Die Nacht war unruhig und der starke Wind, der gegen Mitternacht
aufkam, rüttelte stark am kleinen Fenster seines Schlafplatzes. Mehr
als einmal schrak Joro aus dem Schlaf hoch, nur um zu bemerken, daß
nur eine Böe gegen das Glas gedrückt und den ausgeleierten Verschlußmechanismus
zum Klappern gebracht hatte. Dieser Ort hatte trotz der Ereignisse der
vergangenen Tage auch eine ziemlich geisterhaften Atmosphäre, vor
allem in Anbetracht der Tatsache, wie viele hier vorher noch gewesen waren
und wie wenige nun hier wohnten. Mehrere Gebäude für hunderte
von Menschen waren völlig leer und die Winde, die durch die Gänge
strichen, machten hin und wieder geradezu beängstigende, zumindest
aber seltsame Geräusche.
Seine Gedanken fanden wieder ihren Weg zu Vierna. Er ertappte sich
dabei, irgendwie etwas wie Schuld zu fühlen, daß er so wenig
an sie dachte, wo doch alleine die Vorstellung eines Bildes von ihr in
seinem Geiste sein Herz dazu brachte, schneller zu schlagen und damit in
seinem Körper eine gewisse Aufregung erzeugte.
Die Diskrepanz zwischen dem, was er tun mußte, und dem, woran
seine Gefühle hingen, wurde ihm auf ziemlich eindringliche Weise klar.
Er brauchte Rat.
"Celestus?"
Der Gott erschien auf dem kleinen Hocker, der am Schreibtisch der
Zelle stand.
"Ich weiß, was du mich fragen willst."
"Darf ich die Frage trotzdem stellen?"
"Nur zu."
"Wirst du wütend auf mich sein, wenn ich dem, was mir wichtig
ist, einen Platz in meinem Leben einrichte, der dem, was dir wichtig ist,
einen zumindest ebenbürtigen einnimmt?"
Celestus sah ihn lange schweigend an. Fast fürchtete Joro,
einen schlimmen Fehltritt begangen zu haben, aber der Gott ließ unvermittelt
den Kopf hängen.
"Was erwartest du, das ich darauf antworten soll, Joro?"
"Das mußt wohl diesmal wirklich du mir sagen."
Es war nicht zu übersehen, daß der dunkle Herr mit der
Situation mehr als unzufrieden war, aber sein Zögern, eine Antwort
zu finden, verunsicherte Joro umso mehr. Daher wurde sein Wunsch nach einer
baldigen Aussage seitens seines Gottes beinahe unerträglich für
ihn.
Schließlich richtete sich Celestus wieder auf und sah ihn
an. Der Blick des Gottes wirkte sehr unerbittlich und forschend, und der
junge Mann war sich sicher, daß dieser Effekt mehr als gewollt war.
"Zum Ersten: Bist du dir sicher, daß dein Hingezogensein zu
ihr nicht nur eine Schwärmerei ist?"
"Wie kommst du darauf, daß ich es nicht ernst meinen könnte?"
"Das war nicht die Frage, Joro."
"Ich war in meinem Leben noch niemals verliebt. So wie es sich anfühlt,
ist es mir sehr, sehr ernst, ja."
Celestus nickte und fuhr fort: "Zum Zweiten: Wirst du mir versprechen,
niemals dein persönliches Wohl über das irgendeiner anderen Person
zu stellen?"
Joro hatte auch über dieses Thema, neben vielen anderen, bereits
am Vortag einiges gelesen. Selbstlosigkeit war eine der Grundfesten in
Albrechts Lehren, eine, die umzusetzen ihm nicht schwer fiel.
"Natürlich werde ich das niemals tun."
"Weil du gelesen hast, daß es gefordert ist, oder weil du
das selbst so empfindest?"
"Du kennst meine Gedanken, diese Frage erübrigt sich."
"Vielleicht wirst du verstehen, daß es mir gerade darum geht,
daß du es aussprichst."
"Wenn du darauf bestehst... Nein, ich werde das niemals tun, weil
ich es nicht gerecht finde."
"Gut." Die Haltung des Gottes entspannte sich ein wenig, aber er
war noch nicht fertig. "Dann habe ich auch nichts dagegen, wenn du dir
dein persönliches Glück sicherst. Deine Haltung gegenüber
dem Leben darf nämlich nicht egoistisch sein, spätestens seit
du dir den Thron in diesem Kloster angeeignet hast, ist das unmöglich
geworden."
Celestus verschwand, wohl auch um einen Punkt zu machen, und ließ
den jungen Mann irgendwo zwischen immernoch unsicher und halbwegs erleichtert
zurück.
Er ließ sich erschöpft auf die Pritsche zurücksacken
und starrte an die Decke, während der Wind draußen immernoch
mit dem Fenster spielte.
Joro konnte sich an keine Zeit seines Lebens erinnern, in der er
jemals den Anspruch gehabt hatte, etwas Großes werden zu wollen.
Er war sozusagen gelernter Bauer, auch wenn die Extraausbildung seines
Großvaters ihm sicherlich mehr beigebracht hatte, als ein bloßer
Rinderzüchter wissen mußte. Aber er hatte sich eigentlich keine
Gedanken darüber gemacht, was wohl später aus ihm würde.
Stattdessen war er schlicht davon ausgegangen, daß er, bis er vielleicht
einmal eine junge Frau kennenlernen würde, auf dem Hof seines Vaters
bliebe und dort mithülfe, so wie es seine Geschwister, die auch alle
noch nicht verheiratet waren, auch taten.
Was danach käme... Nun, in Daishan war es üblich, daß
wenn ein Mann die älteste Tochter einer Familie heiratete, dieser
den Hof ihres Vaters nach dessen Tod übernahm. Also hätte Joro
zweifelsohne wohl irgendwann eine eigene Zucht oder vielleicht einige Getreidefelder
besessen und bewirtschaftet.
Er richtete sich halb auf und machte ein kritisches Gesicht.
Aber das wäre doch eigentlich eine Verschwendung all des Wissens
seines Großvaters gewesen, das dieser ihm vermittelt hatte. Das hier
war nun nicht gerade ein Bauernhof, aber es war auch nicht so klein und
überschaubar wie eine kleine Herde oder ein paar Felder.
Die Herde, die hier eigentlich im "Stall" stehen sollte, hatte in
ihrem Umfang einen gravierenden Unterschied zu vier Dutzend Rindern.
Ein Mittelweg wäre zweifelsohne etwas angenehmer gewesen, aber
am Ende einfach nur herumzuhocken und gar nichts zu tun zu haben, das irgendwie
seinen Geist forderte, war auch nicht ganz das Wahre.
Joro sank zurück auf das Kopfkissen und rückte es zurecht,
weil ihm einer der Strohhalme, die es füllten, in den Hinterkopf stach.
Eigentlich hatte er noch weiter nachdenken wollen, aber er mußte
wohl unvermittelt eingenickt sein, denn als er plötzlich hochschrak,
war draußen schon Morgendämmern zu sehen. Es war klamm und nicht
sehr warm im Raum und er freute sich darüber, in seiner Robe geschlafen
zu haben. Sich jetzt noch in halbfeuchte Klamotten zu zwängen, mußte
nicht sein.
Draußen erschütterte ihn ein Anblick der Verwüstung.
Der Wind, der des nachts angefangen hatte, an seinem Fenster zu rütteln,
mußte zwischenzeitig zu einem regelrechten Frühjahrssturm angeschwollen
sein, denn auf dem ganzen Hof lagen zerbrochene, streckenweise fast pulverisierte
Ziegel herum. Vorsichtig trat Joro aus seiner Zelle und schaute hoch, aufs
Dach. Dort fehlte auf einer vielleicht zwei mal zwei Schritt großen
Fläche nicht nur der Ziegelbelag, auch die normalerweise als Dämmung
verwendete Schafswolle war komplett durch den Wind herausgerissen worden.
Die Himmel mußten ganz schön gewütet haben, denn
die Ziegel waren teilweise eine nicht unerhebliche Strecke vom Dachrand
aufgeschlagen.
Es war noch früh und Joro hatte irgendwie den Drang, aufzuräumen,
wohl, weil er etwas brauchte, bei dem er in Ruhe nachdenken konnte.
In einer Ecke des Hofes, an der Seite der ehemaligen Kantine, entdeckte
er einen kleinen Verschlag, in dem er sowohl eine Schaufel, als auch einige
Reisigbesen fand.
Es war mühsam, keine Frage, aber die geistige Leere, die er
so dringend brauchte, um Platz für Gedanken zu haben, stellte sich
schnell ein.
Also hatte Celestus nichts dagegen, wenn er sich seinen eigenen
Interessen widmete, aber nur an zweiter Stelle. Irgendwie gefiel ihm das
nicht. Natürlich war es ja so, daß er es nur dem Gott zu verdanken
hatte, überhaupt noch zu atmen und hier gerade diese Tonbröckel
zusammenzufegen.
Der Haufen der zerbrochenen Ziegel wuchs an und Joro rückte
sich allmählich eine andere Erkenntnis in den Kopf. Es ging gar nicht
darum, daß der Gott Vorrang vor allem haben wollte, was er fühlte.
Celestus wollte nur nicht, daß er vergaß, was der Gott ihm
versprochen hatte. Aber warum waren denn alle so besorgt darum, daß
er das nicht tun würde? Immerhin stand er doch jetzt hier in diesem
Kloster und hatte den Sessel übernommen, auf dem vorher der alte fette
Mann gesessen hatte.
"Also ich weiß ja, daß du das haßt, wann immer
ich es sage, aber an dir ist wirklich eine Hausfrau verlorengegangen."
"Dinin? Halt die Klappe", knurrte Joro.
"Ich hab nichts gesagt." Der Drow ließ sich auf einer der
Bänke nieder und schaute ihn an. "Da hat der Wind aber mächtig
reingehaun."
"Ja... wir werden wohl einen Dachdecker brauchen. Ich hoffe, hier
lagern wenigstens irgendwo Ersatzziegel."
"Dreihundertvierzehn."
"Was?"
"Es sind dreihundertundvierzehn Ziegel im Lager."
Joro sah Dinin mit einer Mischung aus Überraschung und Unglauben
an.
"Und woher weißt du das bitte?"
Dieser reckte sich und spielte beleidigt.
"Glaubst du denn, daß ich die letzten Tage nur dumm herumgesessen
habe und meine Eier, äh, also nichts getan habe?"
"Aha. Also hast du aus Langeweile Ziegel gezählt...?"
"Nein, du Dumpfkopp. Ich habe mit Toldor zusammen die Listen der
Lager überprüft, um herauszufinden, was alles gestohlen wurde."
Joro hob eine weitere Schaufel mit Scherben auf den kleinen Haufen
und setzte sie dann seufzend ab.
"Will ich das Ergebnis hören?"
"Nun ja..." Dinin rutschte ein wenig auf der Bank hin und her. "Also
zunächst einmal meinte Toldor, daß die Listen mit Sicherheit
sowieso gefälscht sind. Daher haben wir sie eigentlich nur benutzt,
um zu finden, wo die einzelnen Lagerposten sind. Aber auch das hat sich
am Ende als komplett nutzlos herausgestellt."
"Ihr habt, mit anderen Worten, alles neu gemacht, willst du mir
das sagen?"
"Ja."
"Na herzlichen Glückwunsch, seid ihr schon durch?"
"Fast. Wir haben allerdings noch das Problem, daß wir keine
Ahnung haben, wer den Schlüssel für die Schatzkammer hat, vermutlich
hat jemand ihn mitgenommen, als er das Kloster verlassen hat."
"Wo hätte er denn sein sollen?"
"Naja, in der Amtsstube des Bischofs. Aber da ist er nicht. Toldor
meinte schon, daß recht wahrscheinlich einer der anderen aus dem
Rat den Schlüssel an sich genommen haben muß", Dinin verzog
dabei fast mitleidig sein Gesicht, "wobei ich keinen Schimmer habe, warum
er das getan hat, weil wir die Tür doch so oder so aufbekommen werden."
"Vielleicht ein Akt des Trotzes oder dergleichen. Das sollte uns
jetzt nicht weiter kümmern."
"Hm, eins sollte ich dir aber vielleicht noch sagen, Joro..."
"Was denn?"
"Vorhin kam der wachhabende Offizier vom Tor zu mir und hat mir
ein Schreiben Olgerichs gegeben, das ich an dich weitergeben soll."
"Ich nehme an, daß du schon hereingeschaut hast?"
Dinin machte ein unschuldiges Gesicht und gab ihm, ohne dabei vollständig
ein Grinsen unterdrücken zu können, eine Schriftrolle.
Joro studierte das Papier kurz und dann sah er den Dunkelelfen böse
an.
"Warst du das?"
"Nein. Heute Nacht ist ein Attentäter in den Schloßkeller
eingedrungen und hat ihn beseitigt. Ich kann nicht sagen, daß er
mir Leid tut, aber auf der anderen Seite empfinde ich auch durchaus etwas
wie Enttäuschung."
"Wie soll denn da jemand hereingekommen sein, das wird doch bewacht
oder nicht?"
"Nur weil etwas bewacht wird, heißt das noch lange nicht,
daß man da nicht auch hereinkommt." Der Mund des Dunkelelfen formte
ein Grinsen, das wohl nur von seinen Ohren aufgehalten wurde. "Ich bin
auch in den Palast gekommen, obwohl draußen eine ziemlich große
Menge an Menschen stand."
Der Bischof kratzte sich das Kinn.
"Wer könnte ihn wohl tot sehen wollen?"
Sie überlegten beide und sahen vor sich hin, als Albrecht um
eine Ecke bog.
Dinin und Joro sahen sich beide an und fragten dann gleichzeitig,
zum Leichnam gewandt:
"Hast du Justin umgebracht?"
Albrecht blieb stehen und musterte beide.
"Und wenn?"
Joros Gesichtsausdruck wurde böse.
"Hast du?"
"Ja."
Die Fassungslosigkeit, die ihn spontan ergriff, war aus irgendeinem
Grund von einem Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit über Justins
Ableben überlagert. Es war ihm schon bewußt, daß es eigentlich
falsch gewesen war, den Mann zu ermorden, aber auf der anderen Seite sagte
irgendwas in ihm, daß es richtig war.
Das bereitete ihm Entsetzen vor sich selbst.
Dinin hingegen schien ziemlich ruhig. Er kratzte sich mit einem
Dolch unter dem linken Daumennagel.
"Dann ist das Problem ja gelöst. Wenn ich ehrlich bin, habe
ich mir mehr und mehr Gedanken gemacht, wie das wohl zu klären sei.
Alles außer seinem Tod hätte uns nur einen weiteren Feind beschert,
der solange er lebte auch eine Gefahr gewesen wäre."
Joro schwieg, er hatte die Fassung immernoch nicht wieder. Albrecht
hingegen zuckte mit den Achseln.
"Wenn sich unser neuer Bischof nicht entscheiden kann, muß
man halt nachhelfen. Justin hatte schon wieder versucht, mit der Außenwelt
Kontakt aufzunehmen. Gestern Nacht war ich in der Stadt und mir wurde das
Eine und Andere geflüstert."
Der junge Mann sah in seine Richtung, aber seine Augen waren immernoch
recht glasig.
"Es gab keinen Ausweg, willst du mir das damit sagen?"
"Richtig", kam es trocken zurück.
Joro wandte sich wieder seiner Arbeit zu und fegte weiterhin Scherben
der Ziegel zusammen.
Während er so weitermachte, sah er, wie Dinin mit den Schultern
zuckte und sich aufmachte, ins Hauptgebäude zu gehen. Albrecht hingegen
blieb stehen und schaute ganz unverhohlen in seine Richtung.
"Was willst du, Albrecht?"
"Gehe ich recht in der Annahme, daß dir die Art und Weise,
wie das geregelt wurde, ganz und gar nicht gefällt?"
Bischof Macun machte noch ein paar Besenstriche und stellte das
Werkzeug dann energisch vor sich auf den Boden.
"Nein. Warum sollte ich auch. Ich habe die Leute hier herausgeworfen,
weil ich aus einer Räuberhöhle wieder ein Kloster, einen geistlichen
Ort machen wollte."
"Das spricht dir ja auch keiner ab, mein Junge, aber dennoch wirst
du nicht umhin können, der Realität ins Auge zu blicken."
"Und wie sieht diese Realität deiner hochgeschätzten Meinung
nach aus?"
"Wie bereits gesagt wurde. Ohne seinen Tod hättest du weiterhin
mit der Gefahr leben müssen, daß er versucht, dich aus dem Weg
zu räumen."
"Und die Gefahr ist jetzt gebannt, ja? Weil mit Justin alle meine
Feinde auf dieser Welt verschwunden sind..."
"Nein, das hat doch niemand behauptet. Zumindest jedoch ist der
eine große Feind, den du hier vor Ort hattest und der dich direkt
in deiner neuen Position hätte angreifen können, nun aus der
Welt."
Joro schaute zu Boden und dachte wieder eine Weile nach. Dann sah
er wieder auf und meinte trocken zu Albrecht.
"Gut. In Zukunft läßt du solche Entscheidungen aber mich
treffen, hast du verstanden?"
Albrecht zögerte. Eigentlich hätte er etwas zynisches
entgegnen wollen, aber er sah einen starken unterschwelligen Zorn in Joros
Augen und wollte die Situation nicht eskalieren lassen. Stattdessen nickte
er stumm und wandte sich zum Gehen.
"Halt mal."
"Was?" Der Leichnam drehte sich wieder zum Bischof.
"Sag Dinin, daß er die Ziegel besorgen soll, ich will, daß
das Dach bis heute Nachmittag wieder dicht ist."
© Matthias
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