Lieber Verus !
Dank dir für deinen ausführlichen Brief. Dank dir für
dein Mitgefühl, für dein Hilfsangebot und den Bericht über
den Fortgang deiner Arbeiten. Wie aufregend! Wie verwünsche ich mein
Geschick, hier wie ein Gefangener leben zu müssen. Zu gerne wäre
ich bei dir. Zu gerne würde ich mit eigenen Augen sehen...! Aber du
schätzt Rhadun richtig ein, er wird mich niemals freiwillig gehen
lassen!
Ein wenig ängstigt mich dein Bericht. Mit diesem Brief werde
ich einen Beutel mit Wohlkraut mitschicken. Lass’ dir von deinem Diener
Tee daraus bereiten. Auf einen Becher heißen Wassers ein Teelöffel
vom Kraut - das Getränk muss 10 Minuten ziehen. Trinke es ungesüßt,
bevor du zu Bett gehst. Dein Schlaf wird ruhig und traumlos werden.
Die erste Zeit auf Burg Minck war schrecklich für mich. Die
erzwungene Untätigkeit machte mich wahnsinnig. Ich fühlte mich
wie ein gefangenes Tier. Ich wurde immer reizbarer. Schließlich kam
es soweit, dass ich Rhadun angefaucht habe. Ich IHN! Kannst du dir das
vorstellen? Er hat mich lange stumm angesehen und mir nach einer Ewigkeit,
wie mir schien, mit einem Wink zu verstehen gegeben, ihm zu folgen. Wir
haben nie darüber gesprochen, aber über Rhadun kursieren in meiner
Heimat die schrecklichsten Berichte über Gräueltaten, die er
mit offensichtlichem Genuß verübt haben soll. Es wird berichtet,
dass er bei Folterungen gerne selber mit Hand anlegt. Auch seine Zauberkräfte
soll er dazu benutzen, um andere zu quälen. Deswegen stellte ich mir
schon die schlimmsten Torturen, die in der Folterkammer auf mich warten
würden, vor. Du weißt ja, dass ich nicht gerade ein Held bin,
und auch nicht wild auf Schmerzen. Wie erstaunt war ich, als wir uns kurze
Zeit später in einem kleinen Wald wiederfanden. Dieser Wald ist wie
alles in Minck zauberhaft. Anscheinend folgen Zeit und Raum hier anderen
Gesetzen. Rhaduns klare, dunkle Augen musterten mich, ich bildete mir ein,
einen Schimmer Wärme darin zu entdecken. "Du kannst dich im Wald
frei bewegen. Es ist dir gestattet, jeden Tag von der hohen Mittagszeit
bis Sonnenuntergang hier zu verweilen, anschließend will ich dich
in meinen Räumen sehen." Rhadun drehte sich um, und ließ mich
alleine.
Mir scheint, dieser Magier kann tief in meine Seele sehen. Genau
diese Möglichkeit, alleine unter freiem Himmel zu sein, hatte mir
gefehlt. Wenn ich nicht laufen kann, kann ich nicht richtig denken. Wenn
ich mich nicht bewegen kann, werde ich unleidlich. Ich frage mich nur,
warum Rhadun seine Hellsichtigkeit nicht dazu benutzt, um mich zu quälen?
Das würde ich von einem Mann erwarten, der für seine Grausamkeit
bekannt ist.
Du schreibst mir von der magischen Linie, die über vier Generationen
in deiner Familie zurückverfolgt werden kann. Weißt du, wie
sehr ich dich darum beneide? An mir ist so gar nichts Magisches. Das spüre
ich besonders deutlich an diesem wunderbaren Ort. Oh ja - und die unzähligen
Gespielinnen von Rhadun lassen es mich schmerzlich merken. Mir will scheinen,
sie sind eifersüchtig auf die Zeit, die ich mit ihrem Herrn verbringe.
Es gab schon hässliche Szenen! Rebecca, eine machtvolle Hexe, Rhaduns
Favoritin, hat ihm schlichtweg vorgeworfen, er würde sie mit
mir betrügen. Und sie hat ganz abscheuliche Dinge gesagt, die ich
nicht wiedergeben werde. Zu meiner Genugtuung hat Rhadun sie in einen bezaubernden
Regenbogen verwandelt - eine Weile war Ruhe.
Wir hatten hier auf der Burg Musiker zu Gast. Berühmte Künstler,
die die Musik der Komponisten Dworskoja und Dwhen zu berauschender Lebendigkeit
auferstehen lassen können. Das Konzert fand am Abend des Tages statt,
an dem ich das erste Mal in den Wald gehen durfte.
Die Sonne berührte gerade den Rand der Welt, als ich in Rhaduns
Studierzimmer trat. Rhadun deutete mit einer Hand auf einen Stapel Kleider,
der fein säuberlich auf seinem Tisch lag.
"Nando", Rhaduns Stimme klang ungewöhnlich sanft, "würdest
Du mir die Freude bereiten, diese Kleidung anzulegen?" Vor seinen durchdringenden
Augen begann ich mich erst zu entkleiden, um dann ein schneeweißes
Hemd, das am Halsausschnitt und den Manschetten mit aufwendigen Spitzen
verziert war, über meine nackte Haut zu streifen. Eine enge, schwarze
Samthose und eine Jacke, gefertigt aus demselben weichen Stoff vervollständigten
meine Garderobe. Ach, die schwarzen Lackschuhe dazu, darf ich nicht vergessen,
zu erwähnen. Alles passte mir tadellos, nur meiner Meinung nach lassen
mich diese beiden Farben noch blasser erscheinen, als ich es sowieso schon
bin. Und dann noch mein mausbraunes Haar dazu. Aber ich war so kindlich
dankbar, dass Rhadun mir erlaubt hatte, in den Wald zu gehen, dass ich
mich seinem Willen beugte. Ich wollte ihm gefallen.
Rhadun war hinter mich getreten, und strich mit seinen Fingern durch
mein Haar. Mit geübten Griffen teilte er einige Strähnen ab,
die er in einem eigenartigen Muster verflocht. Die Zeichen des Hauses Rhadamus,
schoss es mir durch den Sinn. Alle auf dem Fest würden nun sehen,
dass ich Rhaduns Besitz war. Schamesröte stieg mir ins Gesicht. "Du
bist wunderschön wenn du deine Gefühle nicht verbergen
kannst." In dem Moment hätte ich ihm am liebsten meine Nägel
ins Gesicht geschlagen, aber ich beherrschte mich, ich fühlte mich
genug gedemütigt.
Irgendwann während des Konzerts, ich war völlig in die
Musik versunken und, trotz allem, was in Rhaduns Zimmer vorgefallen war,
glücklich, hörte ich, wie etliche der Gäste oder Höflinge
erstaunt in meine Richtung schauten und zu tuscheln anfingen. Und dann
sah ich Rhaduns Blicke. Er schaute mich bewundernd an. Er murmelte etwas
wie: "Ich hatte doch recht." Der Magier beugte sich zu mir herüber
und sein warmer Atem streifte meine Haut, als er mir zuflüsterte:
"Deine Haare, sie glänzen wie Bronze! Es geht dir gut, mein Lieber,
nicht wahr?" Erinnerst du dich - genau so hast auch du mein Haar
beschrieben, wenn ich besonders glücklich, im Einklang mit mir bin,
nachdem ich mich abfällig über dessen langweilige Farbe geäußert
hatte.
Zum Thema Haar fällt mir noch eine Begebenheit ein. Ich saß
wieder einmal, nach einem ausgiebigen Lauf durch den Wald, auf einem umgestürzten
Baumstamm. Dieses Plätzchen hatte ich gleich bei meiner ersten Exkursion
entdeckt und liebgewonnen. Der Stamm liegt an einem abfallenden Hang, hinter
mir habe ich den Wald, vor mir einen ungehinderten Blick auf das Tal. Die
Sonne bescheint dieses Plätzchen freundlich. Es lässt sich dort
wunderbar verweilen und träumen.
Mit einem Mal war ich nicht mehr alleine. Ein wenig war ich erschrocken.
Denn ich hatte nicht bemerkt, wie sich dieses Kind neben mich gesetzt
hatte. Es war ein Junge - kein richtiges Kind mehr, aber auch noch lange
kein Mann. Hellblondes, halblanges Haar umrahmte ein keckes Gesichtchen
in dem strahlend hellblaue Augen neugierig auf mich gerichtet waren. "Hast
du aber schöne lange Haare. Darf ich mal anfassen?" Ich erlaubte es,
unter der Bedingung, nicht daran zu ziehen. Ah! Mein Freund! Am liebsten
hätte ich mich der Länge lang auf dem Stamm ausgestreckt, und
genossen. Aber ich weiß, wie schnell dies Verhalten andere Wesen
verschrecken kann. Deswegen beschränkte ich mich darauf, dieses leise,
brummende Summen hören zu lassen, das bei mir tief aus der Kehle kommt,
ganz automatisch. Du kennst es.
Wir haben uns über die Wunder des Waldes unterhalten. Die Tiere
und Pflanzen, die schönsten Orte, die Blüten, die in ihrer Farbenpracht
so herrlich sind, wie es nur die Natur, unsere große Mutter, hervorbringen
kann. Dir darf ich davon schreiben. Andere würden mich für einen
Ketzer halten (Nur die Magie bringt wahre Schönheit hervor, bla, bla
bla...).
Das Streicheln hörte übrigens auf, als ich erwähnte,
dass ich auf Schloss Minck wohne. Der Kleine schien mir richtig erschrocken.
Immer wieder blickte er sich um. Inzwischen bin ich mir sicher, dass er
es versteht, sich vor den Blicken der Waresker zu verbergen. Um ihn zu
beruhigen, erzählte ich ihm die Umstände meiner abenteuerlichen
"Verpflanzung". Du siehst, ich bringe die Tatsache, dass ich Rhaduns Besitz
bin, immer noch nicht über die Lippen. Jedenfalls wollen wir uns morgen
wieder treffen. Das Gespräch hat mir gut getan. Mir fällt auf,
dass ich ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt habe.
Aber irgend etwas geheimnisvolles, beinahe magisches, ist um diesen
Jungen. Obwohl, da ich ihn sehen kann, dürfte er kein rein magisches
Wesen sein. Du schreibst so anschaulich von dem Nachtmahr, dass mir beim
Lesen ein Schauer über den Rücken lief. Weißt du, dass
mir auch die Gabe, diese Wesen zu sehen, versagt ist? In Magister Dämonius
Räumen schauten mich Reihen von scheinbar leeren Schaukästen
an. Wenn nicht du mir beschrieben hättest, wie die Inhalte aussehen,
nie hätte ich es geglaubt.
Rhaduns Leibwache lässt mich so gut wie nie aus den Augen. Es
wundert mich direkt, nicht einen von diesen muskelstrotzenden Kampfmaschinen
in meinem Bett vorzufinden, oder darunter. Äußerst misstrauisch
haben sie zu Anfang meine Ausflüge in den Wald betrachtet. Meist laufe
ich weitere Strecken in einem leichten Trab. Einige der jüngeren Waresker
sind unter dem Johlen ihrer trägeren Kammeraden eine kurze Strecke
mitgelaufen. Mit großer Genugtuung habe ich bemerkt, dass sie auf
kurzer Strecke zwar rasend schnell sind, ihre Ausdauer aber keinen Pfifferling
wert ist. Das beruhigt mich.
Aus reiner Neugierde habe ich beim Waffentraining dieser Giganten
zugesehen. Einer der Hauptleute, ein älterer, riesiger Bär, mit
vernarbtem Gesicht, ist ein wenig - nun, weniger schroff. Ihn habe ich
gefragt, ob ich mal eine ihrer Waffen anschauen dürfte. Er reichte
mir mit breitem Grinsen sein mit beiden Händen zu führendes "Schwert"?
Oh je! Lieber Verus - ich bin in die Knie gegangen, und habe diese Waffe
noch nicht mal richtig halten können. Was für Kräfte müssen
in diesen Körpern schlummern. Die Erde bebt, wenn sie trainieren.
Rhadun erstaunt mich immer wieder. Ich habe ungehinderten Zutritt
zu seiner wirklich beeindruckenden Bibliothek. Natürlich habe ich,
mit einigen Schwierigkeiten, noch mal das Schriftstück über den
Zeng herausgesucht. Denn das Aufbewahrungssystem in den verschlungen angeordneten
Räumen der Bibliothek ist für mich nicht verständlich. Vielleicht
würdest du es erfassen. Es ist weder alphabetisch, nach Autoren, noch
nach Sachgebieten, noch nach Zeiten geordnet. Allerdings habe ich das Werk
mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern gelesen. Mein Gefühl
sagt mir, dass Rhadun nicht wissen sollte, dass ich mich für die alten
Überlieferungen, die es zum Thema Drachen in seiner Bibliothek zu
finden gibt, interessiere.
Diesmal habe ich dir den Text im Original kopiert, denn es kann
sein, dass sich in meine Übersetzung aus der Sprache dieses alten
Nomadenvolkes Fehler eingeschlichen haben. Vielleicht findest du jemanden,
der noch die Sprache der Akhiba beherrscht.
Meine Deutung ist so, dass diese Wesen als Weltenerneuerer angebetet
wurden, der Ausdruck Zeng kommt immer im Zusammenhang mit dem Sonnenzeichen
vor, das sowohl den hellen, lebendigen Tag, wie die heilende, wärmende
Kraft der Sonne, als auch die zerstörerische Wirkung des Feuers symbolisieren
kann. Aber aus der Asche ersteht wieder neues Leben. Das siehst du an dem
kleinen, nur angedeuteten Baum, der auf einem Aschehaufen steht.
Vielleicht irre ich mich auch total, und die Bedeutung ist eine
völlig andere.
Oh, lieber Freund sei vorsichtig! Ich zittere bei dem Gedanken, was
dir passieren könnte, so alleine mit diesem geheimnisvollen Fund.
Mit meinen Gedanken bin ich bei Dir - einen Weg zu Dir zu gelangen
suche ich - dein manchmal blinder und tauber
Nando
© Dagmar
Scheider
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