Das Geheimnis des Zeng von Dagmar Scheider und Beate Sass 
Brief 4: Begegnung im Wald

Lieber Verus !

Dank dir für deinen ausführlichen Brief. Dank dir für dein Mitgefühl, für dein Hilfsangebot und den Bericht über den Fortgang deiner Arbeiten. Wie aufregend! Wie verwünsche ich mein Geschick, hier wie ein Gefangener leben zu müssen. Zu gerne wäre ich bei dir. Zu gerne würde ich mit eigenen Augen sehen...! Aber du schätzt Rhadun richtig ein, er wird mich niemals freiwillig gehen lassen!
Ein wenig ängstigt mich dein Bericht. Mit diesem Brief werde ich einen Beutel mit Wohlkraut mitschicken. Lass’ dir von deinem Diener Tee daraus bereiten. Auf einen Becher heißen Wassers ein Teelöffel vom Kraut - das Getränk muss 10 Minuten ziehen. Trinke es ungesüßt, bevor du zu Bett gehst. Dein Schlaf wird ruhig und traumlos werden.

Die erste Zeit auf Burg Minck war schrecklich für mich. Die erzwungene Untätigkeit machte mich wahnsinnig. Ich fühlte mich wie ein gefangenes Tier. Ich wurde immer reizbarer. Schließlich kam es soweit, dass ich Rhadun angefaucht habe. Ich IHN! Kannst du dir das vorstellen? Er hat mich lange stumm angesehen und mir nach einer Ewigkeit, wie mir schien, mit einem Wink zu verstehen gegeben, ihm zu folgen. Wir haben nie darüber gesprochen, aber über Rhadun kursieren in meiner Heimat die schrecklichsten Berichte über Gräueltaten, die er mit offensichtlichem Genuß verübt haben soll. Es wird berichtet, dass er bei Folterungen gerne selber mit Hand anlegt. Auch seine Zauberkräfte soll er dazu benutzen, um andere zu quälen. Deswegen stellte ich mir schon die schlimmsten Torturen, die in der Folterkammer auf mich warten würden, vor. Du weißt ja, dass ich nicht gerade ein Held bin, und auch nicht wild auf Schmerzen. Wie erstaunt war ich, als wir uns kurze Zeit später in einem kleinen Wald wiederfanden. Dieser Wald ist wie alles in Minck zauberhaft. Anscheinend folgen Zeit und Raum hier anderen Gesetzen. Rhaduns klare, dunkle Augen musterten mich, ich bildete mir ein, einen Schimmer Wärme darin zu entdecken. "Du kannst dich im Wald  frei bewegen. Es ist dir gestattet, jeden Tag von der hohen Mittagszeit bis Sonnenuntergang hier zu verweilen, anschließend will ich dich in meinen Räumen sehen." Rhadun drehte sich um, und ließ mich alleine.
Mir scheint, dieser Magier kann tief in meine Seele sehen. Genau diese Möglichkeit, alleine unter freiem Himmel zu sein, hatte mir gefehlt. Wenn ich nicht laufen kann, kann ich nicht richtig denken. Wenn ich mich nicht bewegen kann, werde ich unleidlich. Ich frage mich nur, warum Rhadun seine Hellsichtigkeit nicht dazu benutzt, um mich zu quälen? Das würde ich von einem Mann erwarten, der für seine Grausamkeit bekannt ist.

Du schreibst mir von der magischen Linie, die über vier Generationen in deiner Familie zurückverfolgt werden kann. Weißt du, wie sehr ich dich darum beneide? An mir ist so gar nichts Magisches. Das spüre ich besonders deutlich an diesem wunderbaren Ort. Oh ja - und die unzähligen Gespielinnen von Rhadun lassen es mich schmerzlich merken. Mir will scheinen, sie sind eifersüchtig auf die Zeit, die ich mit ihrem Herrn verbringe. Es gab schon hässliche Szenen! Rebecca, eine machtvolle Hexe, Rhaduns Favoritin,  hat ihm schlichtweg vorgeworfen, er würde sie mit mir betrügen. Und sie hat ganz abscheuliche Dinge gesagt, die ich nicht wiedergeben werde. Zu meiner Genugtuung hat Rhadun sie in einen bezaubernden Regenbogen verwandelt - eine Weile war Ruhe.

Wir hatten hier auf der Burg Musiker zu Gast. Berühmte Künstler, die die Musik der Komponisten Dworskoja und Dwhen zu berauschender Lebendigkeit auferstehen lassen können. Das Konzert fand am Abend des Tages statt, an dem ich das erste Mal in den Wald gehen durfte.
Die Sonne berührte gerade den Rand der Welt, als ich in Rhaduns Studierzimmer trat. Rhadun deutete mit einer Hand auf einen Stapel Kleider, der fein säuberlich auf seinem Tisch lag.
"Nando", Rhaduns Stimme klang ungewöhnlich sanft, "würdest Du mir die Freude bereiten, diese Kleidung anzulegen?" Vor seinen durchdringenden Augen begann ich mich erst zu entkleiden, um dann ein schneeweißes Hemd, das am Halsausschnitt und den Manschetten mit aufwendigen Spitzen verziert war, über meine nackte Haut zu streifen. Eine enge, schwarze Samthose und eine Jacke, gefertigt aus demselben weichen Stoff vervollständigten meine Garderobe. Ach, die schwarzen Lackschuhe dazu, darf ich nicht vergessen, zu erwähnen. Alles passte mir tadellos, nur meiner Meinung nach lassen mich diese beiden Farben noch blasser erscheinen, als ich es sowieso schon bin. Und dann noch mein mausbraunes Haar dazu. Aber ich war so kindlich dankbar, dass Rhadun mir erlaubt hatte, in den Wald zu gehen, dass ich mich seinem Willen beugte. Ich wollte ihm gefallen.
Rhadun war hinter mich getreten, und strich mit seinen Fingern durch mein Haar. Mit geübten Griffen teilte er einige Strähnen ab, die er in einem eigenartigen Muster verflocht. Die Zeichen des Hauses Rhadamus, schoss es mir durch den Sinn. Alle auf dem Fest würden nun sehen, dass ich Rhaduns Besitz war. Schamesröte stieg mir ins Gesicht. "Du bist wunderschön  wenn du deine Gefühle nicht verbergen kannst." In dem Moment hätte ich ihm am liebsten meine Nägel ins Gesicht geschlagen, aber ich beherrschte mich, ich fühlte mich genug gedemütigt.
Irgendwann während des Konzerts, ich war völlig in die Musik versunken und, trotz allem, was in Rhaduns Zimmer vorgefallen war, glücklich, hörte ich, wie etliche der Gäste oder Höflinge erstaunt in meine Richtung schauten und zu tuscheln anfingen. Und dann sah ich Rhaduns Blicke. Er schaute mich bewundernd an. Er murmelte etwas wie: "Ich hatte doch recht." Der Magier beugte sich zu mir herüber und sein warmer Atem streifte meine Haut, als er mir zuflüsterte: "Deine Haare, sie glänzen wie Bronze! Es geht dir gut, mein Lieber, nicht wahr?" Erinnerst du dich - genau so hast  auch du mein Haar beschrieben, wenn ich besonders glücklich, im Einklang mit mir bin, nachdem ich mich abfällig über dessen langweilige Farbe geäußert hatte.
Zum Thema Haar fällt mir noch eine Begebenheit ein. Ich saß wieder einmal, nach einem ausgiebigen Lauf durch den Wald, auf einem umgestürzten Baumstamm. Dieses Plätzchen hatte ich gleich bei meiner ersten Exkursion entdeckt und liebgewonnen. Der Stamm liegt an einem abfallenden Hang, hinter mir habe ich den Wald, vor mir einen ungehinderten Blick auf das Tal. Die Sonne bescheint dieses Plätzchen freundlich. Es lässt sich dort wunderbar verweilen und träumen.
Mit einem Mal war ich nicht mehr alleine. Ein wenig war ich erschrocken. Denn ich  hatte nicht bemerkt, wie sich dieses Kind neben mich gesetzt hatte. Es war ein Junge - kein richtiges Kind mehr, aber auch noch lange kein Mann. Hellblondes, halblanges Haar umrahmte ein keckes Gesichtchen in dem strahlend hellblaue Augen neugierig auf mich gerichtet waren. "Hast du aber schöne lange Haare. Darf ich mal anfassen?" Ich erlaubte es, unter der Bedingung, nicht daran zu ziehen. Ah! Mein Freund! Am liebsten hätte ich mich der Länge lang auf dem Stamm ausgestreckt, und genossen. Aber ich weiß, wie schnell dies Verhalten andere Wesen verschrecken kann. Deswegen beschränkte ich mich darauf, dieses leise, brummende Summen hören zu lassen, das bei mir tief aus der Kehle kommt, ganz automatisch. Du kennst es.
Wir haben uns über die Wunder des Waldes unterhalten. Die Tiere und Pflanzen, die schönsten Orte, die Blüten, die in ihrer Farbenpracht so herrlich sind, wie es nur die Natur, unsere große Mutter, hervorbringen kann. Dir darf ich davon schreiben. Andere würden mich für einen Ketzer halten (Nur die Magie bringt wahre Schönheit hervor, bla, bla bla...). 
Das Streicheln hörte übrigens auf, als ich erwähnte, dass ich auf Schloss Minck wohne. Der Kleine schien mir richtig erschrocken. Immer wieder blickte er sich um. Inzwischen bin ich mir sicher, dass er es versteht, sich vor den Blicken der Waresker zu verbergen. Um ihn zu beruhigen, erzählte ich ihm die Umstände meiner abenteuerlichen "Verpflanzung". Du siehst, ich bringe die Tatsache, dass ich Rhaduns Besitz bin, immer noch nicht über die Lippen. Jedenfalls wollen wir uns morgen wieder treffen. Das Gespräch hat mir gut getan. Mir fällt auf, dass ich ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt habe.
Aber irgend etwas geheimnisvolles, beinahe magisches, ist um diesen Jungen. Obwohl, da ich ihn sehen kann, dürfte er kein rein magisches Wesen sein. Du schreibst so anschaulich von dem Nachtmahr, dass mir beim Lesen ein Schauer über den Rücken lief. Weißt du, dass mir auch die Gabe, diese Wesen zu sehen, versagt ist? In Magister Dämonius Räumen schauten mich Reihen von scheinbar leeren Schaukästen an. Wenn nicht du mir beschrieben hättest, wie die Inhalte aussehen, nie hätte ich es geglaubt.

Rhaduns Leibwache lässt mich so gut wie nie aus den Augen. Es wundert mich direkt, nicht einen von diesen muskelstrotzenden Kampfmaschinen in meinem Bett vorzufinden, oder darunter. Äußerst misstrauisch haben sie zu Anfang meine Ausflüge in den Wald betrachtet. Meist laufe ich weitere Strecken in einem leichten Trab. Einige der jüngeren Waresker sind unter dem Johlen ihrer trägeren Kammeraden eine kurze Strecke mitgelaufen. Mit großer Genugtuung habe ich bemerkt, dass sie auf kurzer Strecke zwar rasend schnell sind, ihre Ausdauer aber keinen Pfifferling wert ist. Das beruhigt mich.

Aus reiner Neugierde habe ich beim Waffentraining dieser Giganten zugesehen. Einer der Hauptleute, ein älterer, riesiger Bär, mit vernarbtem Gesicht, ist ein wenig - nun, weniger schroff. Ihn habe ich gefragt, ob ich mal eine ihrer Waffen anschauen dürfte. Er reichte mir mit breitem Grinsen sein mit beiden Händen zu führendes "Schwert"?  Oh je! Lieber Verus - ich bin in die Knie gegangen, und habe diese Waffe noch nicht mal richtig halten können. Was für Kräfte müssen in diesen Körpern schlummern. Die Erde bebt, wenn sie trainieren.
Rhadun erstaunt mich immer wieder. Ich habe ungehinderten Zutritt zu seiner wirklich beeindruckenden Bibliothek. Natürlich habe ich, mit einigen Schwierigkeiten, noch mal das Schriftstück über den Zeng herausgesucht. Denn das Aufbewahrungssystem in den verschlungen angeordneten Räumen der Bibliothek ist für mich nicht verständlich. Vielleicht würdest du es erfassen. Es ist weder alphabetisch, nach Autoren, noch nach Sachgebieten, noch nach Zeiten geordnet. Allerdings habe ich das Werk mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern gelesen. Mein Gefühl sagt mir, dass Rhadun nicht wissen sollte, dass ich mich für die alten Überlieferungen, die es zum Thema Drachen in seiner Bibliothek zu finden gibt, interessiere.
Diesmal habe ich dir den Text im Original kopiert, denn es kann sein, dass sich in meine Übersetzung aus der Sprache dieses alten Nomadenvolkes Fehler eingeschlichen haben. Vielleicht findest du jemanden, der noch die Sprache der Akhiba beherrscht.
Meine Deutung ist so, dass diese Wesen als Weltenerneuerer angebetet wurden, der Ausdruck Zeng kommt immer im Zusammenhang mit dem Sonnenzeichen vor, das sowohl den hellen, lebendigen Tag, wie die heilende, wärmende Kraft der Sonne, als auch die zerstörerische Wirkung des Feuers symbolisieren kann. Aber aus der Asche ersteht wieder neues Leben. Das siehst du an dem kleinen, nur angedeuteten Baum, der auf einem Aschehaufen steht. 
Vielleicht irre ich mich auch total, und die Bedeutung ist eine völlig andere.

Oh, lieber Freund sei vorsichtig! Ich zittere bei dem Gedanken, was dir passieren könnte, so alleine mit diesem geheimnisvollen Fund.
Mit meinen Gedanken bin ich bei Dir - einen Weg zu Dir zu gelangen suche ich - dein manchmal blinder und tauber

Nando
 

© Dagmar Scheider
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
.
Leider wird es keine weiteren Briefe geben, da eine Fortsetzung des Briefromans nicht möglich ist...

.
www.drachental.de