Der Prophet und der Totengräber von Matthias Wruck
Kapitel 38

Die Nacht war unruhig und der starke Wind, der gegen Mitternacht aufkam, rüttelte stark am kleinen Fenster seines Schlafplatzes. Mehr als einmal schrak Joro aus dem Schlaf hoch, nur um zu bemerken, daß nur eine Böe gegen das Glas gedrückt und den ausgeleierten Verschlußmechanismus zum Klappern gebracht hatte. Dieser Ort hatte trotz der Ereignisse der vergangenen Tage auch eine ziemlich geisterhaften Atmosphäre, vor allem in Anbetracht der Tatsache, wie viele hier vorher noch gewesen waren und wie wenige nun hier wohnten. Mehrere Gebäude für hunderte von Menschen waren völlig leer und die Winde, die durch die Gänge strichen, machten hin und wieder geradezu beängstigende, zumindest aber seltsame Geräusche.
Seine Gedanken fanden wieder ihren Weg zu Vierna. Er ertappte sich dabei, irgendwie etwas wie Schuld zu fühlen, daß er so wenig an sie dachte, wo doch alleine die Vorstellung eines Bildes von ihr in seinem Geiste sein Herz dazu brachte, schneller zu schlagen und damit in seinem Körper eine gewisse Aufregung erzeugte.
Die Diskrepanz zwischen dem, was er tun mußte, und dem, woran seine Gefühle hingen, wurde ihm auf ziemlich eindringliche Weise klar. Er brauchte Rat.
"Celestus?"
Der Gott erschien auf dem kleinen Hocker, der am Schreibtisch der Zelle stand.
"Ich weiß, was du mich fragen willst."
"Darf ich die Frage trotzdem stellen?"
"Nur zu."
"Wirst du wütend auf mich sein, wenn ich dem, was mir wichtig ist, einen Platz in meinem Leben einrichte, der dem, was dir wichtig ist, einen zumindest ebenbürtigen einnimmt?"
Celestus sah ihn lange schweigend an. Fast fürchtete Joro, einen schlimmen Fehltritt begangen zu haben, aber der Gott ließ unvermittelt den Kopf hängen.
"Was erwartest du, das ich darauf antworten soll, Joro?"
"Das mußt wohl diesmal wirklich du mir sagen."
Es war nicht zu übersehen, daß der dunkle Herr mit der Situation mehr als unzufrieden war, aber sein Zögern, eine Antwort zu finden, verunsicherte Joro umso mehr. Daher wurde sein Wunsch nach einer baldigen Aussage seitens seines Gottes beinahe unerträglich für ihn.
Schließlich richtete sich Celestus wieder auf und sah ihn an. Der Blick des Gottes wirkte sehr unerbittlich und forschend, und der junge Mann war sich sicher, daß dieser Effekt mehr als gewollt war.
"Zum Ersten: Bist du dir sicher, daß dein Hingezogensein zu ihr nicht nur eine Schwärmerei ist?"
"Wie kommst du darauf, daß ich es nicht ernst meinen könnte?"
"Das war nicht die Frage, Joro."
"Ich war in meinem Leben noch niemals verliebt. So wie es sich anfühlt, ist es mir sehr, sehr ernst, ja."
Celestus nickte und fuhr fort: "Zum Zweiten: Wirst du mir versprechen, niemals dein persönliches Wohl über das irgendeiner anderen Person zu stellen?"
Joro hatte auch über dieses Thema, neben vielen anderen, bereits am Vortag einiges gelesen. Selbstlosigkeit war eine der Grundfesten in Albrechts Lehren, eine, die umzusetzen ihm nicht schwer fiel.
"Natürlich werde ich das niemals tun."
"Weil du gelesen hast, daß es gefordert ist, oder weil du das selbst so empfindest?"
"Du kennst meine Gedanken, diese Frage erübrigt sich."
"Vielleicht wirst du verstehen, daß es mir gerade darum geht, daß du es aussprichst."
"Wenn du darauf bestehst... Nein, ich werde das niemals tun, weil ich es nicht gerecht finde."
"Gut." Die Haltung des Gottes entspannte sich ein wenig, aber er war noch nicht fertig. "Dann habe ich auch nichts dagegen, wenn du dir dein persönliches Glück sicherst. Deine Haltung gegenüber dem Leben darf nämlich nicht egoistisch sein, spätestens seit du dir den Thron in diesem Kloster angeeignet hast, ist das unmöglich geworden."

Celestus verschwand, wohl auch um einen Punkt zu machen, und ließ den jungen Mann irgendwo zwischen immernoch unsicher und halbwegs erleichtert zurück.
Er ließ sich erschöpft auf die Pritsche zurücksacken und starrte an die Decke, während der Wind draußen immernoch mit dem Fenster spielte.
Joro konnte sich an keine Zeit seines Lebens erinnern, in der er jemals den Anspruch gehabt hatte, etwas Großes werden zu wollen. Er war sozusagen gelernter Bauer, auch wenn die Extraausbildung seines Großvaters ihm sicherlich mehr beigebracht hatte, als ein bloßer Rinderzüchter wissen mußte. Aber er hatte sich eigentlich keine Gedanken darüber gemacht, was wohl später aus ihm würde. Stattdessen war er schlicht davon ausgegangen, daß er, bis er vielleicht einmal eine junge Frau kennenlernen würde, auf dem Hof seines Vaters bliebe und dort mithülfe, so wie es seine Geschwister, die auch alle noch nicht verheiratet waren, auch taten.
Was danach käme... Nun, in Daishan war es üblich, daß wenn ein Mann die älteste Tochter einer Familie heiratete, dieser den Hof ihres Vaters nach dessen Tod übernahm. Also hätte Joro zweifelsohne wohl irgendwann eine eigene Zucht oder vielleicht einige Getreidefelder besessen und bewirtschaftet.
Er richtete sich halb auf und machte ein kritisches Gesicht.
Aber das wäre doch eigentlich eine Verschwendung all des Wissens seines Großvaters gewesen, das dieser ihm vermittelt hatte. Das hier war nun nicht gerade ein Bauernhof, aber es war auch nicht so klein und überschaubar wie eine kleine Herde oder ein paar Felder.
Die Herde, die hier eigentlich im "Stall" stehen sollte, hatte in ihrem Umfang einen gravierenden Unterschied zu vier Dutzend Rindern.
Ein Mittelweg wäre zweifelsohne etwas angenehmer gewesen, aber am Ende einfach nur herumzuhocken und gar nichts zu tun zu haben, das irgendwie seinen Geist forderte, war auch nicht ganz das Wahre.
Joro sank zurück auf das Kopfkissen und rückte es zurecht, weil ihm einer der Strohhalme, die es füllten, in den Hinterkopf stach.

Eigentlich hatte er noch weiter nachdenken wollen, aber er mußte wohl unvermittelt eingenickt sein, denn als er plötzlich hochschrak, war draußen schon Morgendämmern zu sehen. Es war klamm und nicht sehr warm im Raum und er freute sich darüber, in seiner Robe geschlafen zu haben. Sich jetzt noch in halbfeuchte Klamotten zu zwängen, mußte nicht sein.
Draußen erschütterte ihn ein Anblick der Verwüstung.

Der Wind, der des nachts angefangen hatte, an seinem Fenster zu rütteln, mußte zwischenzeitig zu einem regelrechten Frühjahrssturm angeschwollen sein, denn auf dem ganzen Hof lagen zerbrochene, streckenweise fast pulverisierte Ziegel herum. Vorsichtig trat Joro aus seiner Zelle und schaute hoch, aufs Dach. Dort fehlte auf einer vielleicht zwei mal zwei Schritt großen Fläche nicht nur der Ziegelbelag, auch die normalerweise als Dämmung verwendete Schafswolle war komplett durch den Wind herausgerissen worden.
Die Himmel mußten ganz schön gewütet haben, denn die Ziegel waren teilweise eine nicht unerhebliche Strecke vom Dachrand aufgeschlagen.
Es war noch früh und Joro hatte irgendwie den Drang, aufzuräumen, wohl, weil er etwas brauchte, bei dem er in Ruhe nachdenken konnte.
In einer Ecke des Hofes, an der Seite der ehemaligen Kantine, entdeckte er einen kleinen Verschlag, in dem er sowohl eine Schaufel, als auch einige Reisigbesen fand.
Es war mühsam, keine Frage, aber die geistige Leere, die er so dringend brauchte, um Platz für Gedanken zu haben, stellte sich schnell ein.
Also hatte Celestus nichts dagegen, wenn er sich seinen eigenen Interessen widmete, aber nur an zweiter Stelle. Irgendwie gefiel ihm das nicht. Natürlich war es ja so, daß er es nur dem Gott zu verdanken hatte, überhaupt noch zu atmen und hier gerade diese Tonbröckel zusammenzufegen.
Der Haufen der zerbrochenen Ziegel wuchs an und Joro rückte sich allmählich eine andere Erkenntnis in den Kopf. Es ging gar nicht darum, daß der Gott Vorrang vor allem haben wollte, was er fühlte. Celestus wollte nur nicht, daß er vergaß, was der Gott ihm versprochen hatte. Aber warum waren denn alle so besorgt darum, daß er das nicht tun würde? Immerhin stand er doch jetzt hier in diesem Kloster und hatte den Sessel übernommen, auf dem vorher der alte fette Mann gesessen hatte.
"Also ich weiß ja, daß du das haßt, wann immer ich es sage, aber an dir ist wirklich eine Hausfrau verlorengegangen."
"Dinin? Halt die Klappe", knurrte Joro.
"Ich hab nichts gesagt." Der Drow ließ sich auf einer der Bänke nieder und schaute ihn an. "Da hat der Wind aber mächtig reingehaun."
"Ja... wir werden wohl einen Dachdecker brauchen. Ich hoffe, hier lagern wenigstens irgendwo Ersatzziegel."
"Dreihundertvierzehn."
"Was?"
"Es sind dreihundertundvierzehn Ziegel im Lager."
Joro sah Dinin mit einer Mischung aus Überraschung und Unglauben an.
"Und woher weißt du das bitte?"
Dieser reckte sich und spielte beleidigt.
"Glaubst du denn, daß ich die letzten Tage nur dumm herumgesessen habe und meine Eier, äh, also nichts getan habe?"
"Aha. Also hast du aus Langeweile Ziegel gezählt...?"
"Nein, du Dumpfkopp. Ich habe mit Toldor zusammen die Listen der Lager überprüft, um herauszufinden, was alles gestohlen wurde."
Joro hob eine weitere Schaufel mit Scherben auf den kleinen Haufen und setzte sie dann seufzend ab.
"Will ich das Ergebnis hören?"
"Nun ja..." Dinin rutschte ein wenig auf der Bank hin und her. "Also zunächst einmal meinte Toldor, daß die Listen mit Sicherheit sowieso gefälscht sind. Daher haben wir sie eigentlich nur benutzt, um zu finden, wo die einzelnen Lagerposten sind. Aber auch das hat sich am Ende als komplett nutzlos herausgestellt."
"Ihr habt, mit anderen Worten, alles neu gemacht, willst du mir das sagen?"
"Ja."
"Na herzlichen Glückwunsch, seid ihr schon durch?"
"Fast. Wir haben allerdings noch das Problem, daß wir keine Ahnung haben, wer den Schlüssel für die Schatzkammer hat, vermutlich hat jemand ihn mitgenommen, als er das Kloster verlassen hat."
"Wo hätte er denn sein sollen?"
"Naja, in der Amtsstube des Bischofs. Aber da ist er nicht. Toldor meinte schon, daß recht wahrscheinlich einer der anderen aus dem Rat den Schlüssel an sich genommen haben muß", Dinin verzog dabei fast mitleidig sein Gesicht, "wobei ich keinen Schimmer habe, warum er das getan hat, weil wir die Tür doch so oder so aufbekommen werden."
"Vielleicht ein Akt des Trotzes oder dergleichen. Das sollte uns jetzt nicht weiter kümmern."
"Hm, eins sollte ich dir aber vielleicht noch sagen, Joro..."
"Was denn?"
"Vorhin kam der wachhabende Offizier vom Tor zu mir und hat mir ein Schreiben Olgerichs gegeben, das ich an dich weitergeben soll."
"Ich nehme an, daß du schon hereingeschaut hast?"
Dinin machte ein unschuldiges Gesicht und gab ihm, ohne dabei vollständig ein Grinsen unterdrücken zu können, eine Schriftrolle.
Joro studierte das Papier kurz und dann sah er den Dunkelelfen böse an.
"Warst du das?"
"Nein. Heute Nacht ist ein Attentäter in den Schloßkeller eingedrungen und hat ihn beseitigt. Ich kann nicht sagen, daß er mir Leid tut, aber auf der anderen Seite empfinde ich auch durchaus etwas wie Enttäuschung."
"Wie soll denn da jemand hereingekommen sein, das wird doch bewacht oder nicht?"
"Nur weil etwas bewacht wird, heißt das noch lange nicht, daß man da nicht auch hereinkommt." Der Mund des Dunkelelfen formte ein Grinsen, das wohl nur von seinen Ohren aufgehalten wurde. "Ich bin auch in den Palast gekommen, obwohl draußen eine ziemlich große Menge an Menschen stand."
Der Bischof kratzte sich das Kinn.
"Wer könnte ihn wohl tot sehen wollen?"
Sie überlegten beide und sahen vor sich hin, als Albrecht um eine Ecke bog.
Dinin und Joro sahen sich beide an und fragten dann gleichzeitig, zum Leichnam gewandt:
"Hast du Justin umgebracht?"
Albrecht blieb stehen und musterte beide.
"Und wenn?"
Joros Gesichtsausdruck wurde böse.
"Hast du?"
"Ja."
Die Fassungslosigkeit, die ihn spontan ergriff, war aus irgendeinem Grund von einem Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit über Justins Ableben überlagert. Es war ihm schon bewußt, daß es eigentlich falsch gewesen war, den Mann zu ermorden, aber auf der anderen Seite sagte irgendwas in ihm, daß es richtig war.
Das bereitete ihm Entsetzen vor sich selbst.
Dinin hingegen schien ziemlich ruhig. Er kratzte sich mit einem Dolch unter dem linken Daumennagel.
"Dann ist das Problem ja gelöst. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir mehr und mehr Gedanken gemacht, wie das wohl zu klären sei. Alles außer seinem Tod hätte uns nur einen weiteren Feind beschert, der solange er lebte auch eine Gefahr gewesen wäre."
Joro schwieg, er hatte die Fassung immernoch nicht wieder. Albrecht hingegen zuckte mit den Achseln.
"Wenn sich unser neuer Bischof nicht entscheiden kann, muß man halt nachhelfen. Justin hatte schon wieder versucht, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Gestern Nacht war ich in der Stadt und mir wurde das Eine und Andere geflüstert."
Der junge Mann sah in seine Richtung, aber seine Augen waren immernoch recht glasig.
"Es gab keinen Ausweg, willst du mir das damit sagen?"
"Richtig", kam es trocken zurück.
Joro wandte sich wieder seiner Arbeit zu und fegte weiterhin Scherben der Ziegel zusammen.
Während er so weitermachte, sah er, wie Dinin mit den Schultern zuckte und sich aufmachte, ins Hauptgebäude zu gehen. Albrecht hingegen blieb stehen und schaute ganz unverhohlen in seine Richtung.
"Was willst du, Albrecht?"
"Gehe ich recht in der Annahme, daß dir die Art und Weise, wie das geregelt wurde, ganz und gar nicht gefällt?"
Bischof Macun machte noch ein paar Besenstriche und stellte das Werkzeug dann energisch vor sich auf den Boden.
"Nein. Warum sollte ich auch. Ich habe die Leute hier herausgeworfen, weil ich aus einer Räuberhöhle wieder ein Kloster, einen geistlichen Ort machen wollte."
"Das spricht dir ja auch keiner ab, mein Junge, aber dennoch wirst du nicht umhin können, der Realität ins Auge zu blicken."
"Und wie sieht diese Realität deiner hochgeschätzten Meinung nach aus?"
"Wie bereits gesagt wurde. Ohne seinen Tod hättest du weiterhin mit der Gefahr leben müssen, daß er versucht, dich aus dem Weg zu räumen."
"Und die Gefahr ist jetzt gebannt, ja? Weil mit Justin alle meine Feinde auf dieser Welt verschwunden sind..."
"Nein, das hat doch niemand behauptet. Zumindest jedoch ist der eine große Feind, den du hier vor Ort hattest und der dich direkt in deiner neuen Position hätte angreifen können, nun aus der Welt."
Joro schaute zu Boden und dachte wieder eine Weile nach. Dann sah er wieder auf und meinte trocken zu Albrecht.
"Gut. In Zukunft läßt du solche Entscheidungen aber mich treffen, hast du verstanden?"
Albrecht zögerte. Eigentlich hätte er etwas zynisches entgegnen wollen, aber er sah einen starken unterschwelligen Zorn in Joros Augen und wollte die Situation nicht eskalieren lassen. Stattdessen nickte er stumm und wandte sich zum Gehen.
"Halt mal."
"Was?" Der Leichnam drehte sich wieder zum Bischof.
"Sag Dinin, daß er die Ziegel besorgen soll, ich will, daß das Dach bis heute Nachmittag wieder dicht ist."
 

© Matthias Wruck
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