ich nur einmal begangen, als ich als Vierjähriger einen Apfel gestohlen hatte. Danach niemals wieder."
Nalfein nickte anerkennend.
"Eine interessante Weise, das anzugehen, ich bin beeindruckt. Wenn unsere Drowgeschwister unter der Erde das einführten, wäre da ständig nur Schreien und Heulen zu hören, denke ich."
Joro mußte unfreiwillig Grinsen. Das war nicht von der Hand zu weisen.
"Also fangen wir jetzt an?"
"Ja. Ich bin erfreut, daß du so viel Einsatz zeigst."
Sie prügelten sich fast den ganzen Vormittag. Es hatte fast den Anschein, als verfolgte Nalfein bei diesem Training auch eigenen Ziele, was Ausdauer und Übung anging. Joros Muskeln hatten sich zwar immernoch nicht ganz erholt, aber sein Wille brachte ihn unerschütterlich vorwärts und er hielt nicht eine einzige Sekunde inne, wenn Nalfein dies nicht auch tat, auch wenn ihn das wiederum an die Grenzen seiner Leiustungfähigkeit brachte.
Der Drow hatte sich nicht auf das Fechten versteift. Er zeigte ihm auch, wie man sich ohne Waffe durchaus passabel schlagen konnte, wobei er darauf achtete, Joro nicht zu viel auf einmal beizubringen, damit der junge Mann dazu in der Lage war, das Gelernte auch zu verinnerlichen. Doch der Priester lernte sehr schnell, wie er feststellte, vor allem was den richtigen Umgang der Kombination Hammer und Schild anging. Lediglich die nicht ganz unerhebliche Menge an reinem Fett an seinem Körper war ihm ein Hindernis, wobei sich Nalfein sicher war, daß sich das mit der Zeit und reichlich Training geben würde.
Schließlich waren sie fertig und der Drow ließ sein Trainingsschwert, das genaugenommen nichts weiter als ein langer, grader Knüppel war, sinken.
"Das wars. Morgen machen wir weiter." Er legte den Knüppel über die Schulter und wandte sich der Quelle zu.
"Warte mal kurz Nalfein, ich muß mit dir über etwas reden."
"Oh? Was denn?"
Joro scharrte mit dem Fuß.
"Also... ich habe gestern mit Dinin eine Weile darüber geredet, was jetzt ansteht."
"Und das wäre?"
Der Priester streckte sich.
"Wir sollten mehr Leute auftreiben."
Nalfein hob eine Augenbraue.
"Wie meinst du das?"
"Nun... Der Krieg ist ja wohl offiziell eröffnet, oder sehe ich das falsch?"
"Nein, das ist richtig."
"Gut. Also, wenn wir uns nicht verstecken wollen und hoffen wollen, daß uns nichts passiert, dann sollten wir doch zusehen, daß wir so schnell wie es geht mehr Leute auf unsere Seite bringen, mit denen zusammen wir uns verteidigen können, oder?"
"Das stellst du dir so einfach vor, was?"
Joro hatte das Gefühl, den Satz schon einmal gehört zu haben. Irgendwie fühlte er sich nicht wirklich ernst genommen.
"Nein, ich stelle es mir nicht einfach vor. In der Tat habe ich gar keine Ahnung, wie wir das anstellen sollten. Aber ich weiß einfach, daß es notwendig ist."
Nalfein stöhnte leise und ließ die Arme hängen, wobei der Knüppel auf den Boden aufschlug.
"Es ist schon in Ordnung, Joro. Ich schlage vor, daß wir beide uns erst einmal waschen und danach setzten wir uns auf ein Bier hin und unterhalten uns darüber, ist dir das Recht?"

Joro wusch sich, holte sich eine saubere Robe und wartete auf Nalfein. Dieser kam auch schon sehr bald wieder zu seiner Hütte, hatte dabei Dinin und Vierna (welch Glück!) im Schlepptau.
Sie setzten sich im Schein der hellen Nachmittagssonne an den Lagerfeuerplatz hinter Joros Hütte und dann erzählten sie Vierna knapp, was seine Idee war.
Die heftige Reaktion auf Ungewohntes, die Joro eigentlich erwartet hätte, blieb aus. Sie schien sogar eher resigniert, als irgendwie aufgebracht.
"Ja, die Idee habe ich auch schon gehabt, ich war mir nur noch nicht sicher, ob ich damit alleine bin."
Die drei Männer schüttelten gleichzeitig den Kopf.
Dinin, der für seine Verhältnisse ziemlich ernst wirkte, meinte:
"Es ist vermutlich unumgänglich, und was Joro sagte stimmt. Wir sollten das besser jetzt als später ins Auge fassen."
Die Priesterin schaute Nalfein an. "Welche Möglichkeiten haben wir?"
Der Drow war sich offenbar nicht ganz sicher. "Es gibt hier in der Gegend keinerlei Siedlungen. Noth war die einzige Stadt in der direkten Umgebung und deren Einwohner, oder das, was von ihnen übrig ist, haben wir nun schon bei uns."
"Hmm..."
"Und Bargum ist eine ganze Strecke von hier entfernt, mehrere Tagesmärsche. Zudem gibt es da einige unter uns, die dort vermutlich nicht ganz so gerne gesehen werden", er schielte zu Dinin und Joro.
"Was sagen die Späher?", fragte Vierna Dinin.
Der machte eine abwinkende Geste.
"Es gibt hier oben höchstens noch ein paar kleinere Orkstämme und ein paar verstreute Steinriesenfamilien. Und was die von Außenstehenden halten, wißt ihr alle genauso gut wie ich."
Joro hob die Hand.
"Ich weiß es nicht."
Nalfein grinste.
"Steinriesen tendieren dazu, jedem, der ihnen zu nahe kommt, große, schwere Gegenstände auf den Kopf zu hauen."
"Oh..."
Der Drow hielt inne.
"Allerdings..."
"Ja?", fragte Vierna.
"Es gibt da noch eine Möglichkeit, die wir vielleicht in Betracht ziehen könnten..."
"Du meinst doch nicht etwa..?"
"Doch. Balthasar."
Die drei Dunkelelfen stöhnten exakt gleichzeitig.
"Irgendetwas, was ich wissen sollte?", fragte Joro höflich.
Dieses Mal schüttelten alle drei Drow gleichzeitig den Kopf. Joro schmollte.
Nalfein verzog sein Gesicht zu einem schmerzerfüllten Lächeln.
"Sagen wir einfach, daß Balthasar nicht wirklich das ist, was man eine umgängliche, freundliche Person nennen könnte..."
"Beleibe nicht", warf Dinin ein.
"Aber vielleicht", fuhr Nalfein fort, "ist er noch das Beste, was wir kriegen können."
Joro grunzte ärgerlich.
"Ich will jetzt sofort wissen, wer er ist, und was euer aller Problem mit ihm ist."
Vierna seufzte.
"Es gibt etwa vier Tagesreisen von diesem Ort hier eine kleine Duergarfestung."
"Unterreichszwerge?"
"Ja."
"Moment, meinst du nahe an diesem Ort oder nahe an dem Eingang der Enklave?"
"Nahe an diesem Ort, nicht dem Eingang."
"Ich dachte, man kann die Enklave nur durch das Portal verlassen?"
"Hat das irgendwann jemand behauptet?"
"Äh, ich weiß nicht..."
"Man kann nicht über die Berge fliegen, aber von nicht verlassen oder hineinkommen war nie die Rede."
"Und Balthasar ist ihr Anführer?"
"Ihr König, wenn man das so sagen kann."
"Wieso, was ist mit ihm?"
Vierna machte ein paar unbeholfene Gesten.
"Politik, all dieser Kram. Er wurde aus dem Unterreich geworfen, wegen irgendeiner Lappalie. Deshalb ist er mit seiner ganzen Großfamilie an die Oberfläche gezogen und lebt dort in einem großen Tafelberg, etwa sechzig Meilen von hier. Wir hatten in der Vergangenheit einige Male Kontakt mit ihnen, allerdings war das niemals wirklich erfreulich."
"Duergar sind auch eher böse Kreaturen, oder nicht?"
Dinin grinste.
"Jaaaa, genau wie wir bösen, gemeinen und schlimmen Dunkelelfen. Paß bloß auf, wir werden dich irgendwann auffressen!"
Nalfein verpaßte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.
"Hör’ auf rumzualbern Dinin."
Vierna fuhr fort.
"Nein, Duergar sind nur ziemlich egoistische und rücksichtslose Eigenbrötler. Mit ihnen zu kommunizieren ist fast unmöglich, wenn sie sich nicht irgendeinen Gewinn davon versprechen."
"Das stellt doch wohl die Frage, was wir ihnen für Hilfe ihrerseits bieten können, falls wir beabsichtigen, sie um Hilfe zu bitten, hab ich recht?" fragte Joro.
Nalfein schüttelte den Kopf.
"Ich sehe keinen Grund, wieso uns Balthasar und seine Sippe helfen sollten. In der Festung wird sie die Legion niemals so bedrängen können, daß es zu einer Gefahr wird. Der Ort ist taktisch gesehen eine Meisterleistung und die Duergar verfügen über Kriegsmaschinerie, die man nur aus Träumen kennt."
Joro grübelte.
"Dann wären sie ein wertvoller Verbündeter."
"Das schon, aber mir fällt beim besten Willen kein einziger Weg ein, wie wir ihn dazu bringen könnten, uns zu helfen. Es ist ja nicht so, daß er wirklich in Bedrängnis ist."
"Versuchen kostet nichts. Wir haben keine Wahl."
Vierna schien der gleichen Ansicht zu sein.
"Joro hat recht. Wenn wir wirklich zusehen wollen, daß wir uns verteidigen können, müssen wir jede Chance ergreifen, die sich uns bietet."
Nalfein stand auf.
"Dann brechen wir morgen früh auf, je eher desto besser."
Die anderen beiden standen ebenfalls auf und Dinin klopfte Joro auf die Schulter.
"Wenn du irgendetwas bestimmtes für den Marsch brauchst, dann sag Bescheid, ich gehe meine Sachen packen."
Nalfein und Dinin gingen davon, Vierna blieb noch stehen.
"Joro?"
"Ja?"
"Ich bin wirklich stolz auf dich. Bisher habe ich es nicht eine Sekunde bereut, daß wir dich hier aufgenommen haben."
"Uuund?" Joro lächelte.
Ihre Lippen formten lautlos die drei Worte, die er so gerne hätte hören wollen. Dabei sah sie ihn mit einem Blick an, der ihm durch Mark und Bein ging.
Im Fortgehen meinte sie noch:
"Den Leuten draußen vor dem Portal geht es übrigens gut, unsere Leute und sie kommen besser miteinander aus, als ich gedacht hätte."
Das freute Joro sehr, allerdings machte es ihm ein schlechtes Gewissen, daß er sich nicht selbst darum gekümmert hatte, nach ihnen zu sehen. Das würde jetzt so oder so warten müssen.

Er packte die wenigen Dinge, die er besaß, zusammen und verbrachte den Rest des Tages damit, noch die keimenden Blumen auf dem Friedhof zu pflegen.
Als er schließlich am Abend ins Bett sank, ertönte nach längerer Zeit die Stimme in seinem Kopf.
"Gut gemacht, mein Sohn. Allerdings steht dir selbst bald noch ein anderer Weg bevor."
"Und welcher wäre das?"
"Du wirst für mich nach Bargum gehen."
 

© Matthias Wruck
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Und schon geht es hier weiter zum 18. Kapitel...

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