Am Morgen nach dem seltsamen Gespräch mit Bru’jaxxelon wollte
Tigris noch einmal Engelbert im Krankenhaus aufsuchen und vor allem Funatic
dazu überreden, mit den genauen Koordinaten herauszurücken. Zumindest
hatte dieser lässig behauptet, Ilvyns genauen Aufenthaltsort durch
das Multifunktions-Handy herausbekommen zu haben, beharrte aber darauf,
dass seine Truppe bei Ilvyns Befreiung dabei sein sollte - wenn sie denn
einmal komplett sein würden.
Zu ihrer großen Überraschung fand Tigris das Krankenzimmer
leer vor, von den beiden Cherubim gab es keine Spur mehr. Die daimonische
Krankenschwester, die Tigris auch schon kennen gelernt hatte, meinte nur
schnippisch und beleidigt zugleich: »Hier denkt wohl jeder, dass
er augenblicklich gesund ist, nur weil man ihn ein paar Stunden im DiS-Tank
mariniert hat. Ha, unser Domizil ist wohl nicht gut genug für dahergelaufene
Schlagersänger und angekokelte Xendii.« Wobei letzteres natürlich
auf Anjul gemünzt gewesen war.
Also ging es weiter nach Guulin Kherem.
Dort herrschte bei den Windwibbs eine angespannte, bisweilen sogar
depressive Stimmung.
Bat Furan war seit dem frühen Morgen mit Ras Algheti und einigen
anderen draußen im mongolischen Altai-Gebirge, anscheinend, um weite
Teile davon zu pulverisieren, zumindest sah es für Tigris danach aus,
als sie dort ankam.
Das Gefühl, versagt zu haben und daran schuld zu sein, dass
Ilvyn womöglich etwas angetan werden würde, machte ihn wütend
und hilflos zugleich. Er musste irgendetwas tun, und sei es nur, mit DiS
wild in der Gegend herumzuschießen und in Gedanken voller Hass Bilder
von einem Kampf gegen die MDL heraufzubeschwören.
»Oh, ich kann Aévon nun sehr gut verstehen. An allem
sind die Daimons schuld. Sie sollen einfach verschwinden, es ist nicht
ihre Welt, niemand will sie hier haben!«, knurrte er mit finsterem
Gesicht und zerschoss zur Bekräftigung gleich noch einen mannshohen
Felsen in einigen hundert Metern Entfernung.
»Tolle Einstellung, vor allem wenn man bedenkt, dass Funatic
die Koordinaten hat und uns helfen will«, wandte Tigris kopfschüttelnd
ein. »Wo ist eigentlich Anjul? Trainiert er nicht mit euch?«
Ras Algheti verzog den Mund. »Keine Ahnung, wo er abgeblieben
ist. Ist uns auch vollkommen egal, der tickt doch eh’ nicht richtig.«
»Wieso? Nur weil einige Mädchen sich lieber mit ihm beschäftigen
als mit dir?«, versetzte Tigris boshaft.
»Auf diese Art Beschäftigung kann ich gut verzichten!
Ich hatte schon genug Make-up und Glitzerkleider in London.«
Tigris hob die Braue und sah Ras Algheti verständnislos an.
»Aber«, mischte sich Darius spöttisch grinsend
ein, »im Gegensatz zu uns scheint es deinem kleinen Freund richtig
gut gefallen zu haben, zu einer Drag Queen verwandelt zu werden. Nun ja,
man muss wirklich sagen, an ihm ist eine holde Maid verloren gegangen.«
»Ja, er hat sich prächtig amüsiert«, stimmte
Ras Algheti augenrollend zu. »In Anapurnas Zimmer wurde gekichert
und getuschelt - und als wir hereingeschaut haben, stand Anjul vor dem
Spiegel und probierte alle Lippenstifte durch. Anas Minikleid stand ihm
ganz gut.«
Die Jungs grinsten sich hämisch zu, was Tigris noch wütender
und verwirrter machte.
»An ihm ist ein Irrer verloren gegangen, würde ich eher
sagen«, meinte Bat Furan weiter. »Ich weiß nicht, aus
welcher Ecke er gekommen ist, er ist ja so gesprächig. Aber Tig, im
Ernst: Er ist mehr als merkwürdig.«
»Er hat etwas Schreckliches erlebt. Da kann es vorkommen,
dass man merkwürdig reagiert. Ich hätte gerade von euch mehr
Verständnis erwartet«, sagte Tigris leise, aber verbittert.
»Ich habe auch etwas Schreckliches erlebt, sogar mehr als
einmal in meinem Leben«, gab Darius nicht weniger gekränkt zurück.
»Aber ich spaziere morgens zumindest nicht nackt durch das ganze
Herren-Badezimmer und präsentiere mich so, wie Gott mich erschuf.
Und ich dusche auch nicht eine halbe Stunde eiskalt, bis ich blau angelaufen
bin.«
Ungläubig starrte Tigris ihn an. Dann sagte sie herausfordernd:
»Ich habe das Gefühl, dass gerade du ein Problem mit ihm hast,
wieso auch immer. Du hast ihn gestern sehr seltsam angesehen.«
»Weil ich ihn irgendwo schon einmal gesehen habe, mich jedoch
zur Gottverdammnis nicht erinnern kann, wo. Aber es wird mir schon noch
einfallen. Allerdings sagt mein Gefühl mir, dass es keine erfreuliche
Erinnerung sein wird. Sobald ich ihn ansehe, weiß ich, dass irgendetwas
absolut nicht mit ihm stimmt. Du bist allerdings die erste, Milady, die
es erfährt, wenn es mir wieder eingefallen ist.«
›Lügner, du weißt garantiert genau, wer er in Wahrheit
ist‹, dachte Tigris insgeheim, zischte ihm jedoch unfreundlich zu: »Na,
da fühle ich mich aber höchst geehrt, danke.« Sie wandte
sich wie die anderen kurz um, als Hababai durch das Portal im Felsgestein
neben ihnen herauskam. Sogleich stürzte Bat Furan auf ihn zu und fragte
aufgeregt: »Ist Shirooka wieder zurück?«
»Ich habe sie nicht in Guulin Kherem gesehen, Bat Furan, tut
mir leid. Aber sie bleibt eigentlich immer zwei oder drei Tage in New York,
wenn sie einen Abstecher dorthin macht. Mach dir keinen Kopf, sie kann
sehr gut selber auf sich aufpassen.«
»Verdammt«, murmelte Bat Furan und senkte den Kopf.
»Wie kann man in die Höhle des Löwen gehen? Ich habe sie
angefleht, es sein zu lassen, aber nein - die Dame hat ihren eigenen Kopf.«
Er schloss die Augen und atmete tief durch.
»Was will Shirooka denn bloß in New York?«, wunderte
sich Tigris. »Dort haben sie doch die amerikanische Verfassung außer
Kraft gesetzt und stattdessen die tollen, göttlichen Gebote eingeführt.
Im Moment sind Europa und America Borea der letzte Ort, wo ich sein will.«
Doch Bat Furan stampfte ohne Antwort entnervt davon, um seinen Frust
mit noch wütenderem Herumgeballer abzureagieren.
»Shirooka stammt ursprünglich aus New York«, erklärte
Ras Algheti stattdessen. »Bis kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag
hat sie dort in einem Waisenhaus gelebt, das von einem Nonnenorden geführt
wurde. Dann ist sie abgehauen. Und letztendlich bei PAGAN und den DiSMasters
gelandet. Aber sie hat einige Freunde dort, Neutrale. Deswegen stattet
sie New York noch ab und zu einen Besuch ab.«
»Warum auch nicht? Ich würde auch gerne noch einmal meine
Freundinnen in Düsseldorf besuchen. Es kommt mir vor, als seien seitdem
tausend Jahre vergangen ...« Tigris sah für einen Moment gedankenverloren
in den Himmel. Dann fragte sie Hababai: »Ist Aévon eigentlich
schon aus England zurück?«
»Ja, er ist oben in seinem Zimmer in Guulin Kherem. Aber ich
würde ihn jetzt nicht stören, er hat ziemlich miese Laune und
dazu noch seine depressive Phase. Jedenfalls sah er ziemlich übel
aus, als er mir über den Weg gelaufen ist. Wahrscheinlich hatte er
wieder Streit mit seinem alten Herren. Da kann nur Rosanjin helfen, er
weiß, wie er mit Aévon umzugehen hat, wenn er so ist, Tig.«
»Ach ja, die Rufer!«, fiel es Tigris ein. »Anjul
ist bestimmt bei ihnen. Wahrscheinlich ist er dort auch besser aufgehoben.
Wandler können unausstehlich sein, nicht wahr?« Sie drehte sich
auf dem Absatz um und lief zurück durch das Tor nach Guulin Kherem,
nur um gleich die Passage in die Wüste Gobi zu nehmen, wo Antigua
und die anderen drei Rufer unter Rosanjins Leitung fast täglich trainierten
- Antigua und die anderen vier Rufer, wie man ab sofort wohl sagen konnte.
Als Tigris aus dem kleinen Zelt trat, in dem die Rufer zwischendurch
Pause machten und in dem sich auch der Durchgang zurück nach Guulin
Kherem befand, hörte sie schon Donnergrollen.
Antigua stand mit ausgebreiteten Armen in der Sandsenke, die rundherum
von mächtigen Dünen begrenzt wurde, hatte konzentriert die Augen
geschlossen und wartete auf den unvermeidlichen Blitzeinschlag, der aus
den dichten Wolken über ihr fahren würde. Bei ihr ging es sehr
rasch, denn sie hatte schon damals in Windwibbenburg Unterricht von erfahrenen
Lehrern aus ganz Europa erhalten und war durch ihr Verstärktes Xendium
besonders talentiert.
Als der Blitz aus den Wolken jagte, hüllte er die Ruferin für
einen kurzen Augenblick in gleißendes Licht.
»Entlade dich, sofort!«, brüllte Rosanjin ihr zu,
woraufhin Antigua auf die Knie sank und die Hände auf den Sand drückte.
Die Wüste um sie herum erzitterte - dann schoss auch schon der nächste
Blitz hernieder, um in ihren Körper einzuschlagen. Im gleichen Moment
rannte Rosanjin zu ihr, stieß sie beiseite - und empfing den dritten,
gleißenden Blitz an ihrer Stelle.
Dann entluden sich beide gleichzeitig in den Boden, wodurch diesmal
Sandlawinen von einer weiter entfernten Düne rutschten und dabei hohe
Sandschleier in die Luft schleuderten.
Tigris und die anderen drei Rufer - Anjul war zu ihrer Enttäuschung
nicht dabei - sahen das Ganze aus sicherer Entfernung an. Rosanjin drückte
Antigua an sich und strich ihr beruhigend über die Haare.
»Du musst etwas gegen deinen inneren Selbstzerstörungstrieb
tun, Antigua. Sonst beschwörst du eines Tages mehr Blitze herauf,
als du vertragen kannst«, hörte Tigris ihn trotz der Entfernung
sagen. Es war, als trüge der Wind seine Stimme nah an ihr Ohr heran.
Das Erbe ihrer Mutter entwickelte sich anscheinend von Tag zu Tag besser.
»Ich weiß«, knurrte Antigua nur zur Antwort und
stand dann auf, als sie endlich Tigris erblickte. Lächelnd kam sie
auf sie zu. »Schön, dich zu sehen, Tigris, auch wenn du garantiert
nicht wegen uns gekommen bist.«
»Ich freue mich trotzdem, dich zu sehen, auch wenn es stimmt.
Bat Furan und die anderen haben mir ziemlich komische Sachen über
Anjul erzählt, da wollte ich einfach mal nach dem rechten sehen.«
»Ach, die Jungs sind nur neidisch, weil wir Mädchen uns
so gut mit ihm verstehen«, warf Tajan, die junge chinesische Ruferin,
ein.
Es gab neben Antigua und Tajan nur zwei weitere Rufer, Kwilu, die
Kongolesin sowie Tarvos aus Russland, mit fast zwanzig Jahren der älteste
unter Rosanjins Schülern.
Umso überraschter schaute der hagere Tarvos drein, als eine
kleine, schmächtige Gestalt auf einer Wüstendüne auftauchte
und zielstrebig auf sie zuhielt.
»Wenn man vom Teufel spricht. Verstärkung für dich,
Tarvos«, sagte Antigua lächelnd zu dem hochgewachsenen Russen
mit den dichten, braunen Haaren, deren Spitzen knallig grün gefärbt
waren.
»Sehr stark, auf jeden Fall. Auf den kann ich gut verzichten«,
murmelte Tarvos augenrollend.
Tigris seufzte - war Anjul wirklich derart unbeliebt in Guulin Kherem?
Es tat ihr weh, dass vor allem die Jungs nicht gut auf ihn zu sprechen
waren.
»Er ist ziemlich exzentrisch, das ist wahr. Aber irgendwie
auch sehr weise«, meinte Tajan verträumt und Kwilu nickte begeistert.
»Oh, warst du etwa bei dem kleinen Kostümfest gestern
Abend auch dabei?«, erkundigte sich Tigris und konnte nicht verhindern,
dass es ätzend und eifersüchtig klang.
»Das war Anapurnas Idee, als Anjul sich ihre Federboa geschnappt
hat«, verteidigte sich Tajan. »Und als wir aus Spaß meinten,
dass wir aus ihm auch gerne eine Frau machen könnten, hat er nur gesagt:
Das ist mir nicht fremd. Und dann haben wir Tee getrunken und über
Liebe geredet. Er trägt bestimmt eine tiefe Wunde mit sich herum.
Er ist ja so empfindsam ...«
Antigua verdrehte die Augen und presste ihre Lippen aufeinander,
um nicht in Lachen auszubrechen.
»Hin und wieder schon. Allerdings mehr hin als wieder«,
sagte Tigris nur noch und bemühte sich, ihre Freude zu unterdrücken,
als Anjul schließlich bei ihnen stand.
»Man sagte mir, die Rufer bräuchten noch Zuwachs«,
begann er nach einem langen Blick auf Tigris an Rosanjin gewandt.
»Ja, und Gott sandte dich deswegen zu uns, was?«, grummelte
Tarvos, der in alle möglichen Richtungen sah, nur nicht in Anjuls.
»Wer sagt, dass es Gott war?«, entgegnete Anjul amüsiert.
»Wir sind hier, um zu trainieren, und nicht, um uns gegenseitig
Sympathiebekundungen zu machen«, ging Rosanjin mit einem warnenden
Blick auf Tarvos dazwischen. »Wie gut kannst du Blitze und DiS anziehen
und speichern?«, fragte er Anjul dann.
»Mindestens so gut wie du«, gab Anjul seelenruhig zurück.
»Angeber!«, zischte Tarvos leise.
»Ach ja?« Rosanjin sah ihn spöttisch an. »Wenn
du schon alles kannst, wozu brauchst du dann noch mein Training?«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich dein Training brauche«,
antwortete Anjul sachlich und vergrub seine Hände in den Hosentaschen.
»Aber vielleicht kann ich euch noch einige interessante Dinge zeigen.
Ich habe schon in Shangri-La gesehen, dass die Xendii anscheinend vergessen
haben, wozu ein Rufer fähig ist.«
Rosanjin schüttelte langsam den Kopf. Dieses Kerlchen war nicht
nur seltsam, sondern auch ausgesprochen anmaßend. Er verschränkte
die Arme und musterte den Neuzugang abschätzend. »Nun gut, erlauchter
Meister aller Klassen, dann frische das verschüttete Wissen auf und
zeige uns, was du kannst. Wir sind jedenfalls sehr gespannt und lernen
gerne dazu.«
»Das ist wohl das Mindeste, das ich erwarten kann«,
entgegnete Anjul nicht weniger ironisch. »Und sogar die passende
Anrede wird mir zuteil. Auf soviel Scharfsinn war ich gar nicht vorbereitet.«
Er schenkte dem japanischen Rufer noch ein schwaches Lächeln, dann
hob er den rechten Arm seitlich bis auf Schulterhöhe empor und spreizte
dabei die Finger seiner Hand. In dieser Haltung verharrte er schweigend.
Die Rufer und Tigris suchten den Himmel ab, der bis auf ein paar
übrig gebliebene Wolkenfetzen von vorhin makellos blau ins Auge stach.
»Es klappt wohl nicht so ganz, was?«, bemerkte Tarvos
schadenfreudig, doch Tajans Ellbogen, der mit einem Mal gegen seine Seite
stieß, brachte ihn zum Schweigen. Befremdet sah er sie an - und sie
wies mit dem Kinn zu der großen Sanddüne in gut zweihundert
Metern Entfernung, in deren Richtung Anjuls Arm ausgestreckt war. In Zeitlupe
erhob sich dort ein Sandschleier, der sich immer höher gen Himmel
reckte. Ein erstaunlicher Anblick, der selbst Rosanjin überraschte.
Doch das war nur der Anfang. Als die dünne Sandsäule eine gewisse
Höhe erreicht hatte, bog sie sich mit einem Mal in Anjuls Richtung
und schnellte dann auf seine Hand zu. Gleich einem Wasserstrahl schoss
der Sand gegen Anjuls Handinnenfläche und rieselte von dort unaufhörlich
wieder zu Boden.
»Wer hat dir das beigebracht?«, wollte Rosanjin wissen,
der das Spektakel genauso ungläubig wie alle anderen mitverfolgt hatte.
Seine Stimme zitterte vor Aufregung sogar ein wenig.
»Der Heilige Geist natürlich«, meinte Anjul mit
ironischem Grinsen. »Meine ... Sippe ist ziemlich talentiert in solchen
Dinge. Aber im Grunde spielt es überhaupt keine Rolle. Es ist nichts,
wozu ihr nicht auch imstande seid.«
Er beendete die Vorführung. Schlagartig sank die Fontäne
in sich zusammen und regnete zu Boden.
»Wer ist deine Sippe?«, bohrte Rosanjin jedoch weiter.
»Ich sagte, es spielt keine Rolle. Und ich will nicht über
sie sprechen, dafür hasse ich sie zu sehr.«
»Soll das heißen«, rief Tigris dazwischen, »ihr
könnt alles mögliche anziehen, nicht nur immer diese öden
Blitze?« Dann schlug sie sich die Hand auf den Mund und warf Rosanjin
einen schuldbewussten Seitenblick zu.
»Deswegen heißt es ja auch Rufer und nicht Blitzableiter«,
meinte Anjul mit einem sanften Lächeln, das wieder die Grübchen
unter seine Augen zauberte. Tigris sah ihn hingerissen an. Egal, was Bat
Furan und die anderen über ihn sagten - er war etwas ganz Besonderes.
»Deine Sippe gehört zu jenen von B.A.D. Company, habe
ich recht?« Rosanjin wollte in diese Hinsicht offenbar nicht lockerlassen.
»Ja«, knurrte Anjul. »Überaus very bad Company,
das kann ich nur bestätigen.«
»Überaus auskunftsfreudig, wie wir Anjul kennen«,
lachte Antigua, die schon dabei war, sich auf eine andere Düne zu
konzentrieren. Immerhin - ein kleiner, zarter Staubschleier war aus dem
Sand erwachsen und tanzte dort unkoordiniert im Kreis herum.
Was für phantastische Möglichkeiten!
Tigris sah sich um - die Rufer hatten sich verteilt, selbst Tarvos
war schon eifrig dabei zu üben.
Plötzlich fühlte sie ein Ziehen am Rücken, als ob
jemand ein Seil an ihr befestigt hätte und nun mit aller Kraft daran
zog.
»Hey, was ist das denn?«, rief sie erschrocken, da sie
gegen die Kraft nicht ankam und ein paar Schritte rückwärts taumelte.
Augenblicklich schnellten alle Köpfe zu ihr herum.
Und ehe sie sich versah, riss es sie schließlich von den Beinen,
sie machte einen gewaltigen Satz durch die Luft - um sich letztendlich
in Anjuls Armen wiederzufinden.
»Meine körperliche Anziehungskraft ist wirklich phänomenal,
findest du nicht?«, raunte er ihr mit seiner rauchigen Stimme zu.
Die tiefblauen Augen waren Tigris so nah wie nie zuvor, weswegen sie unbewusst
den Atem anhielt. In ihrem Magen flatterte eine Horde wildgewordener Schmetterlinge
auf, die sich alle auf einmal durch sämtliche ihrer Blutbahnen drängeln
wollten.
Sein Blick schweifte fragend in ihren Augen umher, schien etwas
zu suchen, wurde dabei immer weicher und erstaunter. Gleichzeitig erspürte
sie einen warmen Hauch von Sympathie. Vielleicht sogar mehr ...? Doch kaum
hatte sie das gedacht, rissen seine Augen sich entschlossen von ihr los.
In dem Moment zog er auch die Arme weg und ließ sie unsanft in den
Sand plumpsen.
»Aber bei dir brauche ich diese Spielchen doch gar nicht,
Tigris. Du kommst auch jederzeit freiwillig in meine Arme gehüpft«,
sagte er leise, doch unüberhörbar spöttisch. Diese Unverschämtheit
verschlug Tigris zunächst glatt die Sprache. Immer noch rücklings
im Sand liegend, stützte sie sich auf ihre Ellbogen und schaute zu
Anjul hoch, der finster ihrem ernsten Blick standhielt.
Eigentlich hatte er eine ätzende Antwort verdient. Doch dieser
eine kurze Moment, in dem sie für einen Augenblick an seinem Innersten
gerührt hatte, hatte etwas in ihr ausgelöst.
Diese Situation kam ihr aus irgendeinem Grunde merkwürdig vertraut
vor.
»Freiwillig und gerne, Anjul«, meinte sie daher nur
leise und lächelte.
Er starrte sie irritiert an. Langsam ging er vor ihr in die Hocke
und mit einem Tonfall, in dem nur mühsam unterdrückter Zorn schwang,
sagte er genauso leise zu ihr: »Ich brauche deine Liebe nicht.«
Tigris riss die Augen auf.
Die Stimmen der anderen Rufer, die weiter hinten standen und sich
unterhielten, verstummten schlagartig. Es war, als ob etwas sie und Anjul
urplötzlich aus der Wüste fortriss und weit weg brachte - an
einen anderen Ort. Ein Ort, so weit entfernt, dass er in einer anderen
Zeit zu liegen schien.
›Ich brauche deine Liebe nicht‹
Jemand hatte das schon einmal gesagt! Und jemand anderer hatte,
wie sie nun, geantwortet:
»Sie gehört trotzdem dir.«
Nun waren es die tiefblauen Augen, die aufgerissen wurden und vollkommen
entsetzt und verwirrt zugleich blickten.
Das merkwürdige, entrückte Gefühl zerstob bei Tigris,
als Anjul kurz aufkeuchte und dann wieder auf die Beine sprang. In diesem
Moment kehrte auch die Realität zurück.
Tigris erhob sich und klopfte sich den Sand von ihrer Hose. Dabei
sah sie kurz auf und bemerkte endlich, dass Anjul sie schweigend anstarrte,
während er einige Schritte rückwärts zu den anderen machte.
In seinem Gesicht kämpften immer noch Verwirrung, Zorn - aber auch
Schmerz. Schließlich drehte er sich um und stampfte mit gesenktem
Kopf zu den anderen Rufern.
.
Es waren einige Monate vergangen, seitdem Shirooka zuletzt ihre Freunde
in New York besucht hatte. Zwar konnte man in Shangri-Las Cafés
die Neuigkeiten aus aller Welt im Fernsehen und im Radio verfolgen, doch
die DiSMasters hatten etwas Besseres zu tun als vor dem Bildschirm zu hängen,
vor allem in ihrer Freizeit, in der die meisten gerne durch die Welt streiften
und zusammen etwas unternahmen.
Daher war Shirooka schon nach der ersten halben Stunde, in der sie
am frühen Abend durch die Schluchten der Hochhäuser gestreift
war, vollkommen entsetzt und wütend.
Die Stadt, die bis vor wenigen Wochen nie geschlafen hatte, überließ
sich betäubt der hereinbrechenden Dämmerung.
Als erstes waren ihr die zahlreichen schwarzen Flaggen mit einem
blutroten Schwert mit zwei Flügeln an der Klinge und einer Art Heiligenschein
über dem Knauf aufgefallen. Sie hingen in Bahnen von jedem wichtigen
Gebäude und neben den Kirchtüren.
Sprüche in rot standen oft darunter:
›Das Ende aller Tage naht‹
›Die Engel werden euch leiten, seid ohne Furcht‹
Hin und wieder auch besonders aufmunternde Verse aus der Weißen
Bibel:
›Und es kommt eine Zeit, da werden sich die Rechtschaffenen empören
wider das Unrecht und seine lästerlichen Verbreiter‹
›Wer jedoch zurück in die Gemeinschaft der Gerechten kehrt,
siehe, den errettet der Herr und entrückt ihn in sein Himmelreich‹
Dann entdeckte sie, dass viele der Clubs und Bars, die sie früher
gerne besucht hatte, geschlossen hatten. Einige waren sogar mit schwarzem
Band, in dem sich das Schwertsymbol wiederholte, versiegelt worden.
Sie hatte zwar mitbekommen, dass die amerikanische Verfassung durch
die strengen Gebote der Xendii-Bibel ersetzt worden waren, aber niemals
für möglich gehalten, dass sie in einer Metropole wie New York
durchgesetzt werden würden.
Aus den Bistros und Cafés, die geöffnet hatten, drangen
entweder unaufdringliche, dahinplätschernde Instrumentalmelodeien
oder aber religiöse Lieder. Lieder über Gott, das Leben und das
Licht. Vor allem aber die Aufforderung, umzukehren zu Gott. Heimzukehren
in die ergebene sanftmütige, fromme Herde, die von liebevollen guten
Hirten bewacht wurde.
Bewacht vor allem.
Männer und auch Frauen in dunkelblauen Uniformen, die das Schwertsymbol
auf dem Rücken und in Silber an einer Kette auf ihrer Brust trugen,
streiften durch den feierabendlichen Berufsverkehr.
Auf Shirookas Behauptung, dass sie Touristin sei und sich gefragt
habe, wer diese Leute waren, hieß es respektvoll aus dem Mund einer
älteren Dame:
»Das sind die Angels of Dawn. Wissen Sie, Kind, es gibt keine
Polizei mehr. Das brauchen wir nicht mehr. Sie stammen aus unseren eigenen
Reihen und daher unterstützen wir sie voll und ganz. Innerhalb weniger
Wochen haben sie aus diesem Sündenbabel eine lebenswerte, familienfreundliche
Stadt gemacht! Warum haben Sie denn nur Ihre Haare so grauselig gefärbt
und kurz geschnitten, Kindchen? Gott liebt Sie so wie er sie erschuf, mit
all Ihren Fehlern und Mängeln.«
»Dann liebt er mich sicher auch trotz meiner Frisur, oder?«
hatte Shirooka freundlich aber bestimmt entgegnet.
Nein, das alles gefiel ihr überhaupt nicht.
Die meisten Leute waren so ... so ängstlich und betriebsam
zugleich. Als ob tatsächlich bald das Jüngste Gericht drohte.
Sie waren oft auch dementsprechend gekleidet - gedeckte Farben,
kein Schnickschnack oder Schmuck, keine auffälligen Muster.
Die umherstreifenden Sittenwächter warfen ihr misstrauische,
wachsame Blicke zu, als sie den Central Park betrat.
Auf einer großen Wiese stand ein Kinderchor und unterstützte
mit süßen Stimmchen einen Prediger, der vor hunderten von Leuten
das neue Reich der Letzten Dämmerung pries.
»Die Macht der Wahrheit ist überwältigend! Gott
ist die Wahrheit!«, rief er ins Mikrofon und die Zuhörer jubelten
laut auf.
»Er gab uns seine Gesetze, nicht um uns zu knechten, sondern
um uns befreien. Um uns zu befreien von Krieg, Leid, Drogen, Selbstzerstörung!
Sie ermöglichen uns wahres Leben. Endlich können unsere Kinder
in dieser Stadt aufwachsen, ohne dass geistig verwahrloste Kreaturen ohne
jegliche Moral ihre reinen Seelen und unschuldige Körper bedrohen.
Doch Gott ist auch Barmherzigkeit. Selbst diesen bemitleidenswerten Geschöpfen
wird Seine Gnade zuteil. Überall in unserem Land werden sie von unseren
aufopferungsvollen, liebevollen Brüdern und Schwestern in Heimen und
Hilfezentren aufgenommen. Dort erfahren sie, was Liebe bedeutet, was Gemeinschaft
und Fürsorge ist. Dort können sie zu Menschen werden!«
Und wieder Jubelrufe und Lobpreisungen.
Shirooka lehnte in einiger Entfernung gegen einen Laternenpfahl
und sah sich das Spektakel auf der Wiese vor ihr an.
Vor einigen Monaten hatte sie dort mit begeisterten anderen Jugendlichen
ein Live-Konzert verschiedener unbekannter Amateurbands mitangesehen. Von
dieser Art Ausgelassenheit war jedoch weit und breit keine Spur mehr.
»Hallo, Benya! Pünktlich wie immer.«
Shirookas Kopf schnellte herum, als dieser Name genannt wurde.
Ein Name, den sie mit ihrer Flucht aus dem Waisenhaus hinter sich
gelassen hatte, und den nur noch ehemalige Mitbewohner von dort oder einige
andere Kumpel aus der Stadt benutzten. Rich war einer von ihnen.
Shirooka lachte und drückte den pummeligen Puerto Ricaner an
sich, und auch er grinste und erwiederte die Umarmung.
»Gut siehst du aus. So durchtrainiert. Diese Truppe, bei der
du bist, sind doch garantiert Marines, oder so.«
»So etwas in der Art. Sag mal, was geht denn hier eigentlich
ab?«, fragte sie sogleich, doch Rich legte den Finger an die Lippen
und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er wählte einen schmalen, wenig
besuchten Weg durch ein abgelegenes Wäldchen.
»Das Reich der Letzten Dämmerung geht ab, und mit ihm
seine Anhänger, wie du siehst. Man könnte sich ja damit arrangieren
- wenn sie uns nicht immer mehr die Luft abdrücken würden. Leute
verschwinden einfach - die Halleluja-Freaks kümmert es nicht. Wer
von der Spießergarde verhaftet wird, der muss nun einmal ein schlechter
Mensch sein, der eine Besserungsanstalt nötig hat. Ab zehn Uhr abends
siehst du niemanden mehr in den Straßen. Und wenn, wird er höflich
aber bestimmt von der Spießergarde gefragt, wohin er so spät
abends noch geht.«
»Ach du Schande ...« Shirooka schüttelte den Kopf.
»Umbriel und seine Bande sind Faschisten, aber niemand von
diesen Supergläubigen will das wahrhaben. Vor drei Tagen wurde Ella
Hawkins, die bekannte Moderatorin unseres City-Kanals verhaftet. Sie hat
sich am Engelsbrunnen hier im Park hingestellt und die Spießergarde
angeprangert. Es gibt kein freies Nachtleben mehr - wir feiern heimlich
Feten. Jugendliche, die noch nach der Sperrstunde herumspazieren, werden
verwarnt, bei Wiederholung petzen sie es deinen Eltern, und zuletzt geht
es jeden Abend zwei Monate lang in eine ›Gottestherapie‹.«
»Dass der eine Therapie braucht, war mir schon damals im Waisenhaus
klar, als die Nonnen uns mit dem Alten Testament traktierten.«
Rich grinste. » In die Gottestherapie kommen Leute wie du
und ich, die ganz Sturen also.
Umbriel hat Anweisung gegeben, jede Art von Musik, Büchern
und Filmen, die gegen seine tollen Gesetze sind, aus den Geschäften
zu entfernen. Du darfst nicht mehr über Sex oder gegen Gott singen,
da läufst du Gefahr, dass sie dich aufgreifen und in eines dieser
Hilfszentren auf dem platten Land schicken.«
»Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.«
»Es wird noch schlimmer kommen, glaube es mir. Die Spießergarde
nimmt sich immer mehr heraus. Und was so an Gesetzen in dieser Weißen
Bibel steht, macht mir ziemlich Angst. Mittelalter reloaded. Die Engelsshow
hat alle beeindruckt. Umbriel hat leichtes Spiel.«
Er seufzte mutlos und kickte einen Stein vom Weg. Dann erhellte
sich sein breites Gesicht und er warf ihr schelmische Blicke zu. »Aber
immerhin wachen hin und wieder einige Leute aus ihrem göttlichen Rausch
auf und reiben sich verwundert die Augen. Und es gibt einige, die diesen
ganzen Scheiß hier bekämpfen wollen. Sie nennen sich Dawnkeepers.
Ich und die anderen sind letzte Woche auf einem geheimen Treffen von ihnen
gewesen. Und was uns dort berichtet wurde, hat uns die Sprache verschlagen.
Dies ist wirklich noch das Vorspiel. Die Leute, die verschwinden, kommen
nicht in irgendwelche Therapiezentren. Umbriel hat vier große Lager
errichten lassen. Allmählich füllen sie sich. Und nicht nur mit
Amerikanern, die nicht so spuren, wie Gott es angeblich will.«
»Eine Widerstandsgruppe also ...«, bemerkte Shirooka
nachdenklich.
»Ja. Und sie hat einen Informanten direkt aus dem engsten
Kreis um Umbriel. Durch ihn wissen wir vieles von diesen Xendii.«
Shirooka zuckte erschrocken zusammen.
»Verfluchte Xendii. Verfluchte Dämonen und Engel - oder
was auch immer sie in Wahrheit sind«, fuhr Rich leise und verächtlich
fort. »Unser Informant ist auch ein Xendi, aber was sollen wir machen?
Er hat sich angeblich als sehr nützlich erwiesen.«
»Vielleicht ist er ein Spitzel?«, warf sie vorsichtig
ein.
»Wer weiß? Ich persönlich denke auch nicht, dass
man irgendeinem von diesen Freaks trauen kann. Teilen unsere Welt einfach
unter sich auf! Es ist unglaublich. Wer weiß, wie lange sie schon
darauf hingearbeitet haben, uns Menschen endgültig zu versklaven.«
›Wenn du wüsstest‹, dachte Shirooka verzweifelt, ›dass wir
euch vor allem seit Jahrhunderten die Daimons vom Hals halten und euch
um euer normales Leben beneiden... und dass ich zu ihnen gehöre...‹
»Wo sind die anderen eigentlich?«, meinte sie dann betont
aufgekratzt, um vom Xendi-Thema abzulenken. »Ich kann es kaum erwarten,
sie zu sehen.«
»Ich bringe dich dorthin, Benya. Sie warten schon sehnsüchtig.
Ganz besonders Tristan.« Rich wackelte bedeutungsvoll mit den Brauen.
»Im Moment residieren wir im Keller einer geschlossenen Bar. Wohnungsfeten
sind zu gefährlich geworden. Alle in dieser Stadt sind auf einmal
zu braven Nachbarn geworden, die gleich die Spießergarde rufen, wenn
sie auch nur einen Ton Rockmusik vernehmen. Wir sind so ziemlich im tiefsten
Untergrund, den man sich vorstellen kann. Ich frage mich, ob wir jemals
das Sonnenlicht wieder erblicken.«
Sie gingen aus dem Park, nahmen einen Bus über die Queensborough
Bridge und landeten in einer etwas heruntergekommenen Ecke in Queens.
Über ihren Köpfen spannte sich eine hässliche Eisenbahnbrücke,
die stellenweise mit kunterbunten Graffitis bemalt war. Gleich zu ihrer
Rechten zogen sich dicht aneinander gedrängte schäbige Häuser
dahin, auf der anderen Straßenseite ein Stück begleitet von
einem alten Fabrikkomplex aus geschwärzten Backsteinen.
Aber das machte Shirooka nichts aus, sie war früher oft in
diesen Gegenden New Yorks unterwegs gewesen, fernab von den strahlenden
und glitzernden Einkaufsdomen und blitzsauberen Tempel aus Glas und Stahl.
In einer Seitenstraße betraten sie ein düsteres Treppenhaus
und gingen in den nach Moder und Urin stinkenden Keller. Dort führte
eine Stahltür in das Untergeschoß des Gebäudes nebenan,
eine einfache Kneipe, deren Tür mit dem Band der Angels of Dawn versiegelt
worden war und deren mittlerweile verschmutzte Scheiben mit Zeitungspapier
beklebt worden war. Von außen konnte man jedenfalls nicht mehr durchsehen.
Im ehemaligen Vorratskeller hatten sich einige Leute so gemütlich,
wie es unter diesen Umständen ging, eingerichtet. Alte Matratzen,
ein quietschendes Sofa, aus dem stellenweise der Schaumstoff hervorquoll
und einfache Stühle und Tische bildeten das schlichte, funktionale
Ambiente. Aus einem batteriebetriebenen Kassettenrecorder dudelte ganz
leise ›The Great Below‹ von Nine inch Nails - und die Anwesenden lauschten
ergriffen.
»Verdammt, wie konnte es soweit kommen?«, fragte Shirooka,
als sie eingetreten war, und lächelte schief.
Ein etwa zwanzigjähriger junger Mann mit langen, dunklen Haaren
und düsteren Zügen öffnete schlagartig die Augen und stieß
die Hand fort, die ihm gerade einen Joint anbieten wollten.
»Benya! Ein Lichtstrahl fällt in den Kerker meines Daseins
...«, sagte er, während er sich erhob und mit ausgebreiteten
Armen auf Shirooka zutrat. Er drückte sie fest an sich, was Shirooka
einerseits rührte, andererseits traurig machte. Tristan stammte aus
dem gleichen Waisenhaus wie sie selber. Seitdem sie ihn kannte, war er
labil, selbstmordgefährdet und eigenbrötlerisch. Und er sah nicht
viel munterer aus als sonst. Sie klopfte ihm beruhigend auf den Rücken.
»Mir geht das alles so sehr auf den Sack. Ohne dich schaffe
ich das alles nicht. Komm zurück«, murmelte er, sein Gesicht
in ihr kurzes Haar gedrückt. Dann löste er sich und musterte
sie. Benya. Benyamina. So stark und kraftvoll in jeder Hinsicht. Nicht
unterzukriegen, selbstbewusst, lebenshungrig, direkt und ehrlich. Er bewunderte
sie seit jeher. Sie wusste immer, wo es langging, wusste immer, was zu
tun war. Ließ sich nichts bieten. Nahm sich, was ihr zustand, ohne
rücksichtslos zu sein. Schon aus ihren giftgrünen Augen blitzte
die pure Willenskraft hervor. Überhaupt sah sie nicht im mindestens
sanft und feminin aus, hatte eine markante Nase und ein leicht hervorspringendes
Kinn - mehr als eine kleine Wildkatze: inzwischen eine junge Tigerin.
»Das ist ja ätzend geworden. Wir müssen irgendetwas
dagegen unternehmen«, meinte sie, kaum dass sie sich auf eine freie
Matratze geworfen hatte und die Gesichter der anderen aufmerksam studierte.
»Hat dir Rich von den Dawnkeepers erzählt? Gut. Sie planen
etwas. Umbriel kommt in drei Wochen zu Besuch. Der Informant wird uns in
den nächsten Tagen mehr erzählen«, erklärte Silvia,
ein Punkerin.
»Diesen Informanten würde ich mir gerne näher ansehen.
Ich will bei diesem Treffen unbedingt dabei sein«, erklärte
Shirooka entschlossen, während sich Tristan wieder trüben Gedanken
hingab und schlaff gegen sie kuschelte.
»Er ist okay, soweit wir bisher sagen können. Jedenfalls
hat er einem Haufen Dawnkeepers schon zwei- oder dreimal den Arsch vor
der Spießergarde gerettet«, meinte Rich.
»Was für ein Typ ist er so? Weiß? Farbig?«
»Indianer. Ein gottverdammter Indianer-Xendi. Copperfield
aus dem Tipi.«
Shirooka runzelte die Stirn.
Indianer ... es raschelte tief in dem Haufen Erinnerungen, die sie
im Lauf ihres Lebens angesammelt hatte. Ein kurzes Bild - konnte es sein,
dass ...? Gut möglich, wieso nicht? Die Erinnerung an dieses Gesicht
lag nun lose zuoberst auf allen anderen. Griffbereit. Sie hatte als Xendi
gelernt, dass alles möglich war und dass man niemals nie sagen durfte.
Wenn er es war, konnte man ihm nicht vertrauen. Schließlich hatte
er sich als falscher Freund herausgestellt, wegen dem sie letztendlich
hatte flüchten müssen.
›Dieses Arschgesicht wollte mich an diese superspießigen Weiße
Bibel-Fanatiker aus der ödesten Ecke der USA verkaufen‹, dachte sie
grimmig. ›Schade, sein Gesicht hätte ich gerne gesehen, als ich nicht
mehr im Waisenhaus war, um an diese verbitterte, staubtrockene Gouvernante
übergeben zu werden.‹
Danach ließ sich Shirooka noch mehr Neuigkeiten und Vorfälle
erzählen, fragte nach diesem und jenem Typen, flocht geschickt Fragen
über die Dawnkeepers und ihren mysteriösen Informanten ein, genehmigte
sich einen tiefen Zug aus dem Joint, der herumging, und fühlte sich
entspannt und wohl, als es das erste Mal passierte.
Sie hörte Tristan gerade beim Singen zu - sein einziges erkennbares
Talent - als ein stechender Schmerz durch ihren Magen fuhr und sie leise
ächzend vornüber kippte.
»Oh Scheiße, Benya. Hast du immer noch diese Magenprobleme?«
Rich war vom Sofa aufgesprungen und hockte sich besorgt vor sie. »Soll
ich dich nach oben zu den Toiletten bringen? Nicht, dass du uns hier alles
voll kotzt wie damals.«
»Es ... geht schon«, stöhnte Benya und biss fest
die Lippen zusammen, denn im pulsierenden Wechsel zog sich ihr Magen anscheinend
zusammen und erschlaffte wieder. »Ich habe irgendetwas falsches gegessen,
mehr nicht. Wirklich.«
Und nur eine Erklärung in dieser Richtung taugte etwas. Sie
hatte den Ausbruch ihres Xendiums schon ein paar Jahre hinter sich. Mehr
war aus dieser Ecke nicht zu erwarten. Nichts als eine Magenverstimmung.
»Ich wette, meine Pizza von vorhin ist mit einem Vers aus
der Weißen Bibel gesegnet worden, und nun habe ich den Salat...«,
meinte sie leise, während der intensive Schmerz nachließ und
in ein flaues Übelkeitsgefühl überging. Doch noch immer
wummerte ihr Herz gegen den Brustkorb, angetrieben von einer heißen
Energie, die wie Lava durch ihre Adern floss und ihre Hände zittern
ließ.
Auch wenn ihr Verstand kategorisch das Xendium ausschloss, wühlte
ihr Unterbewusstsein in der Erinnerungshalde, bis es etwas gefunden hatte
und als kurzes Schlagwort in ihrem Gehirn dröhnen ließ.
›Final update‹
Nein. Das konnte nicht sein! Sie konnte doch unmöglich zu den
zwei oder drei Xendii jährlich auf der Welt gehören, die dieser
zweite Ausbruch ereilte. Die Seher in Shangri-La hatten ihr bestätigt,
dass sie nur das einfache Xendium in sich herumtrug. Und daher hatte sie
insgeheim Aévon und Rosanjin immer bemitleidet und war doch froh
gewesen, dass sie nicht eines Tages unvermittelt in Flammen stehen und
bei lebendigem Leib verbrennen würde.
›Nur weil ich eine sehr gute Performerin bin, heißt das nicht,
dass es irgendetwas mit Verstärktem Xendium zu tun‹, versuchte sie
sich zu beruhigen. ›Final update kommt nur bei Verstärktem Xendium
vor. Also kann ich es nicht haben, ich habe nur das einfache Xendium.‹
Doch ein verschreckter, panische Gedanken warf ein: ›Aber deswegen heißt
es ja Final update. Mehr Kanäle öffnen sich in dir für das
DiS. Und dann hast du das Verstärkte Xendium, wie es von Anfang an
vorgesehen war, aber aus irgendwelchen verfluchten Gründen nicht sofort
passiert ist. Deine Eltern sind beide Wandler. Wo auch immer sie sein mögen:
Sie sollen zur Hölle fahren.‹
Zu allem Unglück rumpelte und krachte es im Stockwerk über
ihnen, eine Vielzahl Schritte trampelte und rannte umher, Stimmen brüllten
sich Befehle zu.
»Scheiße!«, quiekte ein sehr junges Bürschchen.
»Die Angels of Dawn!«
»Nichts wie raus hier!«, stöhnte Shirooka und zog
sich mit Richs Unterstützung auf die Füße, während
die anderen eilig aus dem Kellerraum hasteten und zu der rostigen Stahltür
flüchteten, die zu einer Treppe hinauf in den Hinterhof des Hauses
führte. Doch durch die versperrte Tür hörte man bereits
harsche Stimmen von draußen.
»Mist, wir können nicht zurück ins Nebenhaus, dort
sind sie auch schon postiert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die
Tür sprengen!«, zischte Rich.
»Wir sitzen in der Falle! Mann, ich dachte, die Leute in diesem
Viertel wären nicht so mies und spießig drauf.«
»Vielleicht gibt es Geld für wertvolle Tipps«,
grummelte Shirooka schweißgebadet und besah sich den engen Kellergang.
Tatsächlich gab es nur die zwei Türen, die den Kneipenkeller
mit dem Nebenhaus beziehungsweise dem Hinterhof verband. Und es gab noch
die Wand, hinter der das andere Nebengebäude lang.
Das war die einzige Chance.
Sie würden es nicht verstehen und sie nie wieder als eine von
ihnen betrachten, ihr nicht mehr mit der erfrischenden Unvoreingenommenheit
begegnen wie all die Jahre zuvor.
Doch das war jetzt nicht mehr wichtig.
Wenigstens würde die Wahrheit endlich ans Tageslicht kommen,
wenn auch nicht zu einem Zeitpunkt, den sie gerne selber bestimmt hätte.
Also wankte Shirooka zu der spinnwebengeschmückten Wand, streckte
die Hand aus - und schoss einen glühenden Strahl in das Gemäuer.
.
Eigentlich wollte Tigris nach dem Erlebnis mit Anjul Guulin Kherem
gleich wieder verlassen, um nach Engelbert und Funatic zu suchen.
Doch dann, als sie den fast leeren Gemeinschaftsraum der Burg durchquerte,
fiel ihr Blick auf den Lageplan an der Wand, wo auch das Turmzimmer vermerkt
war, in dem sich Aévons und Rosanjins Schlafgemach befand.
Nein, sie konnte nicht gehen, ohne ihn vorher getröstet zu
haben. Inzwischen hing sie sehr an ihm.
›Mein lieber, stürmischer großer Bruder ...‹, dachte
sie zärtlich, doch die nächsten Gedanken bekümmerten sie
wieder. Wieso verstand er sich nicht mit ihrem gemeinsamen Vater? Was war
nur geschehen, dass Aévon diesen Groll gegen Procyon Zimberdale
hegte? Von niemandem bekam man eine vernünftige Antwort, nur undeutliches
Genuschel von wegen ›schwere Kindheit‹, ›seine Mutter war irgendwie nicht
so, wie eine Mutter sein sollte‹, ›musst du schon verstehen, nie war sein
Vater für ihn da.‹
Egal - Aévon benötigte anscheinend ein wenig Trost.
Und außerdem lenkte ihn vielleicht die Planung von Ilvyns Befreiung
von seinen Sorgen ab.
Der Raum befand sich ganz oben im östlichen der vier quadratischen
Türme. Tigris hatte ihn bisher nur einmal betreten, aber seine gemütliche
Ausstattung in guter Erinnerung. Er war sehr schlicht in japanischem Stil
eingerichtet. Die Wand über dem Futonbett war silbern gestrichen,
darauf große schwarze japanische Schriftzeichen gemalt. Ein einfacher,
schwarzer Kleiderschrank im japanischen Stil, ein heller Teppich mit schwarzen
großen Kissen und einem niedrigen schwarzen Tischchen - mehr stand
dort nicht.
In Guulin Kherem fand man außer nachts so gut wie nie geschlossene
Türen vor - doch an diesem Vormittag wollte Aévon offensichtlich
den Rest der Welt aussperren.
Tigris klopfte zaghaft an - niemand antwortete.
Aber er war dort drinnen, das konnte sie deutlich wahrnehmen.
Und noch einmal klopfte sie gegen das Holz und noch einmal erhielt
sie keine Antwort.
Sie gab auf und ging niedergeschlagen zu der engen Treppe. Gerade,
als sie einen Absatz hinter sich gelassen hatte, klackte es: Ein Schloss
war geöffnet worden.
Tigris drehte sich um und sah zu Aévons Tür, die nun
einen Spalt breit aufgegangen war.
Aus ihr strömten verwirrende Empfindungen auf Tigris zu.
Da waren Reste von Trauer, Verwirrung, Verzweiflung, Ablehnung -
und mittendrin, als Hauptgefühl, eine merkwürdige Abgeklärtheit,
ein entschlossener Wille, sich etwas zu stellen.
Vorsichtig betrat sie den Raum.
Aévon lag mit den Füßen zum Kopfende des Bettes
hin da und starrte die Decke an. Kein warmes Lächeln dieses Mal, kein
Knuddeln und Drücken, keine Küsschen und kein Wangenstreicheln.
Tigris setzte sich unsicher auf die Bettkante, gleich neben seine
Füße und betrachtete ihren Bruder.
Einige Minuten verstrichen, ohne dass einer von ihnen redete.
»Du hast dich wieder mit unserem Vater gestritten«,
stellte sie schließlich leise fest. Das war es - das musste es sein,
anders konnte sie sich diese negativen Gefühle, die von ihm ausgingen,
nicht erklären.
Immer noch ohne sie anzusehen, sagte er mit brüchiger Stimme:
»Wir hatten ein sehr aufschlussreiches Gespräch. Ich weiß
nicht, ob ich ihn jetzt noch mehr hasse oder beginne, ihn zu verstehen.«
»Er liebt dich, Aévon. Egal, was du denkst. Er hat
dir und mir das Leben gerettet!«
Aévons Mundwinkel zuckten, doch das bittere, verächtliche
Lächeln gelang nicht ganz. Dafür glitzerten seine Augen plötzlich,
weswegen er sie gequält schloss und sich mit beide Händen über
sein Gesicht fuhr.
Nein, das konnte Tigris nicht länger tatenlos mitansehen! Wo
war auf einmal ihr immer selbstbewusster, energischer, lebenssprühender
großer Bruder geblieben? Spontan kletterte sie auf das Bett, kuschelte
sich an ihn und küsste seine Wange.
»Oh Gott, ich ertrage das nicht«, krächzte Aévon
fassunglos, die Augen in Schmerz zusammengekniffen, aus denen mittlerweile
Tränen quollen und seine Schläfen hinunterglitten. Tigris wich
erschrocken und verletzt zurück. Ratlos und verwirrt sah sie ihn an.
»Warum habe ich das Gefühl, dass du böse auf mich
bist, Aévon?«, fragte sie dann mit zitternder Stimme. »Ich
kann mich nicht erinnern, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe, aber
wenn doch, musst du es mir sagen! Bitte!« Sie wischte sich über
die Augen, denn mittlerweile hatte sie auch schon angefangen zu weinen.
Endlich, endlich drehte er langsam den Kopf und hob die Lieder.
Seine großen, goldenen Augen erfassten ohne Umschweife die ihren.
Welch eine Qual in Aévons Blick lag! Tigris sog scharf den Atem
ein.
Seine Hand, die vor ihren Knien lag, erhob sich wie in Zeitlupe,
streckte sich aus. Ein Finger berührte ihre Wange.
Berührte eine Träne, nahm sie auf.
Als hätte er etwas Ungeheuerliches herausgefunden, das es zu
überprüfen galt, betrachtete er sie mit erstauntem Gesicht, als
sähe er sie das erste Mal.
»Die Menschen fragen sich immer, wer sie wirklich sind und
weshalb sie hier auf dieser Welt sind. Vielleicht ist es aber besser, niemals
herauszufinden, wer man wirklich ist«, murmelte er dann müde.
»Ich weiß, wer ich bin. Ich bin Tigris Aurora Windwibb«,
grummelte sie.
Er legte eine Hand auf ihre Wange, um deren Wärme nachzuspüren.
»Ja«, flüsterte er und schloss wieder seine Augen.
Dann seufzte er, was eine Woge von Erleichterung zu ihr herübertrug.
»Ja, das bist du. Wir kommen als unbeschriebene Blätter zur
Welt. Tabula rasa. Wir sind das, was unsere Erfahrungen und Erlebnisse
draufschreiben.«
Sie schniefte und wischte sich die letzten Tränenreste weg.
»Glaubst du an etwas namens Seele, Tigris?«, fragte
er ernst. »An so etwas wie Wiedergeburt?«
»Glauben ... na ja. Aber vielleicht ist es so, dass wir wiedergeboren
werden. Wieder und wieder.« Sie zuckte mit den Schultern. Wiedergeburt
... sie erinnerte sich an die merkwürdigen Bilder und Visionen, von
dem Mädchen auf der Wiese, von Barujadiel. Manchmal von Feuer und
Schreien...
Stammten diese Momentaufnahmen aus einem früheren Leben?
Sie waren so vertieft in dieses eigenartige Gespräch, dass
sie beide erschrocken die Köpfe herumrissen, als Bat Furan plötzlich
ins Zimmer gestürzt kam und vollkommen wütend rief:
»Hier sind einfach zwei Daimons hereinspaziert! Ich wollte
sie abknallen, aber Rosanjin hat es mir nicht erlaubt. Und sie wollen unbedingt
mit uns sprechen!«
»Handelt es sich etwa um Engelbert und Funatic?«, fragte
Tigris ihn ärgerlich. »Dann sind es nicht einfach zwei Daimons,
sondern Bekannte. Fang jetzt bloß auch nicht noch an, Vorurteile
zu entwickeln!«
Doch Bat Furan überging sie mit einem kurzen, bösen Blick
und fuhr fort: »Soll ich sie hinausschmeißen? Wir können
Ilvyn alleine befreien, wir brauchen sie dazu nicht.«
»Oh doch. Funatic hat ihre genauen Koordinaten mit seinem
komischen Handy herausgekriegt«, sagte Tigris unbeirrt.
In diesem Moment setzte sich Aévon mit einem Ruck auf und
schaute erstaunt zwischen ihnen hin und her.
»Oh, das weißt du noch gar nicht«, rief Tigris
und erklärte ihm hastig, was mit Ilvyn passiert war.
»Und alles nur, weil die MDL hinter Funatic und seinen blöden
Freunden her war. Stattdessen hat es Ilvyn erwischt«, schloss Bat
Furan zornig.
»Die beiden Typen wissen also, wo sie ist?«, erkundigte
sich Aévon gelassen und Tigris nickte heftig. Dann sagte er zu Bat
Furan: »Wir kommen gleich. Bringt sie in den Gemeinschaftssaal.«
»Äh ... ja, okay«, meinte Bat Furan langsam und
verschwand wieder. Die Überraschung über Aévons Entscheidung
war ihm deutlich anzusehen.
»Tabula rasa, ja«, flüsterte Aévon, wohl
mehr zu sich selber, ohne Tigris anzuschauen. »Alles ist in Ordnung.
Es gibt nichts zu befürchten.«
»Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Aévon.
Ich hoffe nur, es geht schnell vorbei«, sagte Tigris traurig.
Er wandte den Kopf und musterte sie schon wieder. »Es ist
alles in Ordnung, Tigris. Ich habe es mit mir selber geklärt. Mach
dir keine Sorgen. Wir befreien deine Freundin. Selbst wenn wir tatsächlich
auf die Hilfe von Daimons angewiesen sein sollten. Vielleicht war ich die
ganze Zeit ungerecht. Vielleicht sind sie uns wirklich sehr ähnlich.«
Sein goldener Blick steckte ganz fest in ihren Augen, als er das sagte.
»Es gibt solche und solche, wie unter uns«, antwortete
Tigris schlicht und strich unsicher die Bettdecke hier und da glatt. Aévon
verhielt sich ganz merkwürdig - sie wurde das Gefühl nicht los,
dass er aus irgendeinem Grund, den er nicht preisgeben wollte, Distanz
zwischen sich und ihr legte. Das schmerzte sie gewaltig, und doch konnte
sie im Moment nichts dagegen tun.
»Solche und solche, ja«, sinnierte Aévon weiter.
»Und sie können sich ändern, wie wir. Zum Schlechten. Oder
zum Guten. Das können sie doch, nicht wahr? Erkenntnis erlangen und
sich ändern.«
»Vielleicht. Cherubim sicher. Was den Rest anbelangt, bin
ich eher pessimistisch.«
»Wir müssen vertrauen, denke ich.«
»Ich vertraue dir, Aévon. Und was immer los ist oder
noch passiert: Vergiss nie, dass ich dich sehr liebe.« Sie senkte
den Kopf und starrte auf ihre Füße.
Plötzlich riss Aévon sie in seine Arme und drückte
sie fest an sich. Sie fühlte sein Herz rasen und seinen Körper
zittern. Er murmelte etwas, ganz leise und Tigris hoffte, dass sie sich
nur verhört hatte, denn es klang wie »... dich nicht hassen.
Ich kann ...nicht hassen... kann ihn nicht hassen ...Omrishah ... schuld.«
Dann fiel ihr plötzlich ein, was sie Aévon noch beichten
wollte. Eine gute Gelegenheit, ihn vielleicht auf andere Gedanken zu bringen.
»Ich habe übrigens etwas sehr nützliches über
mein verfluchtes Amulett herausgefunden. Und jetzt, da ich es weiß,
bin ich sehr froh, dass ich es bekommen habe.«
Sie packte ihn an den Schultern und schob ihn ein wenig von sich,
um ihn besser ansehen zu können. »Aévon, wir können
damit die geöffneten Noden wieder verschließen. Vielleicht nicht
für immer, aber immer wieder.«
Seine Augen wurden ganz groß, deutlich war ihm die ungläubige
Verblüffung anzusehen.
»Ilvyn ist irgendwo in Südamerika. Vielleicht können
wir sie befreien und dabei einen Abstecher in die Node von Azteca machen.
Umbriel würde jedenfalls ziemlich blöd aus der Wäsche schauen,
wenn dort das Jenseits-Tor wieder zuklappt. Und wer weiß ... wenn
wir dann auch noch die Noden von America Borea und Europa schließen
könnten, wäre das einfach grandios, oder nicht?«
»Das wäre es«, murmelte Aévon tonlos.
»Dann sollten wir es ausprobieren! Lass uns hinuntergehen
und planen, wie wir das anstellen könnten. Wenn Funatic und seine
tolle Widerstandsgruppe mitmachen wollen, lass sie doch.«
»Widerstandsgruppe?«, fragte er. »Wie viele Leute
haben sie denn?«
»Massen und Legionen. Insgesamt fünf, glaube ich.«
»Fünf was? Legionen?«
»Ach was, fünf ganze Daimons.« Sie verdrehte die
Augen und grinste. Und dadurch endlich meldete sich ein winziges warmes
Lächeln in seinem Gesicht wieder. Doch diese kleine Gefühlsregung
reichte ihr, um neuen Mut zu schöpfen und verbitterte, enttäuschte
Gedanken beiseite zu drängen. Sie sprang auf und sah ihn erwartungsvoll
lächelnd an.
Er schloss noch einmal kurz die Augen und atmete tief durch, genau
so, als wolle auch er düsteren Gedanken aus sich herausbefördern.
Dann erhob auch er sich.
Zusammen stiegen sie die schmale, gewundene Treppe des Turms hinunter,
Tigris voran.
»Und ... Aévon?«, sagte sie zaghaft. »Ich
möchte Staatsbürger von Guulin Kherem werden und hier wohnen.«
»Du meinst eigentlich, du willst Staatsbürger von Guulin
Kherem werden und in der Nähe von Anjul wohnen.«
Diese Behauptung ließ sie erröten.
»Wenn deine Mutter dich ziehen lässt - kein Problem.«
»Wirklich nicht?«, sagte sie überrascht. »Du
warst ja nicht so richtig dafür ...«
»Ich habe meine Überzeugungen eben ein wenig ... justiert.«
»Und das DiSMaster-Tournament, das ich dafür absolvieren
muss?«
»Ich bin sicher, das schaffst du auch. Da kannst du vielleicht
beweisen, was so in dir steckt. Ja, ich bin schon richtig gespannt, wie
du dich schlagen wirst. Wer weiß ... vielleicht überraschst
du uns alle.«
»Wohl kaum. Aber es reicht mir, wenn ich die erste Runde überstehe.«
»Wir werden sehen. Ja, wir werden sehen. Ganz sicher werden
wir staunen.«
.
Shirooka lag im nächtlichen Central Park unter einer Parkbank,
die von den Schatten der großen Bäume dahinter in beinahe absolute
Finsternis getaucht wurde.
Auf dem beleuchteten Schotterweg ein paar Meter vor ihr standen
zwölf Männer, allesamt ›Angels of Dawn, NYC‹.
Nach der geglückten Flucht durch das Loch, das sie mit DiS
in die Kellerwand geschnitten hatte, war sie zusammen mit Tristan und Rich
davon gehechtet, denn die Spießergarde sollte sie nicht alle auf
einem Haufen erwischen. Sie hatten vereinbart, sich abends im Park zu treffen,
um zu schauen, wer geschnappt worden und wer davongekommen war. Während
Tristans Bewunderung durch Shirookas neu offenbarte Talente nun endgültig
ins Grenzenlose gestiegen war, musste Rich das Ganze erst einmal verdauen.
Sie hatte sich entschieden, noch ein wenig alleine durch die Stadt zu streifen
und war gegen neun in den Park geschlichen.
Blöderweise waren plötzlich die Sittenwächter im
Park aufgetaucht und beredeten nun schon seit geschlagenen zwanzig Minuten
einen Großeinsatz, in dem eine illegale Regenbogen-Party gesprengt
werden sollte, von der sie Wind bekommen hatten.
›Als Atheist ist es schon hart in dieser Stadt. Aber als Schwuler?
Und womöglich noch als schwuler oder lesbischer Atheist...‹, dachte
sie und zuckte plötzlich zusammen, als ein stechender Schmerz ihre
Nieren durchfuhr. Außerdem fühlte sie, wie ihr ätzende
Magensäure hochkam und in ihrem Rachen brannte.
›Verdammt, nicht schon wieder. Nicht jetzt!‹, dachte sie und brach
in Angstschweiß aus.
Noch immer stand der Trupp der Spießergarde beisammen und
diskutierte über Funk die genaue Vorgehensweise.
»Wir haben soeben die Erlaubnis bekommen, härter vorzugehen«,
hörte Shirooka einen von ihnen sagen. »Besonders gegen atheistische
Gotteslästerer und gegen jeden, den wir dabei erwischen, wie er seine
teuflischen, niederen, widernatürlichen Neigungen nachgeht.«
Der Rest ging in Getuschel unter.
Sie hingegen schnappte so lautlos wie nur möglich nach Luft,
weil der Schmerz in ihr sich inzwischen wie ein riesiger Metallklotz anfühlte,
der sich langsam drehte und sich pulsierend ausdehnte. Oder wie irregewordener
Dämon, der sich in ihr wand und um sich schlug.
Die Tränen liefen ihr über ihr schweißgebadetes
Gesicht, während sie fest die Zähne zusammenbiss, um keinen Laut
von sich zu geben, der einen der Gesetzeswächter aufmerksam machen
könnte. Schließlich gab es für Herumstreunen je nach Laune
eines Sittenwächters üble Strafen.
Wann hörte der Schmerz nur auf? Und wann verschwanden die Angels
of Dawn endlich?
Zu allem Unglück hielt es ihr Abendessen - gebackene Bohnen
mit Speck - anscheinend auch nicht mehr länger im Magen aus.
Sie versuchte, dem übermächtigen Druck Stand zu halten,
der in einem drängenden Schub alles hinausbefördern wollte.
Doch vergebens.
Augenblicklich rissen die Männer die Köpfe herum, als
aus nächster Nähe ein Würgen und Röhren zu ihnen herüber
klang.
»Kümmere du dich darum, Bruder James. Es wird wohl ein
alter Säufer sein. Und frag ihn, woher sein Alkohol stammt, der ihn
in diesen erbärmlichen Zustand hat fallen lassen.«
Angewidert von ihrem Erbrochenen, das teilweise auf dem Ärmel
ihres alten Parka gelandet war, robbte Shirooka trotz des flauen Gefühls
im Magen schleunigst unter der Bank hervor, entschlossen, sich irgendwie
in die Büsche zu schlagen.
Leider waren ihre Beine ganz anderer Ansicht und knickten ein, kaum
dass sie sich erheben wollte.
Dann spürte sie auch schon den harten Griff um ihren rechten
Arm.
»Glaubst du, es würde Gott gefallen, dass ein so junges
Bürschchen wie du um diese Zeit noch im dunklen Park herumstreunt?«,
herrschte sie der Gesetzeswächter streng an. Er hielt sie also für
einen Jungen.
»Keine Ahnung, bisher hat er sich jedenfalls nicht beschwert«,
krächzte sie.
Dann kam ihr das Gesicht des Wächters ganz nah und schnupperte.
Sie hörte ihn angeekelt grunzen. Es klang unüberhörbar enttäuscht,
als der Mann dann sagte: »Hm, kein Alkohol. Was hast du hier im Park
verloren?«
»Frische Luft schnappen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben,
war mir ein wenig übel.«
»Auf wen hast du hier gewartet, hä?« Der Wächter
schüttelte sie unsanft. »Etwa auf jemanden, der dir Geld dafür
gibt, damit er seine ekelerregenden, widernatürlichen Neigungen an
dir auslässt? Komm zu dir, Junge! Ist das wirklich das Leben, das
du erhofft hast? Du kannst umkehren, jeder Zeit.«
»Wenn Sie mich loslassen, fange ich gleich damit an«,
zischte Shirooka spöttisch. In Richs Kreisen waren Verdächtigungen
wie diese schon bekannt. Jeder, der auf einer Party in Wahrheit einfach
nur tanzen und lachen wollte, war in den Augen der Spießergarde jemand,
der unbedingt an einer Sex-Orgie teilnehmen wollte. Jeder, der nach Beginn
der Sperrstunde alleine und eilig durch die Schluchten New Yorks hastete,
wurde verdächtigt, Ehebruch begangen zu haben. Merkwürdigerweise
hatte für die Angels of Empire so ziemlich alles mit Sex und verbotenen
Neigungen zu tun.
Allerdings sah es für Shirooka nicht gut aus, wenn der Wächter
sie tatsächlich für einen Stricher hielt. Es war schon öde
genug im Waisenhaus gewesen, aber da hatte man wenigstens abends heimlich
abhauen können. Hingegen in den neugegründeten ›Schulen der Göttlichen
Gnade‹ weitab vom Schuss im Bible Belt...
Sie überlegte, ob sie den Typen einfach einen gewaltigen Whisper
zukommen lassen sollte, der sie in das nächste Café gehen hieß.
Jedoch trugen sie alle Waffen und sie verspürte keine Lust, von einer
in Panik abgeschossenen Kugel verletzt oder sogar getötet zu werden.
Daher entschied sie sich, es zunächst mit Kommunikation zu versuchen.
»Ich wollte mit einem Kumpel CDs tauschen. Aber er ist nicht
gekommen«, log sie deswegen schnell.
Doch der Wächter war nicht überzeugt. Er zerrte das vermeintliche
Bürschlein fort aus der Dunkelheit auf den beleuchteten Weg, wo auch
die anderen der Spießergarde standen.
»Er wollte nur eine CD tauschen. Im Park. Um diese Uhrzeit.«
Alle Augen richteten sich auf den kräftig aussehenden Jungen
mit den grünsten Augen, die man sich vorstellen konnte. Die ketchuproten,
kurzen Haare waren zerzaust, seine Jacke sah abgenutzt aus. Dennoch wirkte
er nicht im geringsten so verloren oder heruntergekommen, wie der eine
oder andere Angel of Dawn Strichjungen in Erinnerung hatte.
»Gott möge seiner armen, missbrauchten Seele gnädig
sein«, murmelten einige Wächter dennoch betont schockiert und
angewidert zugleich. »Komm zurück ins Licht, zu Gott dem Herrn!«
»Er nimmt Heroin, seht euch diese Blässe und diese Augenringe
an.«
»Ich nehme kein Heroin, verdammt!«, schrie Shirooka
ihn an und versuchte sich aus dem eisernen Griff zu entwinden. Sie war
nun doch entschlossen, die ganze Angelegenheit mit einem Whisper zu beenden,
aber dazu brauchte sie frei bewegliche Hände. Und außerdem wollte
sich ihre angestaute Wut, die sich den ganzen Tag über in ihr angesammelt
hatte, endlich Gehör verschaffen. Eigentlich unklug - aber manchmal
ging das Temperament einfach mit ihr durch. »Und nur wegen euch verfluchten
Fanatikern muss man Schleichwege durch den Park nehmen, damit man wenigstens
ein paar Stunden was anderes hört als stinklangweilige Predigten und
scheinheilige Liedchen.«
»Es reicht, Junge«, bellte der Wächter streng,
der sie gefangen genommen hatte. »Gott wird dir wegen deines Alters
und deiner Torheit diese Worte bestimmt verzeihen, doch wir sind verpflichtet,
dafür zu sorgen, dass du wieder auf den rechten Weg kommst. Ich bringe
dich zu einem unserer Quartiere. Morgen holt dich ein Bus ab, der dich
zu einem besseren Ort bringt.«
Sie verdrehte entnervt die Augen. Sie war fuchsteufelswild, gleichzeitig
bereute sie jedoch, nicht wenigstens ein kleines bisschen bei der Spießergarde
geschleimt und den reumütig zerknirschten Sünder gegeben zu haben.
Aber das lag ihr eben nicht, und nun musste sie sehen, wie sie da
herauskam.
Ihr persönlicher Geleitschutz setzte sich bereits in Bewegung.
Etwas Kaltes legte sich um ihre Handgelenke, dann schnappte Metall zusammen.
»Es ist nur zu deinem Besten, du wirst schon sehen. Später
wirst du Dem Herrn und uns dankbar dafür sein, glaube es mir.«
Handschellen, die ihr vollends die Bewegungsfreiheit nahmen.
Zitternd vor unterdrückter Wut, trottete sie neben dem Wächter
her, während die anderen Angels of Dawn sich anscheinend anschickten,
endlich zu ihrem Einsatzort zu gehen.
Gleich, bei der nächsten Gelegenheit, wollte sie versuchen,
die Handschellen mit DiS loszuwerden und ihren Bewacher ins Reich der Träume
zu verfrachten.
Ein paar Meter, nachdem der Weg eine Kurve beschrieben hatte, hörte
Shirooka es mit einem Mal aufrauschen, als ob ein plötzlicher, heftiger
Windstoß durch die Bäume fuhr.
Doch die schattenvollen Wipfel bewegten sich keinen Deut.
Dafür kam jedoch aus dem Nichts ohne Vorwarnung etwas herangeschossen
und riss sie als auch ihren Bewacher zu Boden.
»Oh, Pardon! Ist das hier Seychellen?«
Ein dicklicher Kerl lag quer auf ihr und dem Wächter. Er hatte
bunte Dreadlocks und merkwürdig gelb glühende Augen.
›Ein Daimon! Wo kommt der denn so plötzlich her?‹, fuhr es
ihr durch den Kopf.
Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als der Wächter ihn
ärgerlich von sich herunterschubste. Dann blaffte der Angel of Dawn
etwas von Verstärkung in sein Funkgerät.
Der Bursche mit den Dreadlocks rappelte sich auf, hob einen großen
Koffer vom Boden auf und schaute sich ziemlich neugierig, ja, sogar regelrecht
begeistert um.
»Stehen bleiben. Den Koffer aufmachen!«, brüllten
zwei Wächter, die schon aus der Kurve gerannt kamen.
»Ach nee, lass mal, Mensch. Bin eh schon spät dran«,
lachte der sehr jung aussehende Fremde und entblößte dabei Zähne
mit phosphorisierenden Mustern darauf. Dann wandte er sich um und wollte
gehen, was jedoch sofort von den beiden dazugekommenen Wächtern vereitelt
wurde. Sie warfen ihn zu Boden und legten ihm Handschellen an.
»Toll. Ich fühle mich gleich wie zuhause, obwohl ich
das erste Mal auf diesem Planeten bin.« Der Dreadlock stieß
ein fröhliches Seufzen aus. »Ist das die übliche Begrüßung
der Eingeborenen hier in Seychellen?«
»Wir sind nicht auf den Seychellen«, knurrte Shirooka
finster. »Wir sind in den Ex-USA.«
Währenddessen machten sich die Wächter an dem Koffer des
Daimons zu schaffen, was sich jedoch rasch als vergebliche Mühe herausstellte.
»Was ist in dem Koffer? Drogen, nicht wahr? Drogen und Pornographie!«
»Nein, tut mir leid für euch. Hätte ich gewusst,
wie scharf ihr auf so etwas seid, hätte ich derartiges natürlich
eingepackt. Es sind nur ein paar unserer Erfindungen. BoomeRAMs, Supermultifunktionale
Handys, Aura-Imitatoren, ein Angoleah-Frühwarnsystem. Schnickschnack
und Spielereien eben.« Der Dreadlock grinste zu ihnen herüber.
Dann sah er zu Shirooka auf. »Also nicht Seychellen. Tja, ich habe
anscheinend mein BoomeRAM falsch justiert. Aber hier ist doch der Planet
Erde, oder nicht?«
»Ja, sieht ganz danach aus, auch wenn ich an diesem Ort denke,
ich sei in irgendeinem ätzenden Matrix-Traum gefangen. 1984 reloaded«,
knurrte Shirooka.
»Hmm, da hatte Omri wohl einen Zahlendreher in den Koordinaten.«
Und dann, als seien die Handschellen aus Butter, zerriss er sie und langte
einfach mit der Hand in seine Hosentasche, um ein extrem flaches Handy
heraus zu holen.
.
Die Tatsache, dass Aévon seelenruhig den Ausführungen
der beiden Daimons vor ihm zuhörte, sorgte für eine kleine Sensation
unter den DiSMasters und denjenigen, die es noch werden wollten.
Überhaupt merkten viele, dass irgendetwas mit ihrem Anführer
los war. Er war ungewohnt ruhig und regte sich nicht im mindesten über
die Cherubim auf. Er ließ sich sogar von Funatic das Handy reichen
und inspizierte es aufmerksam.
»Wenn die Kleine das Handy noch immer hat, kann sie für
uns die Gegend scannen und uns schreiben, wie viele MDL-Söldner oder
sogar Melegonin sich dort herumtreiben«, erklärte Funatic stolz.
»Interessant«, sagte Aévon mit erhobener Braue.
»Und sehr nützlich. Wozu ist das Teil noch imstande?«
»Namensspeicher für eine Million Einträge, empfängt
irdische Netze als auch jene aus der Daimonsion, was man allerdings ohne
weiteres abschalten kann. In letzter Zeit schießen dort die Callcenter
aus den DiS-Wolken und man bekommt ziemlich lästige, zeitraubende
Anrufe. Einer hat mich eine ganze Woche in irdischer Zeitrechnung gekostet!«
Tigris schmunzelte und schielte zu Anjul herüber, der jedoch
nur sehr aufmerksam und mit undeutbarem, regungslosem Gesichtsausdruck
der Unterredung zuschaute und Funatic nicht eine Sekunde aus den Augen
ließ.
»Dann haben wir für unsere Mission tausende von Stadtplänen
und Landkarten eingespeichert, sowie einen Shine-Abtaster.«
»Shine-Abtaster? Willst du die Seher arbeitslos machen?«,
fragte Rosanjin belustigt.
»Nein«, antwortete Engelbert grinsend, »aber einen
Seher kann man nicht unbedingt zuklappen, in die Hosentasche stecken und
wegrennen, wenn es brenzlig wird.«
»Auch wieder wahr«, pflichtete Aévon bei. »Als
erstes müssen wir also unbedingt die Situation auskundschaften. Ohne
genaue Information geht gar nichts. Und ich will mich persönlich nicht
darauf verlassen, was mir das Ding als Tatsache vorgibt. Außerdem
kommen mir die besten Ideen, wenn ich die Situation vor Ort mit eigenen
Augen gesehen habe.«
»Verselbstständlich«, stimmte Funatic zu. »Ich
hoffe, LogaShocc kommt bald. Er hat noch viel mehr nützliche Spielereien
dabei, die wir bei diesem Einsatz gerne verköstigen würden. Wenn
sie funktionieren, wollen wir sie in Massen nachbauen. Die tragbare 0-DiS-Zone
jedenfalls hat hervorragende Dienste geleistet, frag ihn dort.« Er
wies mit dem Kinn auf Bat Furan, der jedoch genervt den Kopf abwandte.
Ilvyn gefangen und womöglich in Todesgefahr, nicht die kleinste Spur
von Shirooka - es war zum Verrücktwerden!
»Solange ihr uns dabei nicht in die Luft sprengt oder uns
irgendwie in Gefahr bringt, von mir aus«, brummte Aévon und
drückte interessiert auf den Tasten des Handys herum, während
Rosanjin über seine Schulter hinweg aufs Display schaute. »Tatsächlich,
der Umgebungs-Scanner scheint zu funktionieren«, sagte dieser begeistert
und las vor, was auf dem Display stand. »102 UNKNOWN XENDII, 2 KNOWN
CHERUBIM FUNATIC AND ENGELBERT, 1 ELOYAH-« Er verstummte augenblicklich
und starrte die beiden Daimons mit großen Augen an.
»Eloyah? Das kann doch gar nicht sein«, grummelte Funatic
und beäugte befremdet das Display. »Ts, jetzt sind es schon
2 ELOYAH. Und jetzt wieder nur 1 ELOYAH und 1 UKNOWN SHINN. Und jetzt 1
UNKOWN ZERRAFIN, 1 UNKNOWN SHINN. Und wieder 2 ELOYAH. Nun ja, es sind
Prototypen.« Er schüttelte das Handy ein wenig. »Na bitte,
geht doch«, brummte er schließlich erleichtert. »104
UNKNOWN XENDII, 2 KNOWN CHERUBIM FUNATIC AND ENGELBERT.«
Der anfängliche Schock bei den jungen Xendii löste sich
in Gelächter auf - bis auf Aévon, der sich mit ruhigem Gesicht
zurücklehnte, den Blick nach innen gekehrt, auf seine Gedanken gerichtet.
Er war derart gedankenversunken, dass er das tiefe Rauschen nicht wahrnahm,
das alle anderen schlagartig verstummen ließ.
»Oh, endlich! Cynful ist im Anflug!«, bemerkte Funatic
nach einem kurzen Blick auf sein Handy.
»Soll das heißen, jetzt schwirren einfach so noch mehr
von deiner Sorte an?«, rief Bat Furan entsetzt.
»Beeindruckend. Du hast es durch eigenes Nachdenken selber
herausgefunden: Ja.«
Da kam auch schon etwas dunkles im Tarnanzug aus dem Nichts durch
den Raum geflogen, hielt zielsicher auf den grübelnden Aévon
zu - und kickte ihn bei der Landung von seinem Platz. Dieser reagierte
erst da und sprang sofort fuchsteufelswild auf die Füße, um
den neu eingeflogenen Daimon finster anzufunkeln.
»Hallo, Cynful. Du hast wohl den Höhenmesser falsch programmiert.
Oder auch gar nicht«, begrüßte Funatic den Neuzugang fröhlich.
Für die Inkarnation hatte sich Cynful eine weibliche, dunkelhäutige
Menschengestalt ausgesucht. In ihrem äthiopisch anmutenden Gesicht
glühten pechschwarze große Augen - und das Glühen war durchaus
wörtlich zu nehmen, denn je nachdem wie das Licht der zahlreichen
Kerzen darauf strahlte, leuchtete ihre Iris in einem satten, tiefroten
Ton. Zudem hatte sie lange, schwarze Rastazöpfe, darauf ein Soldatenkäppi,
passend zu ihrer militärischen Bekleidung mit den glänzend polierten
Springerstiefeln.
»Hallo, Funatic, hallo Anwesende. Keine Zeit für solche
Feinheiten, wir können von Glück sagen, dass wir durchgekommen
sind. Es sind riesige Truppenbewegungen in Richtung der zwölf Durchgänge
zu dieser Welt im Gange. Sind LogaShocc und Aristotalis schon da? Und wo
ist eigentlich Dr. Flamorcan abgeblieben, wir sind doch zusammen geflüchtet?«
»Dr. Flamorcan? Mein alter Vertrauensprofessor auf der Takran?«,
murmelte Engelbert ungläubig.
»LogaShocc ist eine Ecke weiter von hier, er kommt später«,
antwortete Funatic. »Aber über Aristotalis und den Doktor weiß
ich nichts.«
»Ah, wie ich sehe, hast du bereits eine revolutionäre
Zelle gegründet!«, rief Cynful hocherfreut und marschierte an
den ungläubig stierenden Xendii entlang, um sie zu inspizieren. »Ich
bin Cynful von DiSfunx L., oder was davon übrig ist«, stellte
sie sich vor und wippte mit hinter dem Rücken verschränkten Händen
auf und ab. »Welche Aktivitäten der MDL habt ihr bisher verzeichnet?«
»Im Moment haben wir andere Pläne«, antwortete
Aévon kalt und postierte sich herausfordernd vor Cynfuls Nase. »By
the way: Das hier ist meine revolutionäre Zelle. Wer mit uns zusammenarbeiten
möchte, sollte seine Chef-Allüren an der Garderobe abgeben. Ich
befehle hier.«
»Meinetwegen.« Cynful zuckte mit den Schultern. »Falls
du nur dadurch deine Komplexe kompensieren kannst, soll es mir recht sein.
Hauptsache, wir arbeiten effizient und vorallem gemeinsam.«
»Wir werden sehen, ob so etwas überhaupt möglich
ist«, grummelte Aévon düster.
»Funatic, kläre mich über das aktuelle Projekt auf!«,
verlangte Cynful und wandte sich mit erwartungsvoll erhobenen Brauen an
ihren Mitstreiter.
»Ein Mitglied der, äh«, Funatic nahm unwillkürlich
Haltung an, »unserer revolutionären Zelle wurde von der MDL
gefangengenommen und wird unweit von hier festgehalten. Einen Tausch gegen
alle Mitglieder von DiSfunx L. wurde von unserer Seite abgelehnt!«
»Na, das ist doch großartig!«, rief Cynful begeistert
und marschierte wieder mit hinter dem Rücken verschränkten Händen
an ihnen auf und ab, wobei sie gar nicht merkte, wie Bat Furan sich voller
Wut auf sie stürzen wollte, jedoch von Ras Algheti und Darius zurückgehalten
wurde. Großartig!
»Dann mal los! Was haben wir an Informationen? Wo? Wieviele
MDL-Söldner? Sind Melegonin dabei? Wer unterstützt uns? Gibt
es sonstige anti-imperialistische Untergrundbewegungen auf diesem Planeten?«
»Wir haben die Koordinaten der Gefangenen!«, warf Funatic
strahlend ein, glücklich darüber, wenigstens etwas Wichtiges
beitragen zu können.
»Sehr gut! Als nächstes werden wir die Gegend dort auskundschaften,
um die Stärke des Feindes einschätzen zu können. Wer geht
mit mir?« Sie sah in die Runde. Bat Furans Hand schnellte augenblicklich
empor, wobei er Cynful mißtrauisch und entschlossen zugleich ansah.
»Ich gehe mit dir, Bat Furan und Rosanjin«, entschied
Aévon mit ruhiger Stimme, was die DiSMasters und ihre Schüler
erstaunte. Normalerweise ließ er sich nicht tatenlos in die Parade
fahren. »Wir können morgen früh aufbrechen.«
»Wir können aber auch sofort aufbrechen!«, widersprach
Cynful. »Der Feind schläft nicht, wir haben keine Zeit zu verlieren!«
»Du kannst es wohl kaum erwarten, den Arsch voll zu kriegen,
was?«, fragte Aévon Cynful amüsiert.
»Nein, du etwa?«
.
»Um Gottes ...«, entfuhr es einem Wächter, als er
den Gefangenen mit dem Handy hantieren sah. »Das ist Widerstand gegen
Gottes Gesetz! Gib uns sofort deinen Schlüssel für die Handschellen!«
»Entschuldigung, aber ich muss ein dringendes Gespräch
führen«, antwortete der Fremde freundlich, ohne sich jedoch
in seinem Tun stören zu lassen. Daraufhin wurde ihm das Handy wutentbrannt
aus den Händen gerissen und ein Stiefel trat auf seinen Nacken.
Wieder seufzte er zutiefst verständnisvoll. »Ja, ich
weiß, jeder will unbedingt ein umgebautes Handy aus dem Hause DiSfunx
L haben. Hey, bitte nur dieses eine Telefonat. Dafür besorge ich dir
auch einen supergünstigen Vertrag mit DaimoCom, 500.000 Freistunden
inklusive. Ich habe die Connections, Mensch.«
»Das Handy ist beschlagnahmt. Wir werden alle deine Dealer
erwischen!«
»Unsere Dealer? Wir vertickern unser Zeug doch nicht an jeden!
Ich bin in geheimer Mission hier. Wir bauen den Widerstand auf.«
»Du gibst also zu, der Feind Gottes und der Feind seines Reiches
zu sein!«, rief einer der Wächter und zog urplötzlich eine
Waffe, die er voller Hass auf den Dreadlock-Jungen richtete.
»Du schwafelst daher wie unsere allseits beliebten Zerrafin.
Die machen auch alles platt, was nicht im Einklang mit ihrem tollen Buch
steht. Hier ist es ja wirklich echt so mies wie bei uns mittlerweile.«
Er verzog resigniert den Mund. Plötzlich riss er die Augen auf. »Hey,
gehört ihr etwa zu diesem Scharfmacher Umbriel? Reich der Gehetzten
Lämmer, oder so? Endzeit, Armageddon, das Jüngste Gericht, Apocalypse
Now?«
»Gottes Strafe für die Sünden, die die Menschen
begangen haben, steht unmittelbar hervor«, orakelte einer der Wächter
in erhaben-düsterem Prophezeiungs-Tonfall.
»Na sowas. Typisch Gott: Funzt es nicht, kommt es in den Müll.
Nie kriegt er’s so hin, wie er es sich gedacht hat.«
Die Wächter verstummten alle und sahen ihn mit großen,
entgeistert stierenden Augen an.
»Für diese Gotteslästerung darf ich dich töten«,
murmelte Shirookas Wächter mit kältestem Hass in der Stimme.
»Wieso, ich hab doch gar nichts gegen dich gesagt. Oder bist
du zufälligerweise Gott?«, erwiderte der Fremde erstaunt. Shirooka
starrte ihn ebenfalls an, doch eher amüsiert. Die Angels of Dawn waren
kurz davor, ihn umzubringen und er zeigte nicht die geringste Spur von
Angst. Im Gegenteil. Unbeeindruckt fuhr er fort: »Und wenn Gott sich
von mir beleidigt fühlt, kann er doch augenblicklich einen Stein vom
Himmel fallen lassen, oder was auch immer. Wieso müssen das immer
andere für ihn erledigen? Er ist doch allmächtig, oder nicht?
Ah, ich weiß: Ihr traut Gott nicht, seine Rache lässt immer
so auf sich warten, nicht wahr?«
»Schweig sofort. Der Satan spricht durch dich!«
»Ach was, das mache ich ganz alleine, ist ja auch eigentlich
nicht so schwer, denken und sprechen. Es gibt außerdem keine Engel
oder Teufel. Nur Daimons. Hat dir das noch keiner erzählt? Nur Daimons,
wie ich einer bin.«
Die Angels of Dawn schnappten nach Luft. Die Pistole, die auf den
Fremden gerichtet war, begann zu zittern.
»Im Namen des Herrn, Unseres Gottes, seiner Engel und seiner
Propheten: Weiche von uns, Dämon!«, riefen alle drei Wächter
zusammen und zogen voller Panik ihre Ketten aus den Uniformjacken, an denen
geflügelte Schwerter und Kreuze baumelten.
»Ach, wisst ihr ...«, meinte der Daimon freundlich und
scharrte gespielt verlegen mit dem Fuß. »Ihr dürft gerne
zuerst weichen. Solange und soweit ihr wollt.«
»Im Namen des Herrn, Unseres Gottes, seiner Engel und seiner
Propheten: Weiche von uns, Dämon! Die Kraft und die Herrlichkeit Gottes
bezwingen deine finstere Seele und deine lästerlichen Reden!«
Langsam taten sie einen Schritt nach hinten - außer Shirooka, die
bockte.
»Oh, da will ja einer tatsächlich vor euch weichen. Was
hast du ausgefressen, Kleines? Zuviel mit DiS herumgespielt?«, fragte
der Daimon und hob interessiert seine orangerote Braue, in die hübsche
Muster einrasiert waren.
Dann seufzte er gespielt und meinte bescheiden: »Na gut, wenn
ihr unbedingt wollt, dann weiche ich halt so ein bisschen zurück,
wie in diesen trashigen Actionfilmen von Pepp Ressi Productions.«
Er hob abwehrend die Hand und setzte ein furchterfülltes Gesicht
auf. »Kreuze und Halbmonde waren ja schon schrrrröcklich genug,
aber jetzt auch noch das Schwert mit Geierflügeln! Neiiin, ich bin
machtlos gegen soviel in Silber gegossenen Aberglauben!«
Aus der Gesäßtasche seiner schlabberigen Jeans zog er
einen silbernen Boomerang und tippte mit den Fingern darüber. Dann
streckte er die Hand aus und angelte sich mit einem Slave sein Handy, das
eben noch krampfhaft von einem der Wächter festgehalten worden war.
Augenblicklich schrieen die Menschen auf. Die Wächter flohen, die
Gesichter von Grauen gezeichnet. Als ihr Wächter lossprintete, schubste
er Shirooka dabei um.
»Das nenne ich zurückweichen, aber hallo.« Der
Daimon pfiff anerkennend durch die Zähne.
Shirooka rappelte sich auf und rieb ihre schmerzendes Handgelenk,
die sie von den Handschellen befreit hatte, während sie dem davonjagenden
Angel of Dawn grinsend hinterher sah.
Dann maß sie den Daimon mit den Dreadlocks spöttisch
von oben bis unten ab.
»Tolle Show, Spinner.«
Es raschelte im Gebüsch und zum allgemeinen Erstaunen trat
Rich daraus hervor.
Unsicher sah er sowohl Shirooka als auch LogaShocc an.
»Hi.« Er hob entschuldigend grinsend die Hand. »Verdammte
Angels, was?« Er wies unsicher lächelnd in die Richtung, in
der die Sittenwächter entschwunden waren. Dann kam er näher,
zwar nicht viel, aber genug, um guten Willen zu bekunden.
»Gute Idee, das mit dem Dämonen. Dein Freund, Shirooka?
Ein Xendi, nehme ich an.«
»Du hältst mich echt für einen Xendi?« Der
junge Fremde sah ihn zunächst ungläubig, gleich darauf jedoch
hocherfreut an. »Ich wusste, dass mein Style perfekt für diese
Welt ist!«, frohlockte er dann und vollführte eine kleine Breakdance-Einlage.
»Die Gargoyles waren Dämonen, du doch nicht«, widersprach
der Junge.
»Gargoyles?« Der Dreadlock hielt inne und überlegte.
»Ach, dann bin ich nicht in Seychellen, sondern in New York gelandet,
was? Hier gab es doch kürzlich eine Show mit Engeln und dem ganzen
Kitsch?«
Rich nickte stumm.
»Aha. Ist es weit bis nach Seychellen?«
»Wenn man kein Flugzeug unterm Arsch hat oder ein Tor vor
der Nase, schon. Das liegt auf der anderen Seite der Welt, irgendwo im
Indischen Ozean, glaube ich«, meinte Shirooka ungeduldig und verschränkte
die Arme. Ärgerlich, wirklich überaus ärgerlich, von einem
verdammten, irren Daimon gerettet worden zu sein.
»Also um die Ecke, wenn man ein BoomeRAM in der Hand hat.«
Er hob das Boomerang in die Höhe.
»Du bist wirklich ein Dämon?«, wollte Rich wissen,
in dessen Gesicht Furcht und Faszination miteinander rangen.
»Nein, ich bin ein D.A.I.M.O.N., ein DiS-Being able to influence
material order and norm, aus der Daimonsion. Es gibt keine Engel oder Teufel,
oder Dämonen. Sagte ich das nicht bereits?«
»Warum sollte ich dir glauben?«, erkundigte sich Rich
vorsichtig.
»Brauchst du doch gar nicht. Glaub doch weiter an den alten
Lügenkram, wenn du es nötig hast.«
»Und was willst du hier auf unserer Welt?«
»Na, einem alten Kumpel einen Gefallen tun und eine Widerstandsgruppe
aufbauen.«
»Ich bin auch im Widerstand«, bemerkte Rich scheu.
»Das ist ja unglaublich! Ein Kollege! My Five!« Der
Daimon strahlte über das ganze Gesicht und hielt dem Jungen seine
Hand zum Abklatschen hin; ein Angebot, das noch ein wenig zurückhaltend
wahrgenommen wurde. »Wie heißt du?«
»Rich, und du?«
»LogaShocc. Ist natürlich nicht mein richtiger Name,
aber dafür habe ich ihn selbst erfunden. Wie nennt sich eure Widerstandsgruppe?«
»Dawnkeepers«, meinte Rich und lächelte.
»Ich bin von DiSfunx L, eigentlich heißt es DiSfunctional
Laboratories. Meine Kumpels kommen hoffentlich bald nach, wir werden in
der Daimonsion nämlich ziemlich krass verfolgt und müssen abtauchen«,
erzählte LogaShocc seelenruhig. »Hey, ich kann dir jede Menge
nützliche Sachen klar machen. Wir erfinden und bauen sie selber. Zum
Beispiel so ein BoomeRAM, eine Art tragbares Tor. Der Vorteil unserer RAMs
ist, dass sie dir hinterher fliegen und auf dich oder eine bestimmte Personengruppe
fixiert sind. Die alten Dinger muss man ja zurücklassen, wenn man
das Tor passiert und jeder dümmste MDL-Schnüffler kann dich durch
das Tor verfolgen. Damit ist bei den BoomeRAMs Schluss! Und das Beste ist:
Es arbeitet mit Koordinaten, weswegen du überall hin kannst. Man braucht
kein Gegentor mehr.«
Rich kapierte offensichtlich nicht das Geringste von dem, was der
Daimon da erzählte, schien jedoch vor allem von dem BoomeRAM sehr
angetan zu sein.
»Jetzt reicht’s aber, Daimon«, schritt Shirooka ein.
»Wir sind dir dankbar, dass du diese Moralinratten davongescheucht
hat, aber sicher hast du jede Menge zu tun, so als Widerstandskämpfer.«
»Klingt toll, was du da sagst«, meinte Rich versonnen.
»Aber wir sind keine Xendii, nur stinknormale Menschen.«
»Na und? Ich bin auch nur ein ganz stinknormaler Cherub. Vielleicht
hochintelligent und erfinderisch, aber eben nur ein Cherub. Ich stehe zu
dem, was ich bin.«
»Du willst doch nicht im Ernst einem Daimon vertrauen? Er
arbeitet garantiert mit Umbriel zusammen und will sich als Spitzel bei
euch einschleichen!«, regte sich Shirooka auf.
»Wir vertrauen bereits mehr oder weniger einem Xendi. Oder
auch dir, Shirooka«, erklärte Rich ernst. »Wenn er uns
helfen kann - und es sieht ganz so aus, denn woher sollte er wissen, dass
wir uns heute Abend hier herumtreiben? Unsere Bewegung könnte einen
ganz neuen Schwung bekommen, alleine durch diese Dinger, mit denen man
einfach verschwinden oder kommen kann, wie man will. Warum sollen wir die
Möglichkeiten, die ihr Xendii habt, nicht auch nutzen, einige zumindest?«
»Um ein BoomeRAM zu benutzen, muss man wirklich kein Xendi
sein«, erklärte LogaShocc sanft. »Du tippst nur die Koordinaten
ein und tschüss!«
»Und damit kann man wirklich überall hin?«, erkundigte
sich Rich vollkommen begeistert.
»Jah.«
»Können wir damit zum Beispiel auch in die East 64th?«
»Ist das eine Bar?«
»Nein, eine Straße hier in New York.«
»Klar, ich habe so ziemlich alle Stadtpläne dieses Planeten
in meinem Handy gespeichert. Eigentlich ist es mehr als ein Handy. Es ist
ein Computer, ein Telefon, ein Radar und noch viel mehr. In zwei Sekunden
spuckt es die Koordinaten aus. Darf ich fragen, was es in der East 64th
gibt?«
»Die Regenbogen-Party findet dort statt. Von ihr hat die Spießergarde
doch die ganze Zeit geredet.«
»Ihr habt nicht zufällig etwas namens Cola dort rumstehen?«
»Zufällig schon. Es ist in einer Bar, die geschlossen
wurde. Es wäre gut, wenn wir die Leute dort warnen können und
dann wieder hierher zurückkommen.«
Der Daimon seufzte glücklich. »Ich glaube, dies ist der
Beginn einer wundervollen Freundschaft.«
»Ich hasse Daimons«, erklärte Shirooka hingegen
mit verschränkten Armen, doch bereits ziemlich resigniert.
»Wie blöd von euch. Dabei kommt ihr nur aus der Sache
heraus, wenn alle zusammenhalten«, meinte LogaShocc jedoch nur freundlich.
»Welche Sache? Umbriels Reich?« Sie lachte höhnisch
auf. »Umbriel ist doch selber ein Xendi und arbeitet sehr gut mit
euch Daimons zusammen.«
»Wenn Umbriel euer einziges Problem wäre! Hier laufen
die Dinger aus dem Ruder und ein paar ziemlich geisteskranke Daimons haben
vor, eine rauschende Party zu feiern. Nur dass es danach nicht mehr viele
Menschen geben wird, die den Dreck wegräumen können. Und es wird
ziemlich viel zu Bruch gehen, das kann ich dir schwören.«
»Und wieso wollen uns andere Daimons helfen? Das ist doch
nicht eure Welt...« Rich sah LogaShocc mit erneut aufflammendem Misstrauen
an.
»Klar, könnten wir uns zurücklehnen, mit den Schultern
zucken und uns die Erde am Arsch vorbeiziehen lassen«, sagte LogaShocc
und blinzelte ihn mit scheuem Lächeln an. »Doch stellt euch
vor: Es gibt Daimons, die mögen euch und eure Welt. Und wir mögen
den Gedanken an Frieden, an Spaß und an Gerechtigkeit. Außerdem
mögen wir diese vernagelten Daimons auch nicht, sie bauen nichts als
Scheiße in der Daimonsion. Wir haben uns das lange genug gefallen
lassen. Immer mehr Daimons haben keine Lust mehr auf arrogante Typen über
ihnen, die bestimmen wollen, wie sie zu leben haben und die in ihnen nichts
als unwichtiges, lästiges Ungeziefer sehen, gut genug dafür,
ihnen Black DiS zu beschaffen oder ihr Leben in beknackten Kriegen explodieren
zu lassen.«
»Das denke ich auch!«, rief Rich leidenschaftlich.
»Eben. Ein einzelner kleiner Mensch wie du, ein einzelner
Xendi hier und da, ein einzelner unbedeutender - wenn auch superintelligenter
- Cherub wie ich ... wir sind machtlos, denn unsere Feinde sind anscheinend
stärker, mächtiger. Aber wir sind ihnen dennoch überlegen,
wenn wir alle zusammenhalten. Und weißt du, wieso?«
Rich zuckte mit den Schultern und Shirooka ertappte sich dabei,
wie sie es ihm nachtat.
LogaShocc hingegen lächelte. »Weil wir zusammengenommen
in der Überzahl sind. Millionen und Milliarden von Menschen, Xendii
und Cherubim, gegen ein paar größenwahnsinnige, gestörte,
psychisch kranke Typen voller Komplexe und ungelöster Kindheitstraumata.
Und DiSfunx L hat nichts geringeres vor, als diese Millionen zusammenzubringen.
Dieser Planet hat für mich und meine Kumpels Symbolbedeutung, weißt
du. Hier hat es angefangen, hier entstand die Idee, dass ein anderes Leben
möglich ist. Und das beste ist: Es waren ausgerechnet zwei Typen aus
der Riege der hohen Angoleah-Daimons, die das erkannt und umgesetzt haben.«
»Und wer genau?«
»Das weiß niemand mehr. Manche halten es nur für
eine Legende, manche behaupten, es sei nichts als die reine Wahrheit. Eine
Wahrheit, die lange Zeit vertuscht, verwässert und weggeschlossen
wurde. Aber wir haben alte Aufzeichnungen entdeckt und wir haben Ungereimtheiten
in den aktuellen Archiven gefunden. Mann, ich sage dir, wir Daimons wurden
lange Zeit echt verarscht und belogen, genau wie ihr Menschen übrigens.
Doch es wird alles herauskommen, wie es wirklich war. Vergiss alles, was
du jemals über tolle, milde Engel gehört hast, oder über
ewig böse Teufel. Alles Schrott, wie ihre Gesetze und Ideen.«
LogaShocc tippte noch etwas in sein Handy, dann nahm er den BoomeRAM, tippte
dort ebenfalls etwas ein und warf es mit wenig Schwung von sich.
Es ertönte wieder ein plötzliches tiefes Rauschen, dann
sah Shirooka eine wabernde Fata Morgana vor sich. Unscharf waren darin
ein einsamer, schwach beleuchteter Straßenzug zu sehen.
»So, endlich kann ich dieses Cola probieren. Alle Daimons
schwärmen mir andauernd davon vor.«
Dann knuffte er Rich in die Seite, legte ganz selbstverständlich
eine Arm um ihn und dirigierte ihn in Richtung des Tores. Dabei plauderte
er munter weiter. Shirooka folgte ihnen wutschäumend, aber machtlos.
»Hey, ich mag deine Welt, Rich. Ist wirklich ziemlich berühmt,
dieser Planet. Deswegen kommen ja auch all die Touristen aus der Daimonsion
hierher. Und wenn wir die MDL und diesen Umbriel erst einmal erledigt haben,
wird das ein wirklich cooler Ort. Und zwar auch richtig zum leben und anfassen,
nicht nur in unseren Herzen.«
© I.S.
Alaxa
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
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