Die Nachricht von der Zerstörung Excelsiors war die erste von
zwei Neuigkeiten, die die Xendii von PAGAN in Aufruhr versetzten. Die andere
Bombe explodierte noch am selben Abend, stürzte selbst die optimistischsten,
friedliebendsten unter ihnen in eine schwere Sinnkrise und hinterließ
die schreckliche Vorahnung von Krieg und Tod.
Die Node von Azteca war gekapert und sämtliche Mitglieder der
Domén Arx Taraqua waren getötet worden. Zu diesem unmenschlichen
Verbrechen bekannte sich angeblich ... PAGAN!
Viele in der Allianz, die sich mit den Gedanken getragen hatten,
sich zu der rivalisierenden Organisation der RSA zu flüchten, nahmen
plötzlich Abstand von ihrem Vorhaben; eine Flut an Briefen und E-Mails
von zweifelnden, besorgten Xendii brach über den Rat von PAGAN ein.
Dieser tagte wieder einmal seit Stunden im Aquarium, denn nur wenig
später nach dieser grauenhaften Nachricht und der infamen Unterstellung
der Allianz war ein Bote aus Orientalis eingetroffen und bat um nichts
weniger als um militärische Unterstützung, da das Haus El Beyt
Akkamar die Spezialtruppe von De Navarris hinter dem Verbrechen vermutete
und befürchtete, als nächste an der Reihe zu sein. War Chillán
Taraqua nicht derjenige gewesen, der sich bei der letzten Sitzung der RSA
vehement gegen die Pläne Europas und America Boreas gestellt hatte,
so wie das Haus Zimberdale und eben El Beyt Akkamar?
Die Kontinentalräte hatten noch zuviel Wut in sich und waren
offensichtlich geneigt, sämtliche wehrfähige Xendii nach Orientalis
zu entsenden, doch es gab zwei Stimmen in dem fast einhelligen Rachechor,
die ganz anderer Meinung waren.
»Haltet die Luft an!«, brüllte Aévon von
seinem Sitz in der Versammlungsarena. »Von meinen Leuten geht jedenfalls
niemand nach Orientalis, das steht fest. Ich hatte das Vergnügen,
die Sippe El Beyt Akkamar kennen zu lernen. Sie sind gierige, verschwendungssüchtige
Opportunisten, die mit demjenigen liebäugeln, der ihnen genug Geld
dafür gibt. Ihre Loyalität geht an den Meistbietenden. Ich wette,
De Navarris hat sie schon längst ersteigert.«
Georg Midfield, kaum mehr als ein zitterndes, schweißgebadetes
Bündel in seinem Rollstuhl, beugte sich unter großen Mühen
zu Mira vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Wir können doch nicht auf deine Verdächtigungen
hin riskieren, dass De Navarris noch eine Node unter ihre Kontrolle bringen!«,
rief die Vizepräsidentin daraufhin zu dem jungen Zimberdale empor.
»Ich teile die Vorsicht meines Sohnes«, entgegnete Procyon
mit bedrücktem Gesicht. »Wir sollten ihnen allenfalls einige
Leute zur Seite stellen und eine größere Truppe in Bereitschaft
versetzen, notfalls sofort hinüberzugehen. Aber ein Heer dorthin zu
entsenden ohne die Möglichkeit, ihnen zu helfen, falls...«
»Falls was?«, wollte ein chinesischer Kontinentalrat
wissen. »Nicht einmal De Navarris wagt es, einen offenen Krieg zu
riskieren. Auch wenn wir in vielen Punkten völlig anderer Ansichten
sind - sie möchten den DiS-Level genauso wenig erhöhen wie wir.«
»Anscheinend ist ihnen das schon längst egal«,
wandte Aévon verächtlich ein. »Sonst hätten sie
nicht dieses Manöver in Azteca gestartet. Es geht jetzt nur noch darum,
wer die Kontrolle über die meisten Noden gewinnt und damit mehr Macht.
De Navarris hält nichts von Mitbestimmung aller Sippen und Bewegungs-
und Glaubensfreiheit für den einzelnen Xendi, wie eigentlich die meisten
Domén und Mayor Arxes der RSA. Sie sehen sich in der Tradition selbstherrlicher
kleiner Feudalherren, die dem gemeinen Volk vorschreiben und drohen können,
was und wann immer es ihnen beliebt. Sie sind Relikte, die ihren Untergang
einfach nicht kampflos hinnehmen wollen. Und wenn schon untergegangen wird,
dann bitte mit Mann und Maus und ohne Rücksicht auf die Zukunft.«
»Aber in Orientalis gibt es viele kleine Sippen, die auf unserer
Seite stehen«, wandte eine arabischstämmige Kontinentalrätin
ein. »Ich habe viele Mails und Anrufe bekommen, dass man der Darstellung
der RSA nicht so recht traut. El Beyt Akkamar ist unter den Minor Arxes
von Orientalis höchst unbeliebt, aber leider gibt es dort keine Möglichkeit,
die herrschende Domén Arx abzusetzen, solange die Mayor Arxes hinter
ihnen stehen. Dennoch ist Buran El Beyt Akkamar nicht sonderlich daran
gelegen, noch mehr Stimmen aus den kleineren Arxes gegen sich aufzubringen.
Deshalb denke ich nicht, dass er mit De Navarris gemeinsame Sache macht.
Die arabischen Xendii lassen sich viel bieten - aber wehe, es überschreitet
einen gewissen Punkt. Dann wird kurzer Prozess mit den Herrschern gemacht.
Ich denke, die orientalische Domén Arx wird von De Navarris erpresst
- und bittet uns nun um Hilfe. Wir können sie ihnen einfach nicht
versagen! Haben wir damals nicht auch Australia gegen die RSA beigestanden?«
»Ja, und das und noch viel mehr tragen sie uns bis heute nach«,
entgegnete Procyon düster.
»Und damals hatten sie auch noch keine überbegabten Xendii,
weswegen die Kämpfe um Australia schnell zu Ende waren, angesichts
der Überlegenheit PAGANs. Ich habe in meinem Leben drei große
Fehler gemacht. Einer davon war, auf De Navarris hereinzufallen, als sie
mich baten, das Leben gewisser Gefangene zu verschonen, die ich gemacht
hatte, als ich ein Nest von wahnsinnigen Fanatikern ausgehoben habe. Schon
damals waren sie auf den Geschmack gekommen, aber die eigenen Regeln der
Allianz verbieten es offiziell bis heute, überbegabte Kinder am Leben
zu lassen. Inoffiziell hält sich jede Domén Arx ihre kleine
Truppe an Doppel-Xendii, und De Navarris ist noch einen Schritt weitergegangen
und hat sich besonders gefährliche Exemplare an Bord geholt. Dieser
Thanatos, der heute General der europäischen Xendii-Armee ist, war
vielleicht zwölf oder dreizehn, als er von meinen Leuten in der Siedlung
von Mére D’Enfer gefangen genommen wurde. Aber er war schon damals
ein seelischer Krüppel, zum Töten abgerichtet. Nichts und niemand
kann ihn von seiner andressierten Grausamkeit erlösen als alleine
der Tod.«
Aévon, der finster auf seine Hände starrte, knurrte
leise: »Und was waren die beiden anderen Fehler? Lass mich raten:
Dich mit einer Hure von Mére D’Enfer einzulassen, die dann mit deinem
Sohn abgehauen ist?«
Da der Geräuschpegel durch zahllose Diskussionen der Räte
untereinander immer noch hoch war, achtete niemand auf Procyon und seinen
Sohn.
»Es war ein Fehler, damals nicht besser auf dich aufgepasst
zu haben. Das werfe ich mir jeden Tag vor«, sagte Procyon mit zitternder
Stimme und wandte dann den Blick von seinem Sohn ab, dessen Gesicht sich
vollkommen verhärtet hatte. Würde er ihm dieses Versagen jemals
verzeihen? Es sah nicht danach aus.
»Stets die gleiche Leier. Nun ja, ich bin es ja gewöhnt.
Und Nummer drei?«
»Darüber will ich nicht reden, aber es hat nichts mit
dir zu tun.«
»Na, dann kann es wohl nicht so schlimm sein.«
»Ich hoffe es sehr. Es wird sich noch herausstellen, ob dieser
Fehler alle meine anderen Verfehlung um das Tausendfache überbietet.«
Procyon strich sich müde über das Gesicht.
»Klingt interessant«, meinte Aévon ironisch.
»Was könnte schlimmer sein, als sich gegen besseres Wissen mit
abartigen Subjekten einzulassen?«
»Aus Liebe das Falsche zu tun und sich gegen den Lauf der
Dinge stemmen zu wollen. Töricht genug zu sein, um zu glauben, man
könne dem Tod ein Nase drehen.«
»Hast du es wenigstens geschafft, dem Tod eine Nase zu drehen?«
Aévon hob interessiert die Braue.
»Ja. Und ich habe Angst, dass nicht nur ich alleine die Quittung
dafür bekomme.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals todkrank warst...«
»Ich spreche auch nicht von mir.«
»Jetzt machst du mich aber wirklich neugierig. Lass mich überlegen.
Oh! Erzähl mir nicht, es hat mit Tigris zu tun. Sie schwärmt
von dir, weil du angeblich ihr Xendium unterdrücken konntest. Was
ich persönlich nicht glaube. Sie ist lediglich ein Spätzünder,
der von verblödeten Daimons dieses Amulett aufgehalst bekommen hat.
Wir sollten einen Weg finden, sie davon zu befreien. Sie wird noch wahnsinnig
davon. Und das könnte ich mir beispielsweise niemals verzeihen.«
»Ich ...« Für einen kurzen Moment war Procyon entschlossen,
Aévon beiseite zu nehmen und ihm alles über jene Nacht vor
siebzehn Jahren zu erzählen, in der er einen schwerwiegenden Fehler
begangen hatte, nur um die Frau, die er liebte, nicht vollends zusammenbrechen
zu sehen und das Leiden eines kleinen, hilflosen Geschöpfs zu beenden,
das sich in Krämpfen unter den übermächtigen Energien des
Doppel-Xendium wand und zu sterben drohte.
Endlich das Wissen über dieses Verhängnis mit jemandem
teilen, endlich nicht mehr alleine mit dieser Bürde zu sein. Vielleicht
einen hilfreichen Rat erhalten... er sehnte sich so sehr danach, dass jemand
ihm sagte, wie er sich verhalten sollte, wie er sich IHR gegenüber
verhalten sollte. Für alle anderen war sie die geliebte Tochter und
Schwester, Freundin, ein vom Doppel-Xendium schwer geschlagenes armes Menschenkind.
Doch für ihn ... er wusste, was sie in Wahrheit war.
Seit ihrem Anfall vor wenigen Tagen, vielleicht auch schon davor,
war die Furcht vor ihr übermächtig in ihm geworden.
»Wir haben keine Zeit mehr für Debatten!«, riss
ihn Miras Stimme aus seinen Gedanken. »Der Präsident wünscht
jetzt eine Abstimmung hinsichtlich der Entsendung von Truppen nach Orientalis.«
Und wie es zu erwarten war, stimmten nahezu alle Räte dafür,
viertausend Xendii nach Orientalis zu entsenden.
»Ich fasse es nicht!« Aévon schüttelte wütend
den Kopf. »Diese Sache stinkt gewaltig. Und egal, ob PAGAN mich dafür
hasst: Ich und meine DiSMasters bleiben dem Schauspiel fern.«
Procyon schnaubte resigniert auf. »Ich werde auch keine Truppen
nach Orientalis entsenden, ebenfalls auf die Gefahr hin, mich unbeliebt
zu machen. Atlantica hat ohnehin genug zu tun mit den RSA-Sympathisanten
in Irland und England. Uns droht ein doméninterner Krieg, wenn wir
diese Fanatiker nicht schleunigst ruhigstellen.«
.
Tigris wurde durch gedämpfte Stimmen und Schritte geweckt.
Im ersten Moment glaubte sie in Windwibbenburg zu sein und war etwas
verwirrt.
Dann stürzten die Realität und Erinnerungen wie ein Regenguss
auf sie ein. Ihre Kehle verengte sich, als zuletzt Erinnerungsfetzen an
ihre Halluzination von Excelsior und Darius grell aufleuchteten und augenblicklich
verglühten. Lag sie deswegen wieder einmal im Krankenhaus? Wegen merkwürdigen
Visionen, die sich so real anfühlten, dass sie die Macht hatten, ihr
das Leben schwer zu machen?
Dann fiel ihr plötzlich der Alptraum ein, denn sie gehabt haben
musste, nachdem man sie ins Krankenhaus verfrachtet hatte.
Oder war es gar keiner gewesen? Für einige Sekunden war sie
sich nicht sicher.
Doch je länger sie über das nachdachte, was in jenem Traum
passiert war, desto mehr beschwor sie sich, dass es einfach einer gewesen
sein musste.
Denn welchen Grund sollte jener, der darin vorgekommen war, gehabt
haben, an ihrem Bett zu stehen und rätselhafte, gemeine Dinge zu ihr
zu sagen, während sie schlief?
In dem Alptraum hatte diese Person in großem Abstand vor ihrem
Bett verharrt und zu ihr herübergestarrt. Sie selber war sich wie
benebelt vorgekommen, für Sekunden bei klarem Verstand, dann wieder
in ein dunkles Meer hinabsinkend.
Doch jedes Mal, wenn sie es erneut geschafft hatte, sich wachzuschwimmen,
war ihr eine Welle aus Furcht und nagenden Schuldgefühlen entgegengeschlagen.
Sie waren von dem regungslos dastehenden Mann mit dem Bart und goldbraunen
Augen ausgegangen.
Oh, sie kannte das Gesicht ganz genau: Es war das von Procyon Zimberdale,
ihres wahren Vaters. Ihre Mutter hatte ihr vor wenigen Tagen sein Foto
gezeigt, weil er andauernd unterwegs war und immer noch keine Zeit gefunden
hatte, seine Tochter kennen zu lernen. Das war schon ein wenig enttäuschend.
Vielleicht hatte sie deswegen schlecht von ihm geträumt?
Er hatte in dem Traum, ohne die Lippen zu bewegen, gesagt:
›Oh Gott. Was habe ich getan? Und wenn du nun nicht so harmlos bist,
wie er mir versichert hat? Was, wenn er mir etwas über dich verschwiegen
hat? Warum sollte ich dich zum Beispiel unbedingt Melisande nennen? Ich
wünschte, ich... hätte nicht auf diese Weise in das Schicksal
meines Kindes eingegriffen. Es wäre besser gewesen, sie sterben zu
lassen.‹
Dann war ihre Mutter ins Zimmer gekommen und er hatte zu ihr gesagt:
›Ich muss leider gehen. Einige irische Sippen machen Probleme...‹
›Aber es wäre so schön gewesen, wenn sie dich endlich
sehen könnte. Sie freut sich schon die ganze Zeit auf dich.‹, hatte
ihre Mutter enttäuscht geantwortet, doch er hatte ihr nur einen Kuss
gegeben und war dann regelrecht aus dem Zimmer geflohen.
Man träumte aber auch manchmal Unsinn zusammen!
Sie seufzte aus tiefster Seele.
Wieder einmal also eine Zimmerdecke über ihr, wieder lag sie
im Krankenbett.
Und wieder einmal hatte das Schicksal oder Fremde, die anscheinend
Macht darüber hatten, sie niedergerungen. Ständig spielten andere
mit ihrem Leben und ließen sie straucheln, wann immer es ihnen beliebte.
Vor allem aber spielte ER mit ihr.
Sie schaute zum geöffneten Fenster, das den künstlichen
Tageshimmel einrahmte. Die Vögel zwitscherten unbekümmert wie
jeden Morgen in Shangri-La, ein sachter Wind verirrte sich in ihr Zimmer
und ließ die Köpfe der bunten Blumen in der orangen Glasvase
fröhlich nicken.
ER sollte Excelsior zerstört haben und vielleicht schon in
ihrer Nähe sein?
Nichts wies darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung war, dass irgendetwas
Schreckliches bevorstand.
Durch die geschlossene Tür drangen gedämpft die Schritte
von Besuchern auf dem Flur. Geschirr klapperte in den Speisewägen,
die von den daimonischen Krankenpflegern weiter geschoben wurden und davon
kündeten, dass es kurz nach Mittag war.
Oh, sie hatte es so satt, so sehr satt, dass es andauernd auf die
gleiche Weise endete: Im Krankenhaus, im Krankenwagen, im Lieferwagen,
auf dem Rücken, um wieder einmal die Decke anzustarren und sich selbst
deswegen zu bemitleiden. Ja, so schmerzhaft diese Erkenntnis war, so sehr
stimmte sie auch. Seit Wochen bemitleidete sie sich selber, fühlte
sich hilflos und ausgeliefert, war nichts weiter als ein Jammerlappen,
schwach und ängstlich.
›Gerade ich! Hilflos! Was für ein Witz!‹, hallte eine höhnische
Stimme durch ihren Kopf. Es war jedoch merkwürdigerweise ihre eigene.
›Schwach? Was für eine amüsante Vorstellung. Ich bin alles andere
als das. Ich bin ...‹ Die selbstbewusste Stimme, die anscheinend gerade
ein Heldenepos über sich selber anstimmen wollte, geriet rasch kleinlaut.
›Es liegt mir auf der Zunge. Ich bin... jedenfalls nicht schwach. Wenn
es eines ist, was ich weiß, ist es das. Ich bin stark. Wunderschön
und mächtig!‹
Doch in der nächsten Sekunde schon liefen ihr wieder die Tränen
über das Gesicht. »Oh Gott, ich spreche schon wieder mit mir
selber! Ich bin wirklich verrückt!«
›Nein, ich bin nicht verrückt. Ich weiß, dass irgendetwas
mit mir passiert ist und ich erinnere mich deswegen nicht mehr... Ich kann
mich einfach nicht erinnern‹, protestierte ihr Geist.
»Verfluchtes Amulett! Nur deswegen. Es gibt nichts, woran
ich mich erinnern müsste!«
Oder doch?
»Es ist ein Irrtum. Ich weiß gar nichts. Ich habe damit
nichts zu tun«, murmelte Tigris kopfschüttelnd. Doch dieser
Gedanke überzeugte sie überhaupt nicht mehr. Vielmehr kam es
ihr vor, als sei die große weite Welt ringsum sie in Wahrheit ein
kleiner geschlossener Raum, von dessen Wänden Tag für Tag immer
mehr Stücke abbröckelten und undeutliche Ausblicke auf eine andere
Wirklichkeit dahinter zeigten. Und auch wenn sie sich im tiefsten Keller
verkriechen würde - irgendwann einmal würden sämtliche Mauern
weggebrochen sein und diese andere Wirklichkeit sich auf sie stürzen.
Schon jetzt war es doch so, dass manche Namen und Visionen ihr Herz schneller
schlagen ließen, als ob es mehr wüsste als ihr furchtsamer,
zweifelnder Verstand.
Ihre Gedanken schweiften zurück zum Vorabend von Equinox Veris,
als die merkwürdige Gestalt in den Baumwipfeln zu ihr gesprochen hatte.
›Wie konntest du alles vergessen? Du musst dich erinnern! Nur du
kannst uns noch retten!
Wie konntest du ihn nur vergessen? Er denkt unentwegt an dich. Erinnerst
du dich denn gar nicht an Barujadiel?‹
Barujadiel!
›Barujadiel. Mein Leben.‹ Eine Welle aus Zärtlichkeit und Sehnsucht
überflutete sie, stärker als jemals zuvor, wundervoll und beglückend
wie ein Regenschauer an einem drückend heißen Sommertag. Sie
konnte gar nichts dagegen tun - und sie wollte es auch gar nicht. In diesem
Namen war etwas Bedeutsames und Wunderbares eingewebt, soviel stand fest,
auch wenn sie ihm kein Gesicht zuordnen konnte.
›Aber ich kenne ihn doch gar nicht.‹
Sie schloss die Augen und wiederholte diesen Namen. Und von Mal
zu Mal wurde er vertrauter, als ob schon immer eine geheime Verbindung
zu ihm bestanden hätte, die nur unter ihrem alltäglichen Leben
begraben worden war und nun, da dieses Leben im Ozean der Vergangenheit
versunken war, an die Oberfläche ihres Bewusstseins gespült wurde.
›Doch, natürlich! Wir lieben uns abgöttisch. Wir mussten
fliehen vor... ich weiß nicht mehr... Aber er hat gesagt, dass wir
nur noch einen Glauben befolgen müssen.‹
Erschrocken riss sie die Augen auf. Wieder war ein Stück Mauer
eingefallen, wieder hatte sie einen Zipfel der Wirklichkeit dahinter erhascht.
Einen Glauben befolgen?
Glaube ... Liebe ...
Sie erschrak.
Das Lied!
Sie wusste plötzlich, wie es anfing.
Vers für Vers rezitierte sie es für sich im Geiste, erstaunt
darüber, dass sie schon wieder das Gefühl hatte, es ganz genau
zu kennen und es aus irgendeinem Grunde nur lange Zeit vergesessen hatte.
Den besten Glauben haben wir gewählt
Und unsere Seelen für immer vermählt
Mit dem wunderbarsten aller Bande
Es zu trennen ist niemand imstande
Es bleibt bestehn, solange wir beide leben
Lässt unsere Seelen zueinander streben
Schmiedet uns zusammen, für alle Zeiten
Gibt uns Kraft, wird uns sicher leiten
schenkt uns Geduld, gespeist aus Vertrauen
dass jeder auf den anderen kann bauen
Sollten auch Schleier uns jemals trennen
Lässt es uns stets uns wieder erkennen
Wenn wir auch getrennten Weges wandern
Lässt es uns spüren den Atem des anderen,
Trocknet unsere Tränen, wenn wir einsam gehen
Berauscht unsere Sinne, wenn wir uns wieder sehen
Zerstäubt unsere Angst, wenn Sie uns bedrängen
Bedrohen, bedrücken, befehlen, beengen.
Aus Liebe ist dieses Band gewunden,
so haben wir wahren Glauben gefunden.
Ein Glaube, nur für zwei Seelen gemacht
Und ein Gebet, nur für uns beide gedacht:
›Es geht noch weiter. Aber ich erinnere mich nicht mehr. Verdammt,
ich erinnere mich nicht mehr.‹
Angestrengt dachte sie nach, in der Hoffnung, die restlichen Verse
aus dem fest verschlossenen Teil ihres Bewusstseins zu befreien, als ihre
Stimmung urplötzlich wieder umschwang und sie wütend hochschnellte.
›Ich erinnere mich nicht, weil ich es in Wahrheit gar nicht kenne. Es ist
etwas, was das Amulett bewirkt!‹
Entnervt schaute Tigris in ihrem Krankenzimmer umher und fuhr sich
über das kalte Gesicht.
Auf dem Nachttisch stand der abdeckte Teller mit Mittagessen samt
Dessert: Ein schreiend pinkfarbiger Milchreis, garniert mit zierlicher
knallgelber Sahneschrift sowie polarblauen Erdbeeren und daher offenkundig
die Kreation von La Mâitre, einer daimonischen Starköchin, die
für das leibliche Wohl aller Xendii in Shangri-La sorgte. Sie war
berühmt-berüchtigt für spektakuläre Arrangements und
noch spektakulärere Temperamentsausbrüche. Seit zwölf Jahren
drohte sie angeblich jeden Tag damit, zurück in die Daimonsion zu
gehen, da niemand in Shangri-La oder auf der ganzen weiten Welt ihr kulinarisches
Genie gebührend würdigen wollte. Das stimmte nun überhaupt
nicht, aber La Mâitre wusste, wie zahlreiche ›alteingesessene‹ Daimons
auch, dass Menschen das Exzentrische und Überkandidelte liebten, um
darüber lachen oder sich deswegen aufregen zu können.
Tigris betrachtete lustlos das cremige Geschnörkel auf dem
Milchreis. Anscheinend hatte La Mâitre die daimonischen Hilfsköche
angewiesen, den Patienten des Krankenhauses einen aufmunternden Spruch
auf die Nachspeise zu kritzeln.
VERTRAUE DEINEM MACHTVOLLEN ENGEL
Tigris wusste nicht, ob sie loslachen oder losheulen sollte. Hatten
sich alle Daimons auf dem Planeten gegen sie verschworen? Diesen Satz hatte
sie in den letzten Wochen schon zweimal zu hören bekommen. Einmal,
als sie gelähmt durch Calmidoron 66.6 in einem Lieferwagen nach Excelsior
gebracht werden sollte und nur dank Bat Furan und den anderen einem grauenhaften
Schicksal entrinnen konnte. Die merkwürdige Weihnachtsmann-Stimme
hatte sie seitdem nie wieder vernommen, genauso wenig wie sie jene rätselhafte
Erscheinung jemals wieder gesehen hatte, damals vor Equinox Veris in den
Baumwipfeln Windwibbenburgs. Sie hatte von Tigris gefordert, sich endlich
zu erinnern, vor allem an Barujadiel.
Der Engel, der jemanden mit seinen Schwingen beschützend umschloss
und dessen Name in ihrem Magen Schmetterlinge fliegen ließ.
Ja, einen solchen Engel konnte sie nun wahrlich gebrauchen. Jemanden,
der das Chaos zügelte und zurückdrängte, der alles in Ordnung
brachte und sie niemals im Stich ließ.
Hatte die Erscheinung - wenn es sich nicht um eine ausgewachsene
Halluzination handelte - die Wahrheit gesprochen? War Barujadiel vielleicht
schon bei ihr? War es jemand, den sie kannte und der doch jemand anderes
war - Barujadiel eben?
Plötzlich glaubte sie eine Erleuchtung zu haben.
›Und wenn es nun doch so etwas wie Wiedergeburt gibt? Vielleicht
kennen wir uns aus einem früheren Leben?‹
Das war wirklich eine höchst interessante Theorie. Zumindest
erklärte sie einiges.
›Und ich war stark, machtvoll und wunderschön!‹, meldete sich
ein selbstbewusster Gedanke, der schon wieder unkontrolliert von irgendwoher
auftauchte.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto stärker ergriff
sie Faszination und Neugier.
All diese Visionen eines schrecklichen Vorfalls - konnte es nicht
tatsächlich in einem früheren Leben passiert sein? Oh, sie musste
unbedingt herausfinden, was geschehen war.
›Und ich muss vor allem Barujadiel finden. Ich weiß, ich werde
ihn erkennen, er ist schon irgendwo hier in meiner Nähe. Ich fühle
es. Schließlich haben wir unsere Seelen vereint. Wir spüren
den anderen, selbst wenn sich die Gestalt geändert hat. Er ist in
meiner Seele zuhause, wie ich in seiner.‹
Wie selbstverständlich sie wieder einmal diesen Gedanken gedacht
hatte!
›Aber ... dieses Monstrum ist vielleicht auch schon hier. Was hat
er mit all dem zu tun?‹
Sie schaute zur Tür.
Alles in ihr drängte danach, aufzustehen und sich ins Leben
zu stürzen, nach Barujadiel zu suchen und ihn zu finden.
›Denn wenn ich Barujadiel erst gefunden habe, wird alles gut. Wir
sind beide stark, machtvoll und wunderschön. Die Rosen verbrennen
nicht in unseren Händen.‹
Erfüllt von unglaublichen Enthusiasmus, schlug Tigris die Bettdecke
zurück und schwang sich aus dem Bett - nur um in die Knie zu sacken.
Anscheinend war die Wirkung des Beruhigungsmittels noch nicht ganz verflogen.
»Ich stehe jetzt verdammt noch einmal auf und gehe verflucht
noch einmal aus diesem Zimmer!«, knurrte sie entschlossen und probierte
einen zweiten Anlauf. »Das war das letzte Mal, dass ich so erbärmlich
heulend im Bett liege! Kein Selbstmitleid mehr. Ich finde heraus, was gespielt
wird. Und was ich mit diesem Amulett alles anstellen kann.«
Mit schlotternden Beinen arbeitete sie sich langsam vor bis zur
Tür, gestützt an der Wand.
Langsam öffnete sie die Tür und spähte in den Korridor.
Ein paar Xendii saßen schräg gegenüber ihres Zimmers mit
einem Jungen mit Gipsbein in der Besuchernische und scherzten miteinander,
ansonsten befand sich niemand im Flur. Vorsichtig drückte Tigris sich
Schritt für Schritt an der Wand entlang.
»Oh nein! Da sind wir jetzt aber sehr, sehr unartig!«
Erschrocken riss Tigris den Kopf herum und starrte den Frauenkopf
an, der hinter dem Speisewagen vor ihr urplötzlich aufgetaucht war.
Dann fegte die daimonische Krankenschwester auch schon von dort hervor
und baute sich mit strengem Blick vor ihr auf.
Sie hatte die Gestalt einer älteren, grauhaarigen Farbigen
mit wogenden Hüften und Brüsten.
»Wohin wollen wir denn ausbüchsen, hm? Hm, hm, hm?«
Die grauen Brauen lüpften sich streng empor.
»›Wir‹ wollen nicht ausbüchsen. Höchstens ich. Und
ich verlasse jetzt das Krankenhaus. Mir geht es wieder ausgezeichnet!«
»Das kommt gar nicht in Frage, überhaupt nicht. Und jetzt
gehen wir schön artig ins Bettchen zurück und erholen uns vom
vorgestrigen Tag.« Die Schwester wackelte tadelnd mit ihrem dicken
Zeigefinger.
»Ich habe in den letzten Wochen viel zu oft im Bettchen gelegen
und geheult. Ich habe keine Lust mehr darauf. Ich will gehen. Das ist mein
Recht!«, grummelte Tigris säuerlich mit verschränkten Armen.
»Und meine Pflicht ist es -« Urplötzlich brach
der Daimon ab und sah hinauf zur Decke.
Als Tigris ebenfalls den Blick dorthin richtete, zuckte sie zusammen:
Einer Laufschrift gleich rannten glühende, verwinkelte Strichmuster
darüber hinweg. Die Erscheinung dauerte nur wenige Sekunden und sie
verschwand von einem Moment zum nächsten, wie die dicke Schwester.
Tigris fröstelte und erinnerte sich an den Abend, als Engelbert
in der Nacht zu Equinox Veris in ihrem Zimmer aufgetaucht war, ihr eine
300-Jahre-Probeversion von DOL mitgebracht und das DimensioNet gezeigt
hatte.
›Daimonskript wie Javaskript?‹
›Daimonskript wie Daimonschrift. Ist eine ziemliche verwinkelte
Angelegenheit und kein Mensch könnte die ganzen Ecken und sich kreuzenden
Striche in der Schnelligkeit lesen, in der ein Daimon damit zu schreiben
pflegt. Das ist eine höchst daimonische Kunst.‹
Und wieder hatte ihr das Amulett mehr von seinen unheimlichen Kräften
geoffenbart, denn sie hatte verstanden, was soeben über die Decke
des Korridors geflimmert war:
*An alle MediDaimons von Shangri-La: Bereitet die Intensivstation
und alle OP-Räume vor. Sichert den Weg von der Kanadischen Etage der
Node ins Krankenhaus und räumt sämtliche Hindernisse von dort
fort. (Mit Menschen bitte dabei vorsichtig umgehen). Es treffen gleich
fünf Verletzte bei uns ein. Bereitet auch den DiS-Tank vor, wir haben
zwei Opfer mit schwersten Verbrennungen.*
Die Gedanken rasten in ihrem Kopf umher und ließen sich nicht
zu geordneten Einheiten bändigen, als zwei Xendi-Ärzte achtlos
an ihr vorbeihasteten und aufgeregt miteinander wisperten. Tigris starrt
ihnen nach und konnte jedes Wort verstehen.
»Unglaublich! Kanada! Inmitten hunderttausender Bäume!«
»Sie wussten anscheinend, dass Bäume DiS absorbieren.
Ich frage mich, was Excelsior sonst noch über uns herausgefunden hat.«
»Die ersten Berichte sprechen von über sechshundert Toten.
Alles liegt in Trümmer, als ob hundert Bomben auf einmal explodiert
wären! Ich frage mich, wer dahinter steckt.«
»Vielleicht die MDL?«
»Ein Wunder, dass überhaupt jemand überlebt hat.«
Zitternd lehnte Tigris den Kopf gegen die Wand und starrte die Decke
an, die durch die hervorquellenden Tränen verschwamm.
Keine Halluzination.
Er hatte Excelsior tatsächlich vernichtet - und fast alle,
die dort gewesen waren, freiwillig oder dorthin gezwungen. Grausam und
unendlich böse, wie er war, hatte er sich einen Scherz daraus gemacht,
ihr noch einmal Darius zu zeigen, bevor er ihn getötet hatte.
Kam er nun, um sie alle ebenfalls zu töten?
Oder war er sogar schon längst hier?
Da war etwas ...
Wie ein schwacher eisiger Luftzug von irgendwoher: Die unangenehme
Präsenz eines lieblosen Wesens, das sich verstellte, fast als ob es
›Toter Mann‹ spielte.
Sie spürte seine Anwesenheit gleich einem Kraftfeld, das an
ihrem Magen und Herzen zog.
Während sie immer noch zitternd an der Wand lehnte, forschte
sie dennoch dieser Präsenz nach, fahndete nach der Richtung, aus der
das stärkste Gefühl von Hass und Verbitterung wehen musste.
War das möglich? Konnte sie dieses Monstrum tatsächlich
ausfindig machen?
Bisher war er es immer gewesen, der unerwartet in ihren Geist eingedrungen
war.
Aber vielleicht ermöglichte das Amulett auch ihr, Kontakt zu
ihm aufzunehmen...?
Sie konzentrierte sich noch stärker auf seine Präsenz,
bis es rings um sie vollkommen still geworden war.
Ohne Zweifel, sie fühlte ihn, wenn sie sich so stark auf ihn
konzentrierte.
Eine kalte, freudlose Seele, die alles rings um sich zerstören
wollte, damit die Welt draußen der Verwüstung in ihrem Innersten
glich. Jedes Lachen, jeder Sonnenstrahl erinnerten schließlich an
etwas, das sie unwiederbringlich verloren hatte. Glück und Freude
waren Blasphemie für sie.
Wie nah diese Seele schon war, und mit jedem Augenblick kam sie
näher. Dann erklang auch schon wieder seine verhasste Stimme in ihrem
Kopf.
›Du musst mich doch nicht suchen, Tigris. Anscheinend kannst du
meine Ankunft kaum erwarten. Keine Sorge: Ich bin schon ganz nahe. Niemand
wird mich erkennen. Außer du natürlich. Aber wer würde
dir glauben?‹
›Ich kann dich nicht erkennen, weil ich dich nicht kenne. Ein Glaube,
nur für zwei Seelen gemacht. Und ein Gebet, nur für uns beide
gedacht:‹
Grenzenloser Zorn drückte auf ihre Brust, mit dem er auf diese
Verse antwortete, die sich in ihre Gedanken gemogelt hatten, ohne dass
sie etwas dagegen hatte tun können.
›Ich könnte mit dir und diesem Ort wie mit Excelsior verfahren,
alleine um deinen Spott zu bestrafen. Sag mir auf der Stelle, woher du
dieses Lied kennst!‹, grollte Bru’jaxxelon. Ein durchdringender Schmerz
durchbohrte ihr Herz und trieb ihr die Tränen in die Augen. ›Hat Omrishah
es dir beigebracht? Wie sehr ich ihn hasse!‹
Qualvolle Erinnerungen an sonnendurchflutete Tage und Nächte
voller Küsse und Liebesschwüre ließen sie unkontrolliert
zittern. Zu diesem schrecklichen Gefühl von absoluter Verlassenheit,
selbstzerstörenden Schuldgefühlen und Todessehnsucht mischte
sich Überraschung: Die Bilder, die kurz in ihr aufleuchteten, kamen
ihr verwirrend bekannt vor. Diese altertümliche, bunte Stadt voller
Lehmbauten... Sie sah ein Mädchen in einem Kornfeld tanzen, von faszinierten
Augen hingebungsvoll beobachtet.
›Barujadiel?‹, kam es ihr plötzlich in den Sinn.
Augenblicklich fielen die Schmerzen und die Seelenqual von ihr ab.
Stattdessen schien sie feindselige Kälte geradezu zu umschleichen.
›Habe ich dir nicht gesagt, dass dies nicht mein Name ist? Merk
dir ein für alle mal: Barujadiel ist tot!‹
›Aber... das kann nicht sein. Du lügst. Du lügst!‹ Aber
was machte sie so sicher?
›Ich lüge nicht. Das habe ich gar nicht nötig. Barujadiel
ist tot. Und weißt du, woher ich das weiß?‹ Die Eiseskälte
in der Stimme nahm zu, in ihr schwang boshafter Triumph. ›Ich habe ihn
ausgelöscht, vollkommen und gründlich. Schon vor langer Zeit.
Er hat sich Rache herbeigesehnt. Ich habe ihn erhört. Doch der Preis
war sein Tod.‹
›Und wieso beschäftigst du dich nun mit mir, Racheengel?‹
›Deine Gedanken sind mir ein Rätsel. Deine Seele ist voller
verschlossener Türen und Orte, die ich nicht betreten kann. Aber ich
werde deine Geheimnisse herausfinden. Ich werde die Intrige entdecken,
die Omrishah erdacht und in die er dich eingewoben hat. Ich habe es nicht
so eilig mit meinem Rachefeldzug. Ab jetzt werde ich immer in deiner Nähe
sein. Vergiss das nie.‹
Und augenblicklich verschwand seine übermächtige Präsenz
und hinterließ sie schweißgebadet gegen die Wand gedrückt.
Im Stockwerk über ihr wurde es mit einem Mal laut und hektisch,
unzählige Füße rannten über den Boden, Stimmen riefen
aufgeregt durcheinander.
Tigris riss den Kopf empor und starrte zur Decke.
Die Intensivstation!
›Fünf Überlebende!‹, schoss es ihr durch den Kopf. Eine
furchtbare Ahnung hielt sie zunächst an Ort und Stelle gefangen.
Doch die nächsten Gedanken vertrieben die Angst und machten
einer nüchternen Erkenntnis Platz: Sie würde ihm sowieso nicht
entkommen. Er würde sie immer finden. Warum sollte sie sich mit Gedanken
an Flucht oder Verstecken plagen, wenn es ohnehin nichts nützte? Er
konnte zerstören und töten, was und wen auch immer er wollte,
wann immer es ihm beliebte.
Doch vielleicht konnte sie es auf irgendeine Weise schaffen, diesen
Moment hinauszuzögern, bis jemand eine Lösung wusste.
Schließlich war er neugierig und wollte ihre ›Geheimnisse‹
ergründen.
Solange er sie nicht herausbekam, würde er sie vielleicht am
Leben lassen. Vielleicht konnte sie sogar herausfinden, ob das Amulett
mächtig genug war, um es mit ihm aufzunehmen. Hatte sie schließlich
nicht mit seiner Hilfe so viele der gemeinen Schlächter der Windwibbs
vernichtet?
Aber sie musste herauskriegen, welche Gestalt er angenommen hatte,
um die Xendii vor ihm zu warnen.
»Bringen wir unser Kennenlernen hinter uns, Seelenfresser«,
flüsterte Tigris und ging mit klopfendem Herzen zur Stationstür,
um ins Stockwerk über ihr zu gelangen.
.
Umbriel musste sich gewaltig anstrengen, um seiner Erregung und überschäumenden
Freude nicht die Herrschaft über seine Gesichtszüge zu überlassen.
Die Dinge waren ins Rollen gekommen - und das Rad drehte sich mittlerweile
immer schneller. Keiner würde es mehr aufhalten können.
Er saß zusammengesunken in einem Sessel, stützte seinen
Kopf in die rechte Hand und gab das übersensible Häufchen Elend
zum Besten, welches am vorigen Tag unter den schrecklichen Neuigkeiten
zusammengebrochen war und sich seitdem immer noch nicht beruhigen konnte:
Die Node von Azteca in den Händen von PAGAN!
Um ihn herum diskutierten die Mitglieder der Sippe Whitechurch aufgeregt
miteinander oder ergaben sich in ein inbrünstiges Gebet.
Umbriel weilte seit zwei Tagen in Lux Adharas Landhaus in America
Borea, auf Einladung verschiedener Sippen dort, die es kaum erwarten konnten,
dass der engelhafte Prediger auch ihre Kapellen mit strahlendem Glanz und
aufwühlenden Predigten erfüllte.
Adhara stand an seinem Sessel, hatte eine Hand tröstend auf
seine Schulter gelegt und unterhielt sich mit Zephyr, dem jungen indianischen
Kommandanten des nordamerikanischen Xendi-Heeres. »Wir haben also
keine Möglichkeit, den aztecischen Sippen zu Hilfe zu kommen...«
»Leider nicht, Lux Adhara. Die Node von Azteca wurde von den
Feinden geschlossen, wir könnten nur versuchen, Truppen auf dem Landweg
dorthin zu verlegen. Aber das muss mit größter Vorsicht geschehen,
sonst werden noch die Neutralen misstrauisch.«
»Die Neutralen werden bald andere Sorgen haben! PAGAN wird
nicht davor zurückschrecken, diesen Krieg in ihre Welt zu tragen.
Warum sollten wir dann Rücksicht nehmen? Es steht zuviel auf dem Spiel!«
»Sie sind gottlos, ohne Skrupel«, murmelte Umbriel matt.
»Was, wenn sie ihre Dämonen auf die Menschheit loslassen? Was
für eine furchtbare Vorstellung!« Mit glasigen Augen sah er
zu seiner treuesten Anhängerin auf. »Sie werden nicht wissen,
wie ihnen geschieht! Plötzlich von Wesen bedroht zu werden, die viele
schon lange in das Reich der Legenden verbannt haben! Oh, wie gerne würde
ich zu ihnen gehen und sie warnen!«
Adhara sah ihn überrascht, aber durchaus wohlwollend an. »Vielleicht
solltest du das wirklich tun. Die Zeit ist anscheinend gekommen, der Welt
von uns und den ungeheuerlichen Dingen, die bald geschehen werden, zu berichten.
Wir könnten ihnen Hoffnung geben, neues Gottvertrauen...«
»Sollten wir hierzu nicht den Rat der Allianz befragen?«,
fragte Zephyr stirnrunzelnd.
Adhara schüttelte traurig den Kopf. »In der Allianz weilen
noch zu viele... Unentschlossene, ja, sogar Feinde. Wenn ich an diesen
Zimberdale denke! Sicher lacht er sich nun ins Fäustchen und feiert
heimlich mit PAGAN diese Schandtat. Und Snaefell Bakkaflói droht
damit, Circumpolaris abzuschotten und alle Tore dorthin zu schließen.
Von ihm kann man keine Hilfe erwarten. Wenigstens haben Europa und Balkan-Osmania
sofort Streitkräfte für eine Befreiung Aztecas zugesichert. Orientalis
hält sich merkwürdig bedeckt. Als ob es in dieser Sache noch
etwas abzuwägen gäbe!«
»Gegen diese Teufel kann nur die Spezialeinheit von Mimas
ankommen«, erklärte Umbriel mit verzweifelter Miene. »Nun
zahlt sich seine Weisheit und Weitsicht aus, die Überbegabten nicht
zu töten, sondern gegen PAGAN ins Feld ziehen zu lassen, die dort
Dutzende von ihnen für ihre menschenverachtenden Pläne abgerichtet
haben.«
»Ja. In der Tat. Er hat die Allianz immer vor PAGAN gewarnt.
Nun haben sie allen endlich ihre wahre, teuflische Fratze gezeigt. Ein
gutes hat dieser feige, brutale Angriff wenigstens bewirkt: Die Xendii
der Allianz stehen nun geschlossen hinter ihren Domén Arxes. Wir
hören aus allen Gebieten von Trauergottesdiensten für das Haus
Taraqua. Und der Ruf nach Rache für diese Bluttat wird von Stunde
zu Stunde lauter.«
»Ich wünschte, dass die Zweifler früher auf unsere
Worte gehört hätten«, murmelte Umbriel tonlos. »Wieso
lassen sich so viele erst durch das Blut Unschuldiger überzeugen?«
Er strich zärtlich über die Weiße Bibel in seiner Linken.
»Verzeiht mir, mein Herz sehnt sich so sehr nach den tröstenden
Worten des Herrn.« Mit verdächtig glitzernden Augen schlug er
das Buch auf, weswegen Adhara und Zephyr sich nach einem verständnisvollen
Lächeln zu anderen Mitgliedern des Hauses Whitechurch gesellten.
Umbriel hielt das Buch so, dass niemand anderer einen Blick auf
die Seiten werfen konnte.
Denn feurige Buchstaben glühten dort, geschrieben von seinem
Meister.
›De Navarris ist erledigt.
Der Nodenschlüssel von Azteca ist übrigens in einem Geheimfach
im Altar der Kapelle versteckt. Sie ist das einzige, was noch vom Palais
Almacielo steht. Außerdem habe ich dir einen Daimon an die Seite
gestellt, der dir sehr nützlich sein kann. Er ist mir treu ergeben,
weswegen du ihm vertrauen kannst. Er wird einer der wenigen Überlebenden
in den Trümmern des Palais sein. Selbstverständlich handelt es
sich bei ihnen nur um deine treuesten Anhänger innerhalb von De Navarris.
Sie werden natürlich dafür stimmen, dass du das neue Oberhaupt
Europas wirst. Deiner Karriere steht somit nichts mehr im Wege, mein elender
Kronprinz. Du weißt, was du zu tun hast.‹
Diese Nachricht traf Umbriel unvorbereitet, obwohl es genau das
war, was er mit Bru’jaxxelon ausgebrütet hatte.
Doch so schnell? Nun ja, nachdem Thanatos und seine Leute die aztecische
Node gekapert hatten, bestand recht besehen auch kein Bedarf mehr an dem
widerspenstigen Mimas De Navarris. Bru’jaxxelon wollte, dass er, Umbriel,
schnellstens die Jenseits-Tore öffnete, und zwar so viele wie nur
möglich. Wo konnte man besser beginnen als in Azteca, von dem die
anderen Sippen der Allianz glaubten, es sei von PAGAN überfallen worden?
Es würde daher niemanden überraschen, wenn man dort das Jenseits-Tor
geöffnet vorfinden würde, nachdem die heldenhafte Elite-Truppe
von Thanatos Azteca von PAGAN befreit haben würde. Doch zuvor würde
PAGAN hoffentlich Orientalis hilfreich zur Seite eilen und Truppen dorthin
entsenden.
Dann hätte man genug Leichen, die bewiesen, dass PAGAN Orientalis
wie Azteca überfallen wollte und nur durch die entschlossenen Xendii-Heere
Europas und America Boreas daran gehindert werden konnte, die Weltherrschaft
an sich zu reißen.
Niemand in der Allianz würde noch im Traum an der Bösartigkeit
PAGANs zweifeln und mit Freuden sein Leben im Kampf gegen diese Frevler
geben.
Und dann würde man ihnen Node für Node wieder entreißen...
Kaum dass die Buchstaben verloschen waren, sprang Umbriel auf und
stand mit weit aufgerissenen Augen da, unkontrolliert zuckend. Dann sank
er auf die Knie.
»Die Teufel sind erneut über uns hereingebrochen! Mein
geliebter Glaubensbruder, mein Oberhaupt! Nein! Nicht Mimas! Oh Gott...«
»Er hat wieder eine Vision! Schnell, bringt Wasser!«
Adhara stürzte zu dem jungen Prediger, der sich in Krämpfen auf
dem Boden wand.
Schockiert, aber unendlich neugierig umringten bald alle Mitglieder
des Hauses Whitechurch Umbriel, der immer wieder murmelte: »Stein
für Stein abgetragen wurde der Palast. Zerfetzt liegen die Tapferen
danieder. Doch das Haus Gottes wagten die Dämonen nicht zu berühren.
Stein für Stein abgetragen wurde der Palast. Zerfetzt...«
Man hob Umbriel vorsichtig auf und legte ihn auf eine Chaiselongue
im Klavierzimmer, unter dem Wispern und Gemurmel der anderen Whitechurches.
»Was meint er damit?« »Soll das bedeuten, De Navarris
ist in Gefahr?« »Der Herr stehe uns und allen Rechtgläubigen
bei!«
Adhara persönlich wischte dem Prediger besorgt und sanft mit
einem feuchten Lappen über das wunderschöne Gesicht. Schon wenige
Augenblicke später flatterten die Lider, dann blickten die hellen
Türkisaugen sie tränenverschwommen und flehentlich an. »Ich
muss sofort zurück nach Barcelona. Etwas Furchtbares ist dort geschehen.
Ich fühle es mit allen Fasern meines Herzens.«
Er erhob sich mit Mühe, gestützt von Zephyr. Adhara sah
ihn entschlossen an.
»Ich bete zu Gott, dass es noch nicht geschehen ist, Umbriel,
und wir es noch verhindern können. Ich werde dich begleiten!«
»Aber wenn nun Gefahr droht! Lux Adhara, dein Leben ist mir
teuer!« Umbriel versenkte einen schüchternen Blick in Adharas
dunkle Augen und konnte deutlich wahrnehmen, welche Gefühlsstürme
er darin hervorbrechen ließ. Insgeheim ärgerte es ihn zunächst,
diese Klette nicht loswerden zu können. Dann allerdings erkannte er,
dass eine Augenzeugin des neuen, ungeheuerlichen Verbrechens von PAGAN
nur von Vorteil sein würde.
.
Tigris fand überraschenderweise schon etliche Xendii in zwei
geordneten Reihen vor der Intensivstation vor, darunter einige, die für
Shangri-News und andere Xendi-Zeitungen als Reporter arbeiteten. Sie bildeten
eine Gasse zwischen dem größten Lift und der Stationstür,
die bereits weit offen stand. Mit ernsten Gesichtern wartete ein Trupp
menschlicher und daimonischer Schwestern und medizinischen Assistenten
auf die Überlebenden von Excelsior, die in wenigen Augenblicken eintreffen
würden.
Tigris drängte sich bis ganz nach vorne vor und versuchte sich
trotz des gedämpften, aufgeregten Gemurmels wieder auf Bru’jaxxelons
Präsenz zu konzentrieren, obwohl er den Kontakt plötzlich abgebrochen
hatte und nun wohl Katz und Maus mit ihr zu spielen gedachte.
›Ich kann ihn nur erkennen, wenn er es so will‹, dachte sie resigniert.
Der Gedanke, diesem wahnsinnigen, gewissenlosen Geschöpf in Gestalt
eines Menschen gegenüber zu stehen, verursachte Schübe von Herzrasen
und Panik bei ihr, die sie nur mit Mühe niederkämpfen konnte.
»Fünf überlebende Xendii! Von vierhundert Xendii,
die dort eingepfercht waren. Sie haben grauenhafte Apparate dort gefunden.
Was Menschen anderen Menschen antun können...«, hörte sie
jemanden erschüttert sagen.
›Er könnte jeder sein‹, dachte sie ratlos. ›Vielleicht sogar
einer von den Leuten ringsum mich.‹
Vorsichtig schaute sie von Gesicht zu Gesicht. Doch niemand sah
verdächtig aus oder benahm sich merkwürdig. Und keiner der Anwesenden
verströmte Hass oder Verbitterung - im Gegenteil: Tigris konnte nichts
als Bedrückung und Trauer, gemischt mit angespannter Neugier wahrnehmen.
Als die Aufzugtür leise seufzend auseinander glitt, verstummten
augenblicklich sämtliche Gespräche. Wortlos schoben weiß
gekleidete Pfleger rasch die erste Bahre aus dem Lift, auf dem ein blutüberströmter,
vor Schmerzen stöhnender Mensch lag.
Tigris’ Herz wurde ganz schwer vor Mitleid und Entsetzen bei diesem
Anblick. Auch andere um sie herum schlugen erschüttert die Hände
vor den Mund oder wandten wie Tigris schockiert den Blick ab, denn das
Opfer auf der nächsten Bahre war auf der ganzen rechten Seite schwer
verbrannt, rohes blutiges Fleisch schaute zwischen schwarzverbrannter Haut
hervor. War es ein Jugendlicher, ein Mann oder eine Frau? Er oder sie war
schmächtig, kaum größer als Tigris, und zitterte, während
er leise wimmerte. Plötzlich schluchzte das Bündel Mensch und
bäumte sich auf, ein erstickter, röchelnder Schrei ließ
alle Umstehenden zusammenfahren und Tigris schockiert nach Luft schnappen.
Die Pfleger blieben stehen und drückten den gequälten Körper
sanft zurück auf die Bahre. Und obwohl sie die schrecklichen Verletzungen
nicht sehen wollte, ging ihr Blick wie elektrisiert zu der Bahre. Dunkelblaue,
große Augen sahen dort verzweifelt zur Decke, gefüllt mit Tränen,
die langsam über die offenen Wunden auf seinen Wangen ronnen, während
das gequälte Schluchzen leiser wurde. Dann warf das schwerverletzte
Geschöpf seinen Kopf herum und erfasste ihren Blick. War es noch bei
klarem Verstand oder war es nur ein Reflex? Tigris hatte das Gefühl,
soviel menschliches Leid nicht mehr länger ertragen zu können
und einer Ohnmacht nahe zu sein. Alles in diesen Augen schien zu schreien:
Hilf mir! Bitte!
Dies war das Werk von Bru’jaxxelon. Nur seinetwegen musste dieses
arme Geschöpf Höllenqualen leiden!
›Was hast du getan, Bru’jaxxelon? Was für ein abartiges, verdammtes
Geschöpf bist du überhaupt?‹, dachte sie traurig, verzweifelt
und empört zugleich.
Die Schwestern der Intensivstation waren schon auf den Beinen und
dirigierten die Pfleger mit den Bahren zu den Operationssälen.
»Das sieht nicht gut aus«, hörte sie trotz mehreren
Metern Entfernung einen Xendi-Arzt zum anderen murmeln, als der Schwerstverbrannte
in die Station geschoben wurde. »Der DiS-Tank wird nicht viel nützen.
Er wird diesen Tag nicht überleben. Er hat kaum Lebenswillen.«
»Oh nein!«, entfuhr es ihr leise » Er darf nicht
sterben! Dieses Monster darf nicht gewinnen!«
›Ach ja? Und was willst du dagegen tun?‹, hörte sie Bru’jaxxelons
Stimme mit einem Mal klar und deutlich in ihrem Geist sagen. Er klang amüsiert
- und auf merkwürdige Weise höchst interessiert.
›Ich hasse dich! Ich hasse dich wirklich wie sonst nichts in meinem
Leben!‹ Tigris schloss die Augen vor Wut, während die nächsten
beiden Bahren rasch in die Intensivstation gefahren wurden.
›Wer hasst mich nicht? Das ist nichts Neues.‹
›Wieso machst du es mit Shangri-La nicht wie bei Excelsior, zerstörst
alles, tötest jeden und freust dich dann darüber?‹
›Weil es mir so beliebt. Ich werde mich ein wenig bei PAGAN umsehen,
hier spionieren, da intrigieren. So eilig habe ich es nicht, dass ich mir
einen Genuss entgehen lasse, den ich schon lange nicht mehr zu kosten bekommen
habe.‹
›Warum versteckst du dich dann vor mir? Komm schon, zeig dich.‹
›Meine liebe Tigris. Ich verstecke mich doch gar nicht. Willst du
nun nicht endlich wieder die Augen öffnen und einen lieben Freund
willkommen heißen?‹
Tigris riss die Augen auf und sah gehetzt um sich.
»War nicht von fünf Verletzten die Rede?«, fragte
eine Xendi hinter ihr verwundert.
Genau in diesem Augenblick ging die Tür des Personenaufzugs
auf und ein Pfleger schob einen Rollstuhl heraus, in der eine in sich zusammengesunkene
Gestalt mit gesenktem, kahlgeschorenem Kopf in einem weißen Krankenhauskittel
saß.
Da war es wieder, das eisige Gefühl, das auf einmal ihr Herz
umwehte.
Ungläubig starrte sie denjenigen an, der dort im Rollstuhl
saß.
Er sah gänzlich unverletzt aus, was für erstauntes, erfreutes
Gemurmel sorgte.
Langsam hob er seinen Kopf und blickte mit schwarzen Augen, die
wie Kohlen in seinem ausgezehrten, bleichen Gesicht wirkten, erstaunt zu
den Xendii zu beiden Seiten.
Tigris schien jedoch wie fest mit dem Boden verwurzelt zu sein,
unfähig einen Schritt oder überhaupt eine Bewegung zu tun, obwohl
pures Entsetzen sich über sie ergoss wie ein Schwall eisiges Wasser.
Mit offenem Mund und großen Augen starrte sie den fünften Überlebenden
von Excelsior an, dessen Blick überrascht und erschüttert zugleich
an ihr haften blieb.
»Tigris?«, flüsterte er heiser. » Bist du
das wirklich? Tigris?« Zum Erstaunen des verdutzten Pflegers und
der neugierigen Umstehenden kam er langsam aus dem Rollstuhl hoch und wankte
zu ihr, ein schwaches Lächeln um die Lippen, während Tigris das
Gefühl hatte, dass die Stimmen um sie herum zu laut und zu schrill
geworden waren.
»Meine Güte, sie kennen sich! Dann gibt es auch noch
ein kleines Wunder bei all diesem Elend!« »Wie phantastisch!
Er ist anscheinend vollkommen unverletzt!« »Ist das nicht rührend?
Ach, da könnte man heulen vor Glück.«
Darius fiel ihr in die Arme und drückte sich an sie, doch in
ihr vereiste alles in Sekundenschnelle. Sie konnte sich immer noch nicht
rühren, denn das Entsetzen lähmte sie. Sie erinnerte sich an
das Bild von Darius in seiner winzigen Zelle, das Bru’jaxxelon ihr gezeigt
hatte. Etwas Schwarzes war an ihm hoch gekrochen, um ihn langsam einzuhüllen.
Er hatte ihn also getötet, um seine Gestalt anzunehmen und
sie damit zu quälen.
›Habe ich dir nicht ein Geschenk versprochen? Ich halte meine Schwüre,
ehrlich wie ich bin.‹, wisperte Bru’jaxxelon auf boshafte Weise amüsiert
in ihrem Kopf, unhörbar für alle anderen Xendii.
In der Tat, hier war das Geschenk, drückte sie an sich, während
ihr Geist für einige Augenblicke wieder in das dunkle, kalte Land
voll gefrorenem Blut eintauchte - ein Abbild seiner gefühllosen, schrecklichen
Seele, wie sie erkannte.
Dort stand die schwarze Festung seines Selbst und ein riesiges spitz
zulaufendes Tor ging auf, um ihr einen Einblick in eine riesige Halle zu
gewähren, die von blutroten Kerzenflammen in einem unheimlichen Dämmerlicht
gehalten wurde. Kaum deutliche Bilder tauchten auf den schwarzen Wänden
auf und vergingen gleich wieder, wie lange zurückliegende Erinnerung,
deren Farbe schon dabei war zu verblassen. Unaufhörlich schwebten
rubinrote Rosenblätter zu Boden und verschwanden, kaum dass sie ihn
berührt hatten.
Rosen waren es auch, die auf dem Altar verstreut lagen. Auf ihm
glühten feine Striche und Winkel auf und vergingen wieder, um dann
von neuem zu erstrahlen. Das war die Schrift der Daimons, und die Worte
besagten: EWIGE ERINNERUNG EWIGER SCHMERZ EWIGE SCHULD.
Schwache Schreie und Weinen, Seufzen und Schluchzen geisterten umher,
als kämen sie aus dem Innersten der Erde.
War sie es, die in dieser Vision in diese Kathedrale glitt oder
kam die weite Halle auf sie zu, um sie in sich aufzunehmen?
Doch kaum war sie in diesen unheimlichen Ort eingetaucht, da liefen
die glühenden Schriftzeichen über seine Wände. Und dort
stand geschrieben:
Ein Glaube, nur für zwei Seelen gemacht Und ein Gebet, nur für
uns beide gedacht:
Du hast meine Seele zutiefst berührt Du hast mich zu mir selber
geführt Du hast das Schöne in mir entdeckt Du hast das Gute in
mir erweckt Das und nur das ist erstrebenswert Das und nur das ist bemerkenswert
Das und nur das ist die Wahrheit Das und nur das erschafft Klarheit Ich
taufe dich mit Küssen Ich predige dir Freude Ich beichte dir Verlangen
Ich bekenne mich zu dir Ich glaube nur an dich Und du glaubst nur an mich.
›Aber ... das kann nicht sein. Etwas stimmt nicht, irgendetwas ist
falsch an all diesen Visionen‹, hämmerte es in ihrem Kopf. Diese Worte
in daimonischer Schrift in diesem toten Land zu sehen, widerstrebte ihr
aus tiefstem Herzen. Es klang dort nach einer Krankheit, nach einem Wahn.
Sie gehörten dort nicht hin!
Erst als zwei Schwestern Darius sanft von ihr trennten, um ihn mit
zur Untersuchung zu nehmen, verflüchtigte sich das Bild und ließ
sie wieder in Shangri-La ankommen.
›Nein. Unmöglich. Das kann nicht sein. Er ist es nicht!‹, schrie
ein irritierter, entsetzter Gedanke in ihr gellend auf. ›Er ist nicht dieses
Scheusal...‹ Es war ihre eigene Stimme, die in ihr sprach und rasch leiser
wurde, als würde sie sich in die abgelegensten Tiefen ihres Selbst
verkriechen, weil sie etwas Furchtbares entdeckt hatte, das zu glauben
sie sich weigerte.
Ununterbrochen glitten Tränen über ihre kalten Wangen,
doch sie gab keinen Laut von sich und stand immer noch regungslos da, weil
sie immer noch nicht fassen konnte, was er ihr angetan hatte. Dieses Scheusal
hatte die Gestalt von Darius angenommen, um sie ab sofort jeden Tag und
jeden Augenblick zu quälen und in den Wahnsinn zu treiben. Dann aber
wischte sie sich grimmig die Tränen fort.
›Aber du wirst nicht gewinnen. Du wirst nicht gewinnen. Ich lasse
mich von dir nicht mehr herumschubsen und quälen. Von niemandem mehr.
Ich finde einen Weg, dich auszuschalten, Monster!‹
.
»Diese Bestien!«, murmelte Adhara zum wiederholten Mal.
Die Trümmerlandschaft rauchte noch, vereinzelt brannten Feuer
in ihr. Adharas Wandler waren dabei, das Katastrophengebiet gegen die Polizei
und Feuerwehr der neutralen Welt abzusichern.
Ihr Herz wollte vor Mitleid schier zerfließen, als sie Umbriel
beobachtete, wie er wie in Trance ziellos in den Trümmern dessen umherirrte,
was einst der Festsaal gewesen sein mochte. Als er eine verkohlte Hand
daraus aufragen sah, brach er zusammen, umfing sich fest mit seinen Armen
und wiegte sich mit schmerzversteinertem Gesicht hin und her.
»Wir haben die Leiche von Mimas De Navarris gefunden.«
Zephyr war unbemerkt zu Adhara getreten. »Dies übergebe ich
dir zur Treuhand für das nächste Oberhaupt der europäischen
Sippen.« In seiner geöffneten Hand lag der Nodenschlüssel
Europas, ein Pentagramm aus silbernen Rosen, in dessen Mitte ein fünfeckiger
Saphir eingelassen war. Er ließ das machtvolle Schmuckstück
in ihre Rechte gleiten.
»Außerdem habe ich eine gute Nachricht: Wir haben in
der Nähe der Kapelle einige Verwundete gefunden. Drei sind schwerverletzt,
aber sie könnten überleben. Wir werden sie augenblicklich zu
unseren Ärzten schaffen.«
»Das ist gut.« Adhara lächelte schwach, ohne den
offensichtlich vollkommen verzweifelten Umbriel aus den Augen zu lassen.
»Dann wurde das Haus De Navarris nicht ganz ausgelöscht und
kann weiterregieren. Ich denke, wir alle kennen das neue Oberhaupt bereits.
Es ist ein Zeichen Gottes, dass Umbriel bei uns weilte, als dieser feige
Anschlag von PAGAN ausgeführt wurde. Sie haben wohl gehofft, alle
ihre Feinde mit einem Schlag vernichten zu können. Doch Gott ist der
bessere Ränkeschmieder.«
Der Prediger hatte mittlerweile seine Hände gefaltet und betete
inbrünstig. Schließlich erhob er sich langsam, die Augen wie
hypnotisiert auf die kleine Kapelle weiter hinten gerichtet. Sie stand
vollkommen unbeschädigt da.
»Das Haus Gottes wagten die Dämonen nicht zu berühren«,
krächzte er mit heiserer Stimme und stieg traumwandlerisch über
die geborstenen Steine und Holztrümmer hinweg, um zu dem Gotteshaus
zu gelangen.
»Wie er es in der Vision gesehen hat«, sagte Adhara
voller Genugtuung. Ein Schauer überkam sie. Hatte sie es mit einem
neuen Propheten Gottes zu tun? Die Weiße Bibel sprach von einem,
der kommen würde, um den Glauben unter den Xendii zu erneuern und
sogar die Neutralen in Scharen zu seiner Kirche zu bekehren, die er in
einer Zeit gründen würde, da die Teufel die Welt wieder heimsuchen
würden.
Und sie, eine nichtswürdige Xendi, Nachkömmling von Frevlern,
die sich mit Teufeln selber vereinigt hatten und für diese Erbsünde
mit Dienst an der Welt und den ahnungslosen Menschen büßte,
war vielleicht Zeugin der Erfüllung dieser Prophezeiung. Ein nie gekanntes
Gefühl von absolutem Vertrauen in die Zukunft erfüllte sie mit
einem Mal. Überströmende Dankbarkeit gegenüber Gott ließen
ihr die Tränen in die Augen treten.
»Dein Wille geschieht ...«, flüsterte sie selig.
»Und mit den Engeln werden wir siegen.«
Nun gab es keine Allianz mehr für sie, die sich dem entgegenstellen
konnte, was getan werden musste. Dies war der Beginn eines neuen Bündnisses.
Ja, ein sehr viel mächtigeres Bündnis, stärker als PAGAN
und seine Teufel. »Ein Bündnis mit Gott und den Engeln.«,
hauchte sie.
»Vielleicht ist das eine Falle!«, sagte Zephyr besorgt.
Der Prediger war offenbar gewillt, die Kapelle zu betreten. »Was,
wenn noch Sprengsätze darin versteckt sind? Lux Adhara?«
Er schaute erstaunt in die ruhige, gefasste Miene seines Oberhauptes.
Ein sanftes Lächeln erleuchtete ihr Gesicht auf geheimnisvolle Weise.
»Nein, keine Angst. Lasst Umbriel alleine mit Gott in der
Kapelle. Er steht unter seinem Schutz. Er ist jener, der den Gläubigen
versprochen wurde. Er wird eine Kirche gründen, in der alle Menschen
vereint sein werden und die Frevler ein für alle Mal in die Knie zwingen.
Mit Gottes Hilfe und der Hilfe der Engel werden wir PAGAN besiegen.«
Ängstlich beobachtete Zephyr, wie Umbriel in dem kleinen, weißen
Gebäude verschwand.
Was er nicht sehen konnte, war, wie der Prediger augenblicklich
zu dem prachtvoll bemalten Altar ging und ihn genauestens untersuchte.
Oh ja, Umbriel spürte das Kraftfeld des Nodenschlüssel
deutlich. Es dauerte keine zwei Minuten, dann hatte er das Geheimfach an
der Rückseite des Altars gefunden und hielt das Pentagramm mit dem
Rosenquarz in der Mitte in seiner Hand.
Wo war der Dämon, den sein Meister ihm versprochen hatte? Er
brauchte jemanden, der ihm bald das geheime Tor in die aztecische Node
öffnen würde, wo Thanatos und seine Leute bereits eine Dämonensonne
auf der südamerikanischen Seite aktiviert hatten.
Er sah über die Holzbänke aus glänzend poliertem
Ebenholz hinweg.
Eine überirdische Wesenheit war hier, das fühlte er deutlich.
»Komm raus und zeig dich, Dämon. Bru’jaxxelon hat mir
von dir erzählt«, sagte er leise und schaute sich weiter um.
In diesem Moment bewegte sich eine der Engelsstatuen, die in den
vier Ecken der Kapelle standen. Eine glitzernde Wolke dampfte aus dem Gestein
aus und ließ es dabei allmählich zu feinem Staub zergehen.
Die Wolke schwebte zum Altar und verdichtete sich dort zu einer
menschlichen Gestalt, einem untersetzten dünnen, jungen Mann mit roten
Augen und wirren, blonden Haaren.
»Bru’jaxxelon, ja. Oh, er ist so mächtig, nicht wahr?
So voller Hass und Entschlossenheit.« Die Augen rollte irre hin und
her. Dann zuckten sie unkontrolliert. »Alscho, wenn ihr mal meine
Meinung hören wollt: Er spinnt gansch schön, wie diescher Typ
da vorne. Bestimmt hatte er eine unglückliche Kindheit oder scho.«
Dann quiekte er ärgerlich auf und schlug sich selber auf die
Wange. »Halt endlich die Klappe, du Weichei. Deine Meinung interessiert
hier niemanden. Wir haben eine wichtige Aufgabe bekommen. Von IHM höchstpersönlich.
Und defwegen gibt ef da nikf fu kritifieren, kapiert?«
Umbriel hatte die eigenartige Begrüßungsrede des Daimon
mit ungerührter Miene beobachtet und sagte schließlich herablassend:
»Wenn du schon Nunki De Navarris imitierst, dann leg dir auch seine
dunkelbraunen Augen zu. Hat Bru’jaxxelon es dir ermöglicht, bereits
jetzt zu inkarnieren? Das Aethron ist meines Wissens noch nicht genug angestiegen.«
»Er hat mir natürlich ein CHARMI gegeben. Und ein RAM.
Na, wo hab ich es denn?« Der Daimon suchte seine schreiend grüne
Stoffhose und das dazugehörige Jackett hastig nach etwas ab. Schließlich
zog er eine silberne, runde Scheibe hervor.
»Behalte es bei dir und lass es niemanden sehen«, sagte
Umbriel kühl. »Wir werden es heute Abend benutzen. Dann werde
ich endlich das erste Jenseits-Tor öffnen. Was ist dein Name, Dämon?«
Erneut entglitt dem Überirdischen sein Mienenspiel und ließ
an Wahnsinn denken.
»Ich heiße Maruké. Aber wir heischen doch alle
drei Maruké. Immer drängscht du dich in den Vordergrund! Ift
doch gar nicht wahr. Daf kommt dir nur fo vor, weil du fo geiftig furückgeblieben
bift, daf ift allef.«
»Du solltest dich besser in den Griff kriegen ... Nunki. Meine
treue Freundin ist auf dem Weg hierher. Du wirst ein verwirrtes, bemitleidenswertes
Geschöpf mimen, das das Furchtbare mit eigenen Augen ansehen musste
und dem ich mit meiner Fürsorge und meinen Gebeten beistehen werde.«
»Meinetwegen. Das kannst du ja machen, Weichei.«, knurrte
Maruké und strahlte im nächsten Moment über das ganze,
blasse Gesicht. »Oh ja, oh ja! Ich werde furchtbar geknickt und traumatischiert
schein, ehrlich! Dasch kann ich gut. Ich habe kein Problem damit, meine
Gefühle tschu tscheigen.«
Tatsächlich floss augenblicklich ein Strom aus Tränen
aus Marukés mittlerweile dunklen Augen. Mit einem großen Satz
sprang der Daimon zu Umbriel, warf sich ihm vor die Füße, umklammerte
jammernd seine Knie und heulte Rotz und Wasser.
So fand Adhara sie vor, als sie vorsichtig und ehrfürchtig
die Kapelle betrat, um nach Umbriel zu sehen.
.
Wie geplant, traf Umbriel mit Thanatos am späten Abend des gleichen
Tages in der Aztecischen Node ein.
Sie war menschenleer, denn jedes Tor war verschlossen worden.
Fackeln warfen dunkle, tanzende Schatten auf die grauen Felswände,
die lediglich von aztekischen Ornamenten verziert worden waren und ansonsten
nahezu unbehauen gelassen wurden. Goldene Adern durchzogen das Gestein
der gesamten Halle und glitzerten im Licht, das den Scheitelpunkt der Kuppel
nicht mehr erreichte und sie der Finsternis überließ, aus der
schwach das Logo der Rosenstern-Allianz hervorglühte.
Umbriel schritt mit Thanatos über den Onyboden, bis er das
kleine eingravierte Pentagramm im Zentrum des weiten Runds erreichte. Das
Fünfeck in seiner Mitte war herausgeschnitzt. Darin würde der
aztecische Nodenschlüssel passgenau Platz finden.
Er holte das wichtige Kleinod heraus und ließ es über
dem Pentagramm baumeln.
»Wir haben es geschafft, Thanatos. Wir sind diejenigen, die
für die Blutige Mutter den Weg bereiten werden.«
»Es war fast beschämend einfach. Sind Menschen wirklich
so dumm?« Thanatos lachte freudlos auf.
»Sie sind wirklich so dumm. Dumm, gierig, größenwahnsinnig.
Aber die Blutige Mutter und ihre Kinder werden sie züchtigen und Demut
lehren. Ihr Wille geschehe.« Mit diesen Worten ließ Umbriel
die Kette los, die wie in Zeitlupe auf den Boden schwebte. Als sie dort
auftraf, wurde sie von dem Pentagramm wie von einem Magneten zu sich gezogen.
Der Rosenquarz fügte sich in seine fünfeckige Höhlung, weiter
geschah für einige Augenblicke nichts.
Dann glühte es unter den silbernen Rosen auf.
Dünne Speere grünen Lichts schossen leise fauchend in
alle Richtungen aus dem Nodenschlüssel hervor und sammelten sich an
der Kante des weiten Kreises, der die Basis der Node beschrieb. Immer mehr
Aethron strömte aus dem Nodenschlüssel hervor und eilte nach
außen.
Als Umbriel und Thanatos schließlich von einem grün glühenden
Ring umgeben waren, begann das grüne Leuchten, riesige Buchstaben
entlang des Rundes zu schreiben. Alle Buchstaben des dämonischen Alphabets
waren darin vertreten, auch Doppellettern wie ›KH‹, ›DJ‹ oder ›XX‹, die
oft in den Namen der Überirdischen vorkamen. Man hatte Umbriel und
Thanatos schon als Kinder gelehrt, dass es wichtig war, die richtigen Buchstaben
zu benutzen, wenn man einen Dämonen rufen wollte. Bru’jaxxelon etwa
schrieb sich mit ›xx‹, was dem Laut ›ks‹ entsprach. Ein einfaches ›x‹ zeigte
die Folge ›gs‹ an und konnte der Name eines ganz anderen Dämons sein.
Fasziniert beobachteten die beiden Menschen, die sich aus dem Kreis
in einer der angrenzenden Wandelgänge in Sicherheit gebracht hatten,
wie die grünen Lichtpfeile die Felswände hinauf schossen und
sich als lange Schriftreihen in den Stein brannten. Welche Buchstaben die
Menschheit sich auch jemals ersonnen hatte - hier waren sie zu finden.
Ob Keilschrift, indische oder arabische Lettern, ob chinesische Symbole,
altgermanische Runen - sie alle drückten in etwa das Gleiche aus:
GEÖFFNET JEDEN TAG UND JEDE NACHT RUND UM DIE UHR. VIEL SPASS!
Zuletzt begann der Rosenquarz in der Mitte des Kreises weiß
aufzuglühen. Als er schließlich derart hell strahlte, dass Umbriel
und Thanatos die Hände vor die Augen hielten, war es soweit: Ein Blitz
schoss aus dem fünfeckigen Stein hervor und raste von einem der riesigen
Buchstaben zum nächsten, bis er ein Netz aus Strichen und Winkeln
gewoben hatte.
Das glühende Netz tauchte mit seiner strahlenden Helligkeit
die gesamte Node in ein grelles Licht.
Der Boden begann zu erzittern.
Dann verlöschte die Helligkeit mit einem Schlag, sämtliche
Buchstaben auf dem Boden und an den Wänden erstarben und nur die Fackeln
brannten unruhig, wie zuvor.
Doch es hatte alles seine Richtigkeit, das wussten Umbriel und Thanatos.
Sie sahen fasziniert zum Dach der Kuppel empor.
Dort spannte sich statt des Gesteins und des Allianz-Logos nun ein
tiefvioletter, bewölkter Himmel über ihnen.
Das Jenseits-Tor in der aztecischen Node stand sperrangelweit offen.
»Es ist vollbracht.«, flüsterte der Prediger und
lächelte glücklich.
Es dauerte auch keine drei Sekunden, als die ersten Überirdischen
in die Node niedergingen, erkennbar an einem alles durchdringenden Vibrieren.
Mindestens zwanzig Daimons materialisierten sich in schwarzen Uniformen
auf dem Onyxboden. Kaum, dass sie sichtbar geworden waren, stoben sie auch
schon in alle Richtungen davon und die nächste Einheit tat das gleiche.
Die dritte Gruppe hingegen bestand aus gewichtig aussehenden Kommandeuren,
von denen zwei der bulligsten unter ihnen, kahl geschorene Kerle mit mächtigen
Kiefern und einem stark hervorspringendem Kinn, sich mit einem lauten Kampfschrei
auf Umbriel und Thanatos stürzten und sie mit ihren übernatürlichen
Kräften augenblicklich zu Boden schlugen. Gleich darauf lagen die
beiden Xendii platt unter ihnen, über ihnen die als Elite-Soldaten
manifestierten Dämonen, die ihren Fuß auf den Rücken der
Gefangenen drückten - ein vibrierendes Missvergnügen, das durch
Mark und Bein ging.
»Gemäß dem Beschluss des Interdimensionalen Gerichtes
in der Sache MDL gegen Omrishah wird diese Node ab sofort für den
Freien Verkehr zwischen Daimonsion und dieser Welt freigegeben. Der Nodenschlüssel
wird kraft dieses Beschlusses konfisziert und an die MDL übergeben«,
schnarrte er. »Außerdem wird diese Node unter die Bewachung
der MoSh gestellt. Aus dem einfachen Grund, dass wir zuerst hier waren.«
Umbriel räusperte sich. Er hatte furchterregendere Gestalten
als diese erwartet und konnte mit der Bezeichnung ›MoSh‹ nicht viel anfangen.
»Auf welcher Seite steht ihr? Seid ihr Boten der mächtigen
Höllenfürsten?« Er verdrehte sich und sah zu den Dämonen
auf.
Der Kommandant sah vernichtend zu ihm herunter. »Boten? Ich
bin der Kethua Shaykhanim, der Anführer der 9.Armee der Melegonin
der Shinnn. Wie ich sehe, gehört ihr beide wohl der örtlichen
Folkloregruppe an. Nun, wie auch immer. Wir beginnen augenblicklich mit
der Erhöhung des DiS-Levels.«
»DiS?« Umbriel kannte einige Begriffe des PAGAN-Jargons.
Wie merkwürdig, sie aus dem Mund eines Dämons zu hören.
»Oh, sicher! Wie wundervoll! Wir begrüßen das sehr«,
ächzte er.
»Euch bleibt wohl auch nichts anderes übrig. Anscheinend
ist man auf dieser Welt zur Vernunft gekommen. Es wurde schon über
harte Maßnahmen in der Daimonsion diskutiert, um dieser Welt endlich
Daimonkratie und Freien Wettbewerb zu bringen, die einige rückständige
Subjekte unbedingt verhindern wollten. Aber den Fortschritt kann niemand
aufhalten.«
»Oh, das wollen wir nicht. Ich habe sogar die Absicht, noch
mehr Noden zu öffnen und die Feinde der Sieben Shinnn zu vernichten.«
»Na, wenn das so ist...« Die beiden entließen
ihre Gefangen aus der ungemütlichen Bauchlage. »Nun, dabei sind
wir euch gerne behilflich. Wenn erst mal der Level bis auf 18% gestiegen
ist, werden sich hier einige Dinge ändern. Ärgerlich nur, dass
die andere Node den Stinkern von MoZ zugefallen ist..«
Umbriel, der sich vorsichtig erhoben hatte, riss überrascht
die Augen auf. »Welche andere Node?«
»Die Rubin-Node nebenan.«
Rubin? Dieser Stein befand sich in der Mitte des Nodenschlüssels
von America Borea.
War das möglich? Lux Adhara hatte also tatsächlich...
.
...das Jenseits-Tor der ihr anvertraute Node geöffnet, trotz
schwacher Proteste aus den Reihen ihrer Sippe und ohne die Erlaubnis der
anderen Domén Arxes.
Entgegen ihren Erwartungen waren jedoch keine strahlenden Engel
mit weißen Flügeln zur Erde niedergeschwebt.
Stattdessen standen sie und einige Vertraute einem buntgekleideten
Heer gegenüber, die eher an alternativ eingestellte Umweltaktivisten
und Tierschützern erinnerten.
Ein bärtiger, hochgewachsener Mann mit Norweger-Pullover, Birkenstocksandalen
und runder Nickelbrille trat mit todernstem Gesicht vor die völlig
verwirrte Adhara.
»Gottchen, ist diese Welt vor die Hunde gegangen. Das gibt
es doch nicht. Euch kann man auch keine fünf Minuten alleine mit der
Natur lassen, was? Tja, wenn das so weitergeht, sehe ich schwarz für
euch. Die Zerrafin sind eh schon sauer auf euch. Vor allem Mikkiyell! Er
kann Atomkraft überhaupt nicht verknusen!«
»Wenn das mal nicht wieder Grund für ein Reset ist...«,
tönte es aus den Reihen der Cherubim.
»Ruhe! Es gibt kein Reset-to-Eden. Das ist ein böses,
böses Gerücht, das ich nicht noch einmal hören möchte,
gell?« Der Bärtige warf einen drohenden Blick in die Richtung,
aus der der Einwurf gekommen war. Dann wandte er sich wieder Adhara zu,
die immer noch mit offenem Mund dastand, und lächelte versöhnlich.
»Es war sehr vernünftig von euch, uns von der MoZ endlich den
Zugang zu dieser Welt zu verschaffen. Wir sind hier, um die Dinge wieder
ins Lot zu bringen. Uns schwebt da ein planetenweites Naturschutzgebiet
vor, natürlich mit genügend ›Betreten Verboten‹-Schildern, wie
einst anno Adam und Eva. Aber erst einmal bringen wir den DiS-Level auf
Arbeitsminimum. Schließlich ist es nicht sehr gesund, als Melegon
die ganze Zeit mit einem CHARMI herumzulaufen. Bringt den körpereigenen
Schwingungshaushalt durcheinander.«
.
Hätte man doch auf Procyon Zimberdale gehört!
Als der ohnehin schwerkranke Präsident George Midfield von
dem Fiasko hörte, das sich auf dem Boden der orientalischen Domén
Arx ereignet hatte, erlitt er einen Herzschlag und verfiel ins Koma - und
Mira Szelwyczinski wurde Übergangspräsidentin bis zu den Wahlen
im Juni.
Doch schon einige Tage vorher war den Xendii von PAGAN klar geworden,
dass sie tatsächlich in eine groß angelegte Falle getappt waren,
nämlich in jenem Augenblick, als niemand mehr die Node von Orientalis
betreten konnte: Man hatte die Tür verschlossen, genau wie es Europa,
America Borea, Balkan-Osmania und als allererste Circumpolaris mit den
Passagen zu den Noden PAGANs getan hatten.
Von viertausend Männern und Frauen aller Nationalitäten
PAGANs kehrten nach Tagen nur eine Handvoll über Umwege zurück,
um zu berichten, was geschehen war:
Das Haus El Beyt Akkamar hatte sie zunächst überschwänglich
empfangen und ihnen ein annehmliches Heerlager in der Wüste vorbereitet.
Dann, einige Nächte später hatten Seher der PAGAN-Armee
Alarm geschlagen:
Ein riesiges Aufgebot an Xendii kam rasch auf sie zu.
Es handelte sich um die Truppen Europas, America Boreas, Balkan-Osmanias
und ... Orientalis.
Denn El Beyt Akkamar hatte einen Hilferuf an diese Doméns
gesandt, da PAGAN im Begriff war, sie mit einer großen Streitkraft
zu überfallen und die Node zu kapern.
Mächtige Stürme, vermischt mit wirkungsvollen Whispern,
wehten entlang des Schlachtfeldes, entfacht von den Wandlern, damit die
Neutralen nichts von den Kämpfen merken konnten, die dort im Gange
waren.
Die Xendii von PAGAN waren sehr gut ausgebildet, jeder einzelne
von ihnen konnte hochenenergetische Jets, tödliche Dashes und unzählige
Kombinationen aus beiden verschießen.
Trotz ihrer Unterlegenheit - es kamen vier Krieger der Allianz auf
einen von PAGAN - fügten sie der vereinigten Armee der RSA herbe Verluste
zu.
Und doch nützte es letztendlich nichts.
Als der Morgen graute, war die Wüste übersät mit
verbrannten Leichen und umherliegenden Körperteilen und immer noch
gingen Krieger der Allianz umher und töteten jeden Feind, der sich
noch regte. Vor allem die Xendii der europäischen Sippen, noch ganz
außer sich wegen des vermeintlich feigen Anschlags PAGANs auf ihre
Domén Arx, erwiesen sich hierbei als besonders gnadenlos.
Die Mengen an Aethron - oder DiS, wie es bei PAGAN hieß -
die während der Schlacht gebildet worden war, sowie der verzehrende
Hass der Allianz-Krieger einerseits und die Verzweiflung der Soldaten PAGANs
andererseits, rissen den Level innerhalb weniger Stunden auf 7,2% empor.
Und bei dieser Marke blieb es bei weitem nicht.
Bestürzt musste PAGAN erkennen, wie der DiS-Level auch nach
der Schlacht von Orientalis unaufhörlich kletterte.
Und das konnte nur bedeuten, dass mindestens ein Jenseits-Tor sehr
weit geöffnet worden war und große Mengen DiS aus der Daimonsion
in die Erdatmosphäre geschleust wurden!
.
EPILOG
So kam es also, dass einige Tage später, am 22. April jenes
Jahres, um genau 08:57 MEZ der DiS-Level die Marke von 9 % erreichte.
Alle Cherubim, in jedem Land, in vielen Städten der Welt, inkarnierten
augenblicklich. Sicher hatten die meisten von ihnen damit schon länger
gerechnet, dennoch traf es die Mehrzahl höchst unvorbereitet.
Etliche, die gerade nichts ahnend über irgendeinem Ozean oder
einer Landmasse dahinsausten, stürzten mit gellenden Schreien in die
Tiefe, denn nun galten die Gesetze der Schwerkraft auch für sie, wenn
sie nicht gerade als Vögel oder Fledermäuse unterwegs waren.
In jenem Moment, da die Bedingungen der Inkarnation gültig wurden,
konnte keiner mehr die Gestalt ändern, die er zum Zeitpunkt gewählt
hatte, da die 9% erreicht worden waren. Wer keine Lust gehabt hatte, als
Stein am Wegesrand dazuliegen, machte unter Umständen also Bekanntschaft
mit der Verletzlichkeit eines materiellen Körpers.
Um so verständlicher erschien der Schock so mancher Stadtbewohner,
als Menschen oder merkwürdige Tiere vom Himmel fielen, auf den Asphalt
oder in die Vorgärten krachten und mit einem hässlichen, platschenden
Geräusch zu einem unappetitlichen Fleisch- und Knochenbrei auseinanderspritzten.
Ohnehin ging jener 22. April als der Tag weltweiter Massenhysterien
und Panikausbrüche in die Geschichte ein.
Wie anders als geschockt sollte etwa ein Pfarrer in Düsseldorf-Bilk
reagieren, der leicht demotiviert den Sonntagsgottesdienst mit acht frommen
Christen beginnen wollte. Doch, oh Wunder! Nachdem er traurig einige Verse
aus dem Evangelium verlesen hatte und den Kopf hob, brandeten mit einem
Mal tosender Applaus und Da Capo!-Rufe auf: Bis auf den letzten Platz waren
die sonst leeren Bänke plötzlich mit begeisterten Männern,
Frauen und Kindern angefüllt, die zwar mittelalterlich gekleidet waren,
doch ansonsten einen sehr ordentlichen Eindruck machten. Er konnte ja nicht
wissen, dass er Gläubige einer daimonischen Sekte namens Alldimensionale
Christen vor sich hatte, deren Ziel es war, alle christlichen Gotteshäuser
der Welt zu beehren und an jenem Tag zufälligerweise eben in Düsseldorf
weilte.
Aber auch Gläubige einiger Moscheen in Arabien wunderten sich
nicht schlecht, als sie während des rituellen Niederwerfens vor Gott
mit einem Mal umgeschubst wurden: Daimonische Anhänger des Propheten
Mohammed, die bis vor wenigen Augenblicken wie seit Jahren aus Platzmangel
über den Gläubigen schwebend beteten, plumpsten im Moment der
Inkarnation unverzüglich zu Boden - oder zwischen die Frommen. Richtigerweise
erkannten die Moslems sofort, dass es sich nicht um normale Menschen handeln
konnte und rezitierten vielstimmig Schutzsuren, in die die Daimons jedoch
freudig mit einfielen, was da nur den wiederum fast richtigen Schluss zuließ,
dass es sich um gläubige Dschinn handeln musste, von denen im Koran
die Rede war. Daraufhin bombardierte man die unerwarteten Gäste mit
Fragen nach Gott, dem Leben und dem ganzen Rest. Da Daimons stets zu Scherzen
aufgelegt waren, lautete die Antwort natürlich 42.
Viel entspannter gingen die Hindus mit den leibhaftig gewordenen
Inkarnationen ihrer Götter um, die eigentlich Touristen waren und
das Tadj Mahal besichtigten. Aus Respekt vor den einheimischen Traditionen
hatten sie sich beispielsweise die Gestalt von zartblauen vierarmigen Krishnas
angenommen und waren nach der Inkarnation unglücklicherweise dazu
verdammt, erst einmal in dieser Form durch die Gegend zu laufen. Und etwas
anderes als zu Fuß gehen oder die öffentlichen Verkehrsmittel
zu benutzen, war für die erste Zeit nicht mehr drin.
In Irland sah man sich urplötzlich mit jähzornigen Kobolden
und grazilen Elfen in Pubs und Museen konfrontiert, was nur Menschen unter
12 Jahren über die Maßen begeisterte. Überhaupt konnten
die Kinder weltweit die Aufregung der Erwachsenen nicht im Geringsten nachvollziehen,
schließlich gab es tausende von Büchern über diese phantastischen
Geschöpfe.
Den ›phantastischen Geschöpfen‹ ihrerseits, die sich nach ihrer
Einreise nicht an die Verpflichtung gehalten hatten, nur menschengleiche
Gestalt anzunehmen, war schlagartig klar geworden, dass Xendii sie in dieser
Aufmachung höchstwahrscheinlich mühelos aufspüren konnten,
was nicht gerade für Begeisterungsstürme bei ihnen sorgten. Die
meisten jedoch ahnten, dass dies nur den Beginn einer überaus aufregenden
Zeit markierte, in der ein Daimon endlich wieder seinen Spaß auf
dem Planeten Erde haben konnte - wie in früheren Zeiten.
Ob es sich um wunderschöne Nackttänzerinnen verschiedener
Sonnenanbeter-Vereine der Daimonsion an den Stränden Mallorcas oder
Floridas handelte, die zur verwirrten Freude der Männer schlagartig
vor ihren alkoholgetrübten Augen auftauchten oder um Mitglieder der
Ballettänzer-Gilden auf den Dächern des Kremls - die Inkarnation
der Cherubim sorgte für Massenaufläufe.
Solche angenehmen Anblicke bekamen die Bewohner New York Citys leider
nicht zu Gesicht - sie waren stattdessen vollauf damit beschäftigt,
vor den riesigen, geflügelten Gargoyles davon zu rennen, die im Tiefflug
über ihnen dahinsegelten und schreiende Menschenmassen über den
Broadway trieben. Vorzugsweise flüchteten sich viele Menschen an diesem
Tag in ihre Gotteshäuser, denn zu unglaublich, zu furchterregend,
zu unbegreiflich war das, was sich an diesem Tag auf der Welt abspielte.
Und wer sich nicht in die Kirchen, Moscheen und Tempel retten wollte, versuchte
daheim alleine oder mit Freunden und Verwandten krampfhaft eine plausible
Erklärung all dessen zu finden, was natürlich nicht gelang, es
sei denn, man bemühte Raum/Zeitverschiebungen, auf die Erde verirrte
Wurmlöcher, Verschwörung verschiedener Geheimdienste oder ähnliches.
War das Ende der Welt gekommen, wie später die Gottesmänner
weltweit erklärten? War das die Rechnung für unverschämtes
Nacktbaden, zügellosen Sex vor der Ehe, endlose Castingshows und dergleichen?
Und was wollten diese unheimlichen Wesen? Schickte Satan sie?
Einige schon länger alleinstehende Frauen und Männer mochten
nicht so recht daran glauben, nachdem sie den ersten Schock darüber
verwunden hatten, dass in ihren Betten oder an ihrem Frühstückstisch
plötzlich ein sympathisch aussehender Mensch auftauchte, der behauptete,
schon seit Jahren ihr Untermieter zu sein und ab und zu aus Eifersucht
vielversprechende Dates sabotiert zu haben.
Einige Daimons genossen sogar die offenkundige Verehrung, die ihnen
entgegengebracht wurde, als sie beispielsweise auf dem Eiffelturm als hübsche
Engel inkarnierten. Dabei hatten sie kurz vor ›Dem Moment‹ nur herumgealbert
und sich gegenseitig zum Spaß die schrillsten Dauerwellen und das
phantasievollste Gefieder anmaterialisiert. Immerhin, jener Engel mit den
blutroten Flügel und dem schwarzen Tribal-Muster darauf gelangte als
Fotomodell später zu einiger Berühmtheit und durfte sogar für
Chanel auf den Laufsteg.
In Shangri-La wussten die Xendii-Gäste, dass ›Der Moment‹ gekommen
war, als La Mâitres gellender Schrei und ihre wüstesten Flüche
aus der Küche des ›Chez Cherub‹ durch die ganze Stadt hallte - sie
hatte sich just in dem Moment inkarniert, als sie sich beim Zwiebelschneiden
das Messer in ihre Finger hieb. Das war ja vorher kein Problem gewesen
- nun jedoch...
Dann ertönten auch schon die Sirenen, die von dem gefährlich
angestiegenen DiS-Level kündeten - und nichts war mehr so gemütlich,
wie es für Jahre gewesen war.
Es waren jedoch nicht die abenteuerlich aussehenden Daimons, die
den Xendii Verdruss bereiteten. Diese konnte man leicht aufspüren
und zurück in die Daimonsion ausweisen.
Sorgen machen musste man sich um jene, die sich wie die meisten
Daimons in vollkommen unspektakulärer Weise inkarniert hatten, als
mehr oder weniger durchschnittlich aussehende Männer, Frauen oder
Kinder - doch alle überzeugte Anhänger der MDL.
Dies war die Stunde der Seher - nur sie konnten die noch schwach
vorhandene Aura der Daimons wahrnehmen.
Und es war auch die Stunde von Engelbert.
Wie es das Schicksal wollte, befand er sich zum Zeitpunkt seiner
Inkarnation wie so oft in einem Tonstudio, wo er insgeheim den Musikern
beim Einspielen ihrer Lieder zusah.
In dem Tokioter Studio hatte eine japanische Glamrock-Band gerade
das Feld geräumt, die Tontechniker waren ebenfalls gegangen - und
Engelbert nutzte die Gunst der Stunde, um aus Spaß einen Song für
sich selber einzuspielen, einer Mischung zwischen Rap und Swing.
I say:
Sing like a daimon
Swing like a daimon
Sway like a daimon
C’mon all you funky daimons
Move on all you kinky daimons
From East, South, North and West
Put your groove now to the test
Shake ya body up and down
Hit the dancefloor, hit the town
Yeah,
Sing like a daimon
Swing like a daimon
Sway like a daimon
C’mon all you funky daimons
Move on all you kinky daimons
From Detroit, Athens and Berlin
Show them how to shiver and spin
Jump up to touch the ceiling
What fun, and what a feeling
Uh oh
Sing like a daimon...
Er war so in Fahrt, dass er erst viel zu spät die staunenden
Männer entdeckte, die ihm schließlich grinsend Beifall klatschten.
»Hey, wir wissen nicht, wer du bist und was du hier treibst.
Aber der Song ist echt gut. Und wir kennen da einen Produzenten, der dich
groß rausbringen kann!«
.
Ende
des zweiten Teils
* Die letzten Tage von Windwibbenburg *
und
ENDE des ersten Buches
© I.S.
Alaxa
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