Crazen war bedrückt. Alle hatten ihn
als Idioten betrachtet, als er sie vor dem drohenden Unwetter gewarnt hatte.
Keiner nahm ihn auch nur annähernd für voll. Natürlich,
seine bisherigen Prognosen waren nichts als Scharlatanerie gewesen, doch
das war nun vorbei. Seine Instrumente besagten alle das gleiche: Gewitter.
Ein riesiges Gewitter.
Früher hatte Crazen spaßeshalber
irgendwelche Sprüche über das Wetter gelassen, wie es keinesfalls
eingetroffen war, um auf sich aufmerksam zu machen. Es war folglich kein
Wunder, dass ihm das nun keiner abnehmen wollte, und ihm war klar, dass
alle seine Warnungen in den Wind schlugen, denn er war bekannt für
seine schlechten Wettervorhersagen. Aber er musste sie warnen, schließlich
würden sie alle untergehen, wenn sie nicht flöhen, denn im Kmihon-Gebirge
lag ein großer dunkler See, der Donnersee. Sobald seine Ränder
überfüllt sind, würde das überschüssige Wasser
in einem gewaltigen Strom in die Talmulde von Revol Taron hinabschnellen.
Dort würden die Wassermengen durch bloßes Regnen schon Hochwasser,
bei dem sommerlich trockenen Boden, verursacht haben. Nirgendwohin würde
das Wasser abfließen können, denn die eigens für stärkere
Regenfälle konstruierte Abflussrinne aus Holz, die vom Donnersee aus
durch den Cios führte, würde diesen Massen nicht standhalten
können.
Von der Vorstellung, die ganze Diebesstadt
unter Wasser stehen zu sehen, geplagt, goss sich Crazen den restlichen
Inhalt seines sechzehnten Grogs vollends in den Rachen. Er wollte es vergessen,
als einer von ihnen sterben.
* * *
Die Nacht war vorbei und ein neuer heißer
Tag bahnte sich an. Der wolkenlose Himmel flimmerte in der vom Boden aufsteigenden
Hitze des frühen Morgens. Dran, Wirt der Taverne "Zum räudigen
Hund", sammelte die Krüge, Becher und Flaschen der Besucher des vergangenen
Tages ein. Crazen, über seinem zwanzigsten Grog eingeschlafen, saß
immer noch an einem von Drans Tavernentischen.
"Nicht schon wieder, Scroll! Das ist das vierte
Mal diese Woche, und die hat erst drei Tage!", meinte Dran mürrisch
und packte den Doppelklingenkämpfer an seinem blonden Lockenschopf,
um ihn ins Freie zu ziehen.
* * *
Freygos Lei war überglücklich. Er
glaubte, Wai Lonn, sein Zimmermitbewohner, habe sich in seine, wie er meinte,
bildhübsche Tochter Risa verliebt. Zwar hatte der dies nicht eindeutig
zugegeben, aber soviel meinte Freygos aus dem Gespräch Lonns mit Nimbun
herausgehört zu haben. Für Freygos war es selbstverständlich,
dass der General mit dem "verliebt sein" nur seine Tochter gemeint haben
konnte. Lange schon hatte er über die Hochzeit der Beiden spekuliert
und nun fühlte er diesen Tag herannahen. Was er nicht wusste war,
dass Lonn an jemand völlig anderen gedacht hatte, als an Risa.
Zur selben Zeit war diese auf dem Weg zum
Marktplatz. Sie bot eine ziemlich seltsame Erscheinung. Ihr langes und
weites Leinengewand mit eingerissenen Trompetenärmeln, das überdies
an Risas dürrem Körper schlapperte, sah aus, als hätte es
noch nie in seinem ganzen Leben Wasser gesehen, oder als sei es auch nur
einmal mit dem Waschbrett in Berührung gekommen. Risa machte sich
nichts daraus. Seit dem Tode ihrer Mutter Jira wohnte sie meist allein
in dem Haus ihres Vaters, denn der zog es vor, in der Kaserne zu nächtigen.
Sie war für den ganzen Haushalt alleine verantwortlich, was ihr aber
trotz ihrer beachtlichen sechsundzwanzig Jahre nicht vorbildlich gelang.
Man sollte eher sagen, sie bemühte sich nicht darum, kümmerte
sich nur um das tägliche leibliche Wohl der zweiköpfigen Familie.
Der ganze große Rest war ihr so ziemlich gleichgültig, wenn
es sich nicht um Wai Lonn handelte.
Sie meinte wohl, sie könnte dem General
mit ihren fettigen zerzausten Haaren, den abstehenden Ohren, der großen
Hakennase, den kleinen wasserblauen Augen und ihrem egoistischen, arroganten
und exzentrischen Charakter auf irgendeine Weise imponieren. Bei allen
Bewohnern Revol Tarons hatte sie sich überdies mit verschiedenen Aktionen
unbeliebt gemacht. Sei es das spitzzüngige Geschnatter, das sie über
jeden verlor, ihre ausgeprägte Selbstgefälligkeit, ihr hochnäsiges
Auftreten oder ihre ständige Intoleranz gegenüber allem und jedem.
Sie war von sich selbst überzeugt, hielt
sich für die beste, schönste und beliebteste Person des Erdballs.
Nun gab es allerdings nur eine einzige Person, die diese Meinung mit ihr
teilte: Freygos Lei, ihr Vater. Alles hatte sie von ihrem Vater bekommen,
was sie sich auch immer gewünscht hatte. In ihrer Verwöhntheit
kam sie nicht umhin, Lonn als ihr festes Eigentum zu betrachten, obwohl
sie lediglich seine Verehrerin war und eigentlich keinerlei Ansprüche
auf ihn stellen konnte.
Risa Lei - keine andere Frau in Revol Taron
war abschreckender, verhasster und eingebildeter.
Hocherhobenen Hauptes und mit einem verzerrten,
selbstverliebten Grinsen stakste sie zum Gemüsestand. Plötzlich
fuhr sie herum, weil sie glaubte, die Stimme Wai Lonns vernommen zu haben.
Sofort erspähten ihre geübten hellblauen Augen den schwarzhaarigen
General. Doch er war nicht alleine, zwei Leute, ein junger Mann und ein
Mädchen, standen bei ihm.
Ein hübsches Mädchen, sechzehn Jahre
alt, mit rotbraunen Haaren und Augen und in eine leinene Tunika und eine
hellbraune Lederhose gekleidet. In Risa stieg eine gewaltige Eifersucht
auf. Ihr schien es so, als wolle das Mädchen ihr Wai Lonn ausspannen
(wobei sie ihn in Wirklichkeit nicht einmal "eingespannt" hatte).
Hochrot vor Wut auf das Mädchen ging
sie auf das Grüppchen im Marktgewühl zu. Dieses Miststück
würde sie kennen lernen.
* * *
"Dann bist du jetzt unser offizieller Vormund,
Wai?" Imogen lächelte freudig.
Der General nickte.
Auf einmal beschlich ihn ein seltsames Gefühl.
Unruhig spähte er um sich. Seine Vorahnung erwies sich als bestätigt.
Ärger, getarnt mit dem Namen Risa, war im Anmarsch. Kaum hatte besagte
Person die Gruppe erreicht, funkelte sie Imogen böse an, holte Luft
und begann wild Draufloszuschnattern.
"Was fällt dir ein, du mieses kleines
Luder, du Schlange, falsche gallespeichelnde Drachenechse, du hirnlose
Wargbestie, miese Aufschneiderin, hässliches aufgetakeltes geiles
Flittchen, verfluchter Lüstling. Wie kannst du es wagen, dich meinem
Liebsten mit deiner Falschheit und Widerlichkeit auch nur zu nähern,
geschweige in anzusehen, ihm zuzulächeln? Ich bin die Alleinige, der
es gewährt ist, weil er mir, mir gehört. Also verschwinde und
lass ihn und mich zufrieden. Und überhaupt, du siehst furchtbar hässlich
und ungepflegt aus, mit diesem furchtbaren Gewand und diesem grässlichen,
nicht typisch weiblichen Pferdeschwanz. Warum trägst du überhaupt
Hosen, Mannweib? Reicht dir außerdem dieser Typ neben dir nicht schon
aus, musst du auch noch versuchen, mir mein süßes Wai-Mäuschen
wegzunehmen?"
Imogen war vollkommen verwirrt.
"Wieso... aber... welcher Typ? Wieso "ausreichen"
und was soll ich getan haben?"
"Stell dich nicht so unwissend. Du weißt
ganz genau, was ich meine. Du sollst ihn in Ruhe lassen, abzwitschern,
die Fliege machen, die Kurve kratzen oder schlicht und einfach abhauen,
wie auch immer, verstanden? Kapiert?"
Imogen sah Hilfe suchend zu Riyonn und Wai
Lonn.
"Was soll das Risa? Was hat sie dir getan
und vor allen Dingen, was habe ich dir getan, dass du uns hier belästigst,
und mich das zudem ständig?", warf Wai ein, um Imogen zur Seite zu
stehen.
Riyonn stand einfach da und versuchte, das
Puzzle zusammenzufügen, das sich aus den Bruchstücken Risas Geschnatter
ergab.
"Ich... dich belästigen,... was? Wieso
verteidigst du die alte tattrige Schnepfe, diesen gierigen Aasgeier auch
noch? Merkst du nicht, was sie von dir fordert? Ach, sie hat dich schon
um ihren kleinen Finger gewickelt. Aber das lasse ich nicht auf mir sitzen.
Diese..."
"Lass doch endlich meinen Liebling zufrieden,
Risa!" Wai Lonn schaute Risa tief in die Augen.
"Dein... dein Liebling? Bin ich dir nicht
gut genug? Du... du eingebildeter, fieser, gemeiner, egoistischer...!"
In Risas Augen sammelten sich Tränen. Dann brach sie aus, begann laut
und fürchterlich zu heulen, während sie davonlief.
"Dein Liebling?", fragte Riyonn den General
irritiert.
Lonn wich Riyonns Blick aus.
"Das war doch nur ein Trick!"
"Aber sicher doch." Riyonn konnte sich ein
Lachen nicht verkneifen.
"Ja doch.", bestätigte Wai mit hochrotem
Kopf. Unterdessen war Imogen ebenfalls knallrot angelaufen.
"Es war nur ein Trick! Wenigstens bin ich
Risa endlich los", versuchte Wai Riyonns Gelächter zu übertönen.
"Ihr seid solche Kindsköpfe", seufzte
Imogen, wieder mit natürlicher Gesichtsfarbe.
"Aber nein, Liebling", entgegnete Riyonn mit
schallendem Gelächter. Wai schnaubte gereizt in Riyonns Richtung.
"Halt deinen Mund! Es wäre besser für
deine Gesundheit, das zu tun."
Daraufhin brach Riyonn seinen Lachschwall
abrupt ab.
"Wie wär’s zurück zum vorherigen
Thema?", wandte sich Imogen an Wai und unterbrach somit schnell den drohenden
Streit. "Wirst du als unser Vormund jetzt in Zorans Haus einziehen?"
"Darüber habe ich nicht nachgedacht.",
gab Lonn zur Antwort.
"Weiterhin in der Kaserne zu wohnen würde
ich dir jedenfalls abraten.", meinte Riyonn grinsend.
"Wieso das?"
Riyonn räusperte sich und grinste immer
noch verholen. "Risas liebster Papi teilt doch das Zimmer mit dir, und
ich schätze ihn nicht sonderlich beglückt über das, was
du seinem Töchterchen eben angetan hast."
Das einsehend, entschloss sich Wai zum Umzug
in Zorans Haus und nickte seufzend.
Wai und Riyonn hatten beschlossen, sich um
Ninelives zu kümmern, während Imogen auf dem Markt die Einkäufe
erledigen sollte.
Plötzlich stieß Imogen in einem
unachtsamen Moment von hinten an einen rüstungsbekleideten Mann.
"Oh, verzeiht... ich", begann sie sofort sich
zu entschuldigen, doch der Mann drehte sich zu ihr um und winkte lächelnd
ab.
"Schon in Ordnung, Kleines."
Er hatte hellblonde, fast weißliche
Haare, die ihm leicht gewellt fast bis zu den Schultern reichten, hellblaue
strahlende Augen, haselnussbraune Haut, besaß auf der Nase sogar
einzelne Sommersprossen, war recht groß und kräftig und grinste
wie ein Sunnyboy. Imogen merkte, wie ihr heiß und kalt wurde, und
ihr Körper auf einmal begann zu kribbeln.
"Ist etwas?"
"Wie?" Imogen schreckte hoch. "Oh nein, gar
nicht."
"Ich dachte nur, weil du mich so angestarrt
hast. Aber das macht eigentlich zurzeit jeder. Weißt du, sie halten
mich für verrückt, nicht mehr ganz dicht und so." Er lächelte
ein wenig beschämt und zog mit seinem Fuß nervös Kreise
in den trockenen Boden.
"Stimmt das denn?", fragte Imogen nun interessiert.
"Nein, natürlich nicht! Sie wollen mir
nur nicht glauben. Na schön, ich habe bisher immer irgendeinen Dreck
verzapft, aber ich versichere dir hoch und heilig, dass es diesmal die
Wahrheit ist. Ich würde mein Leben darum verwetten. Es geht schließlich
um Leben und Tod."
"Um was dreht es sich genau?"
Der Mann verzog die hellen Augenbrauen.
"Das weißt du nicht? Ich dachte, das
spräche sich schon in der gesamten Stadt herum. Frage: wenn du mich
so ansiehst, hältst du mich da für verrückt?"
"Nein."
"Also. Das ganze bisher diente nur um Aufmerksamkeit
zu erregen. Doch diesmal ist es die Realität."
"Was?"
"Das Unwetter natürlich, Ragnarök."
Imogens Gesicht erhellte sich.
"Ach so, dann seid Ihr Crazen Scroll?"
"Äh... ja. Sag bloß, das wusstest
du nicht!"
"N-nein, ich wusste es nicht. Ich habe Euch
vorher noch nie gesehen, oder zumindest nicht bewusst."
Crazen kratzte sich hinter seinem Ohr.
"Solls geben."
Beide schwiegen eine Weile und starrten aneinander
vorbei in die Gegend.
"Du bist Zorans Kleine, oder?", fragte Crazen
schließlich.
"Ja."
Plötzlich trat ein hoch gewachsener Mann
zwischen Imogen und Crazen. Seine mittelbraunen Haare reichten ihm bis
zum Brustbein und waren links und rechts von seinem Gesicht in kleinen
Zöpfchen nach hinten geflochten und am Hinterkopf zusammengebunden.
Er machte einen fröhlichen Eindruck und seine tiefgrünen Augen
schienen schier vor Vitalität und Energie zu sprühen.
"Tagchen, Scroll!", grüßte er freundlich
und salutierte vor dem Doppelklingenkämpfer Crazen, drehte sich dann
zu Imogen und grinste verschmitzt.
"Schönen Tag auch, Süße!"
Crazen stocherte nervös mit dem Fuß
im Boden.
"Was los, Jersey?"
"Ah, störe ich dich? Weiß sie denn,
mit was für einem Idioten sie sich unterhalten hat? Oder bist du inzwischen
wieder vernünftig geworden?"
"Ich bin die ganze Zeit über vernünftig
gewesen, Kaimasu!"
Jersey lachte auf.
"Verkauf wen anders für dumm, bei mir
kommst du nicht durch mit so einer... wie auch immer... Geschichte. Na
denn, wiedersehen."
Crazen zwang sich zu einem höflichen
Lächeln.
"-sehn!"
Völlig irritiert sah Imogen von einem
zum anderen.
"Warum glaubt Ihr ihm denn nicht?"
"Süße, der erzählt doch andauernd
einen solchen Schrott. Man kann ihm nicht mehr glauben. Und wenn du das
begriffen hast, wie wär’s, vielleicht können wir uns ja einmal
treffen? Ich bin immer offen für so niedliche Mädels wie dich.
Ade, Süße!"
Damit strich er Imogen kurz über die
Wange und machte sich davon, ehe es ihr einfiel zu protestieren. Crazen
zuckte mit den Schultern und verschwand ebenfalls im Marktgedränge,
nachdem er Imogen zum Abschied gewunken hatte.
Imogen blieb rührungslos an Ort und Stelle
stehen und versuchte herauszufinden, was mit ihr los war. Ihr war es, als
flögen tausende Schmetterlinge in ihrem Bauch, ein Gefühl, wie
sie es noch nie verspürt hatte. Ein einziger Name schwirrte ihr noch
mit Höchstgeschwindigkeit durch den Kopf: Crazen.
* * *
"Schönes Tier.", meinte Riyonn und strich
dem Rappen Ninelives über die Nüstern. Wai lächelte stolz.
"Er ist von meinem Vater und wurde hier gezüchtet.
Er ist ein reinrassiger Revolaner aus der dritten Generation."
Er klopfte dem Tier den Hals und ging aus
dem Stall, gefolgt von Riyonn.
"Ich gehe jetzt nach hause, du wirst dann
ja bald mit deinem Eigentum nachkommen.", erklärte Riyonn und schlug
in langsamem Gang den Weg Richtung Zorans Haus ein.
Wai hingegen eilte sich, er wollte schnellstens
in der Kaserne angelangen, sich dort abmelden, sein Eigentum zusammensammeln,
um, bevor Risas Vater Freygos Lei ihn auch nur im Entferntesten auf die
Sache vom Marktplatz ansprechen konnte, wieder verschwunden zu sein.
Doch auf einmal stellte sich ihm Crazen in
den Weg, das heißt, er versuchte den General mit Händen und
Füßen stoppen.
"Scroll, was fällt Euch ein!", empörte
sich Wai, aber Crazen unterbrach ihn.
"Sagt ihnen, dass sie mir glauben müssen!
Bitte sagt ihnen das!"
"Ihr wisst so gut wie ich, dass sie das nicht
werden. Ich tue es auch nicht."
Crazen starrte verzweifelt in Lonns schwarze
Augen.
"Aber..."
"Crazen Scroll, auch wenn wir früher
einmal befreundet gewesen waren und ich Euch darum helfen würde: keiner
denkt auch nur daran, Euren Prognosen zu glauben, selbst wenn Ihr die ganze
Stadt bestechen würdet. Eure bisherigen Vorraussagen waren reinster
Schund."
"Die bisherigen vielleicht.", meinte Crazen
mit einem aufgeregten Zittern in der Stimme. "General Lonn, ich flehe Euch
an! Versucht wenigstens mir zu glauben. Alle meine Berechnungen erzielen
dasselbe: Unwetter. Ich kann keine Macht mehr aufbringen, um diese verdammte
Stadt vor dieser Katastrophe zu bewahren. Saht ihr das tägliche Morgenrot?
Es ist seit jeher ein Schlechtwetterbote."
Wai sah entnervt Richtung Horizont.
"Schön, vielleicht war das seit jeher
der Fall, doch ich frage mich, wieso gleich in solchen Ausmaßen,
Scroll? Lasst Euch etwas Besseres einfallen, aber was Ihr da von Euch gebt,
ist Schwachsinn. Jedes Mal, wenn Ihr irgendwelche Prognosen zum Wetter
von Euch gabt, meintet Ihr, alle Eure Instrumente schlügen aus. Man
kann Euch nicht mehr glauben, Crazen!"
Crazens Augen wurden rot, einige Tränen
sammelten sich an.
"General Lonn, Wai, dieses Mal ist es kein
Scherz, dieses Mal ist es nicht gelogen. Es ist die Wahrheit und nichts
als die Wahrheit!"
Lonn schüttelte lachend den Kopf.
"Jedes Mal, wenn man Euch das abnahm, war
es wieder nichts als ein Flop!"
"Ich weiß, niemand will mir mehr glauben.
Doch das Unwetter, es naht. Ich nenne es Ragnarök, weil durch es die
ganze Stadt überschwemmt und somit vernichtetet werden wird."
Lonn sah mitleidig auf Crazen.
"Ragnarök. Ich wette Ihr verbrachtet
wieder einmal die ganze Nacht in der Taverne. Ist ja nicht schlecht, dass
Dran einen so treuen Kunden in Euch hat, aber versucht nüchtern zu
sein, wenn Ihr Leute ansprecht."
"Ich bin nüchtern! Meinen Rausch habe
ich gestern Nacht schon ausgeschlafen." Crazen zerrte an Wais Tunika. "Ragnarök
wird kommen, ihr werdet alle untergehen!" Damit ging er Lonn aus dem Weg
und ließ den General seinen Weg fortsetzen.
"Bitte glaubt mir!", schluchzte Crazen im
Stillen.
Verrückter Spinner, dachte Wai im Weitergehen.
Bald erreichte er die Kaserne. Die Wächter
vor der Eingangspforte in den steinmauernumringten Innenhof blickten Wai
Lonn grinsend an.
"Heil Euch, General!", grüßte einer
der Wächter. "An Eurer Stelle würde ich Sprengmeister Lei aus
dem Weg gehen. Ach ja, General Nimbun erwartet Euch in der Taverne, er
meinte, ihr müsstet euch über Euren Liebling unterhalten."
Ein kurzes Kichern wich über die Lippen
der beiden Wachen, bevor sie den erbosten Blick Wais auf sich spürten.
Es konnte ja nicht geheim bleiben, hielt sich der General innerlich vor.
Sobald es um Risa und ihn ging wusste innerhalb weniger Minuten die halbe
Stadt und in allen Fällen die ganze Kaserne davon. Alle mussten nun
wohl annehmen, dass er in Imogen verliebt war.
Obwohl sie da nicht unbedingt so sehr
falsch lagen, hatte Lonn sich fest vorgenommen, alles abzustreiten. Es
wäre besser so. Manchmal meinte er, eine der berühmtesten Personen
der Stadt zu sein, was ihn aber nicht wirklich erfreute. Inzwischen war
der Vorfall auf dem Marktplatz garantiert Stadtgespräch Nummer eins.
Das schlechte an der Sache war aber, dass
alle die Geschichte aus Risas Sicht erzählt bekamen. Da galt es doch
einige Dinge klarzustellen. Was bildete sich diese Frau eigentlich ein?
Was immer sie erzählt haben mochte, nun wussten sie davon. Wai Lonn
spürte, wie Blut in seine Ohren floss. Die ganze Kaserne würde
nun annehmen, er sei in Imogen verliebt. Bis auf Crazen vielleicht, den
hielt Wai für viel zu blau. Auf einmal wurde Lonn aus den Gedanken
gerissen.
"Hey, Lonn!"
Jersey Kaimasu, Ausbilder der angehenden Diebe,
kam Wai Lonn entgegengelaufen, als dieser gerade den Gang zu seinem und
Leis Zimmer entlang zog.
"Habt Ihr schon das Neueste gehört?"
Lonn seufzte.
"Nein, was denn?", meinte er sarkastisch.
"Irgend so ein General soll Risa abgewimmelt
haben, weil er sich in Zorans Kleine verguckt hat. Süß, nicht?"
"Ja wirklich. Risa tut mir ja so schrecklich
leid."
"Nicht dass sie nicht hübsch wäre,
diese Imogen, sie ist sehr, sehr süß, sodass ich mich sogar
für sie begeistern könnte, aber ich vermute, dass der Korb für
Risa einige Probleme mit bestimmten Personen hervorrufen wird. Wie auch
immer."
Jersey Kaimasu zwinkerte Lonn mit einem "jetzt
aber ran an die süße Kleine"-Blick zu. Lonn lächelte ironisch.
Schnell zwängte er sich an Kaimasu vorbei
den Gang weiter und verdrückte sich in sein Zimmer. Freygos war glücklicherweise
gerade nicht da. Rasch suchte Wai sein Hab und Gut zusammen und verließ
den Raum auch schon wieder. Mit hastigen Schritten, damit er Freygos Lei
auch keinesfalls begegnete, lief er hinaus aus dem Schlafgebäude und
durch die Pforte aus der Kaserne.
Im Vorbeigehen rief er den Wächtern zu,
dass er nun bei seinen Mündeln in Zorans Haus wohnen werde.
Obwohl er nicht viel von einem Gespräch
mit Nimbun hielt, suchte er danach die Taverne auf. Als er das Gebäude
durch die alte knarrende Vordertür betreten hatte, starrten alle Anwesenden
auf ihn. Nimbun winkte ihn von seinem Stammtisch aus her. Lonn folgte der
Aufforderung mit drohendem Blick nach links und rechts zu den Leuten.
"Was hat sie euch erzählt!", begann Wai
während er sich gegenüber seinem Kollegen setzte.
"Oh bitte, Lonn! Habt Ihr keinen Durst? Lasst
uns auf Euren Erfolg anstoßen!"
"Welcher Erfolg?"
Sotal Nimbun betrachtete seinen halbleeren
Bierhumpen.
"Na der über Risa. Nun Seid Ihr sie los."
"Ich habe keinen Durst, danke. Ist das das
Einzige über das Ihr mit mir reden wolltet?"
Nimbun trank einen großen Schluck aus
seinem Humpen und schlürfte begierig den Rest des Schaums vom Rand.
"Nein, ist es nicht. Aber warum sagtet Ihr mir nicht gestern schon, dass
es Zorans Kleine ist."
"Weil das eine völlig falsche Interpretation
Risas ist. Ich wandte den ``Liebling´´ nur an, damit
sie mich zufrieden lässt."
Nimbun sah grinsend von seinem Bier auf.
"Kann jeder behaupten. Selbst wenn es nicht
Zorans Töchterchen ist, irgendeine ist es. Gestern habt Ihr das erwähnt."
Lonn kratzte sich nervös am Kopf und
spürte wieder Blut in seine Ohren laufen.
"Da muss ich mich versprochen haben, oder
Ihr Euch verhört."
"Ihr bekommt ja völlig rote Ohren. Kann
es sein, dass unser General versucht zu flunkern?"
Sich zu empören versuchend stand Wai
auf.
"Setzt Euch wieder, und nach einem erklärenden
Gespräch gehen wir dann gemeinsam zur Kaserne zurück."
"Das hättet Ihr wohl gerne. Ich gehe
sofort, aber nicht mehr zur Kaserne, ich wohne ab heute bei meinen Mündeln.
Guten Tag auch."
Damit nahm Wai sein Gepäck, das er neben
sich auf den Stuhl gelegt hatte, und kehrte der Taverne den Rücken.
Ich hasse diese Stadt, dachte er erbost
über die letzten Gespräche. Irgendwann, wenn nicht gar bald,
werde ich sie für alle Zeiten verlassen.
Mit zügigen Schritten marschierte Wai
Lonn zu Zorans Haus. Wai wusste nicht wieso, aber die ganze Zeit über
schwirrte das Wort Ragnarök in seinem Kopf umher. Was wäre, wenn
Crazen ausnahmsweise Recht hatte? Aber der Gedanke an so ein riesiges Unwetter,
wie es Crazen angekündigt hatte, schien dem General eher absurd. Kein
einziges Wölkchen war seit Tagen am Himmel gesehen worden. Er konnte
Scroll einfach nicht glauben, oder wollte er sich dazu nur nicht überwinden?
* * *
Kleiner, Junge, so langsam reichten Riyonn
die ständigen Verniedlichungen und Verkleinerungen seiner selbst.
Er war schließlich weder klein, noch hielt er sich für niedlich,
mit sechzehn Jahren.
Vor wenigen Tagen noch, und zwar vor seinem
Treffen mit Don Diaven, hätte Riyonn all seine Wut, seinen Frust geschluckt,
in sich angestaut. Er wusste nicht, was mit ihm vorging, doch nun konnte
er seinen Ärger nicht mehr hinnehmen. Es wollte alles hinaus. Beherrsche
dich, versuchte Riyonn sich unter Kontrolle zu halten. Sie war schon
sehr seltsam, diese Wandlung, die tief in ihm vorging, dieser schwarze
warme Strom, dieses innerliche Glühen...
Riyonn meinte sich kaum noch wieder zu erkennen.
Wie schon bei seinem Kampf mit Don Diaven, fühlte er sich, als begann
sich ein ihm einst verloren gewesener Teil seines Ichs wieder in ihm einzubauen.
Außerdem war ihm, als schwirrten tausende
Fliegen in seinem Kopf herum. Über sein Nachdenken vergaß Riyonn
seinen Ärger.
Mit einem Mal renkte sich ihm der Traum von
Noreel ins Bewusstsein. Auserwählter, auserwählt, gegen die Lich
zu kämpfen. Die Gräber zu finden. Doch wie sollte er das anstellen?
Taron nochmals zu fragen wäre irrsinnig, denn der würde ihn nicht
einmal mehr zu sich vorlassen.
Plötzlich kam Riyonn ein Gedanke. Don
Diaven war der Dagora des Feuers gewesen, und zu der Zeit, in der Riyonns
Begegnung mit dem Dämonen stattgefunden hatte, hatte es in Teras Andum
gebrannt - also wieder Feuer. War es dann abwegig, zu denken, dass die
anderen Dagoras auf ähnliche Art und Weise Riyonn kontaktieren wollten?
Aber was wäre wenn? Wer wäre nun an der Reihe?
Riyonn schrak auf. Das Unwetter! Hastig lief
er zum Schrank seines Vaters, wo er rasch den Brief Gerjyho-Zuras herausnahm.
Seine Augen überflogen die Zeilen des Briefs, bis er an der Aufzählung
aller zehn Dagoras angelangte.
Wasser - Kil`Yaeden, der nächste
Dagora war tatsächlich der Gebieter des Wassers. Crazen Scrolls Prognose
war nicht erfunden. Unschlüssig, was er jetzt tun sollte, sank Riyonn
auf den hölzernen Boden. Er musste die Stadt warnen, sie retten, die
Leute in Sicherheit bringen. Doch wie?
Plötzlich schlug ein Geistesblitz in
seinen verzweifelten Kopf ein. Wai Lonn! Mit aufgehelltem Gesicht stürzte
Riyonn zur Tür hinaus – und prallte somit direkt auf den überraschten
General.
"Riyonn!?"
Wai sammelte sein verstreutes Hab und Gut
zusammen und streifte sich den Straßenstaub von der Tunika.
"Wai, du musst mir zuhören! Das Unwetter,
von dem Crazen Scroll andauernd erzählt..."
"Hat er mit Ragnarök getauft, ich weiß.
Erstaunlich, für einen einzelnen Mann, so schnell eine Nachricht in
Umlauf zu setzen. Aber Unsinn verbreitet sich bekanntlich ja ziemlich schnell."
Riyonn schüttelte den Kopf.
"Das ist es nicht, was ich meine. Crazen hat
Recht!"
Mit durchdringendem Blick starrte Riyonn Wai
in die schwarzen Augen.
"Er kann dich nicht wirklich überzeugt
haben, oder?", hakte Wai ungläubig nach.
"Wai, ich werde dir jetzt etwas berichten,
aber dazu musst du schwören, alles zu glauben."
Der General nickte kurz.
"Also schön, ich schwöre."
"Gestern sind Imogen und ich, wie du weißt,
erst im Laufe des späten Vormittags zu Bett gegangen. Während
ich schlief, begegnete mir ein Wesen im Traum, das sich Noreel nannte,
deshalb auch die Frage an Taron. Dieser Noreel nannte mich Auserwählter,
und meinte, ich sei dafür auserwählt, gegen die Lich anzutreten.
Doch nicht allein ich hatte von Noreel geträumt, auch Imogen konnte
sich an ihn erinnern, als ich sie weckte. Einen einzigen Namen hatte Noreel
mir genannt: Gerjyho-Zura. Imogen und ich wussten, dass Zoran erst neulich
einen Brief von seinem Freund, der so hieß, bekommen hatte. Daraufhin
durchsuchten wir Vaters Schrank, bis wir den Brief in einem Geheimfach
entdeckten. Und was darin steht, lies selbst!"
Riyonn streckte Wai den Brief entgegen. Unentschlossen
darüber, was er von der ganzen Geschichte halten sollte, las Wai den
Brief durch.
"Nun?" Riyonn sah ihn fragend an.
"Schön und gut, hier steht nur nichts
von irgendeinem Unwetter."
"Ich war auch noch nicht fertig mit meinem
Bericht. Dieser Dämon namens Don Diaven, der in dem Brief erwähnt
wird, ist doch der Gebieter des Feuers, nicht?"
Wai Lonn zuckte ahnungslos die Schultern.
"Möglich, dass er das ist."
"Bei unserem Raubzug gab es auch Feuer."
"Schon, aber was hat das mit Diaven zu tun?"
Riyonn verdrehte die Augen.
"Unterbrich mich bitte nicht. Zunächst
einmal überhaupt nichts, für alle anderen, außer mir. Denn
dieser Don Diaven kämpfte gegen mich, bis zu dem Zeitpunkt, an dem
du und Imogen mich fandet. Doch er kämpfte eben nicht für alle
Augen sichtbar mit mir, sondern an einem schwarzen Ort. Solange ich bei
Diaven war, konnte mir das Feuer um mich nichts anhaben, was ihr ja bemerkt
hattet. Nun ist der Dagora des Feuers der erste auf einer zehnköpfigen
Liste, der zweite ist Kil`Yaeden, der Dagora des Wassers."
Wai Lonn bemerkte, wie allmählich Licht
in die Sache fiel.
"Du nimmst also an, weil Don Diaven dir in
einem Brand, so gesehen also Feuer, begegnete, kommt Kil`Yaeden mit dem
Unwetter, genauer gesagt mit dem Regen."
"Eben das. Das Unwetter, oder Ragnarök,
wie es Crazen laut dir benannt hat, ist Wirklichkeit, und ich weiß
nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt."
Beide schwiegen.
Wai dachte über das fast flehende Verhalten
Crazens nach.
"He, ihr beiden!"
Imogen trat auf einmal an die auf dem Weg
Sitzenden heran.
"Kein Wort zu ihr!", flüsterte Riyonn
Wai leise zu.
Dieser zeigte sich mit einem unauffälligen
Zwinkern einverstanden.
"Ich fragte mich schon wo ihr bleibt. Kommt
endlich herein, das Mittagessen steht auf dem Tisch.", mit dieser Aufforderung
ging Imogen allen voran ins Haus hinein und Richtung Esstisch.
"Kann sie denn kochen?" Wai stieß Riyonn
an.
"Ach, eigentlich schon. Sagen wir so, sie
hat Übung, lässt also nichts verbrennen oder so, weil sie es
seit Jahren macht, aber gut ist das Essen nicht."
Damit folgten die beiden Imogen. Wai mit einem
flauen Gefühl im Magen.
"Keine Sorge, es wird nicht ausgerechnet heute
schlecht ausfallen. Man kann davon leben, ich tu’ es doch auch.", versuchte
Riyonn den General zu beruhigen, weil er wohl gemerkt hatte, wie sehr er
ihn durch seinen Einblick in Imogens Kochkünste verunsichert hatte.
Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen setzte Imogen den
Männern je einen Teller Eintopf vor, setzte sich selbst vor einen
dritten und blickte in die Runde.
"Guten Appetit!"
Im Vergleich zu Riyonn und Imogen, die freudig
drauflos löffelten, starrte Wai unsicher auf den bunt gemischten Eintopf.
Schließlich rang er sich dazu durch, wenigstens einen Löffel
voll zu probieren. Doch seine Geschmacksnerven zeichneten das Gericht mit
"essbar"
aus, sodass Wai es beruhigt essen konnte.
Nach dem Mahl winkte Riyonn Wai zu, er solle
ihm folgen. Riyonn führte Wai Lonn in das Zimmer, in dem er, und früher
auch Zoran, schlief. Er wies Wai Zorans einstigen Schlafplatz zu und ließ
den General in aller Ruhe einziehen.
"Du wolltest mich reinlegen!", bemerkte Wai
mit einem Schmunzeln.
"Was das Essen anbetrifft? Na ja, es gibt
immer noch Frauen, die besser kochen, zumindest ließ ich mir das
sagen. Aber sie ist ja auch erst sechzehn."
"Ebenso wie du."
Riyonn lachte.
"Nein. Ich bin schon sechzehn. Das
bedeutet, dass ich ein erwachsener Mann bin, wobei ich von Imogens Verhalten
her zu urteilen sagen würde, dass sie noch nicht erwachsen ist."
"Sicher doch. Alle anderen männlichen
und weiblichen humanen Wesen gelten zwar eigentlich erst alle ab achtzehn
als Erwachsene, zumindest hier, im Reich Randuin, aber Riyonn Katapura
tut das selbstverständlich schon mit sechzehn. Ich finde, man sollte
sich nie älter machen als man ist, irgendwann bereust du es. Klar,
man möchte anerkannt und für voll genommen werden, kein Kind
mehr sein."
Wai postierte seinen eisernen Harnisch auf
einen im Zimmer stehenden Stuhl. Riyonn beobachtete ihn.
"Sprichst du aus Erfahrung?"
"Man könnte so sagen, ja. Ich sehe heute
ein, dass es nicht gut ist, sich schon mit vierzehn zum Leutnant erheben
zu lassen, selbst wenn man schon mit so geringem Alter eine große
Fertigkeit fürs Diebeshandwerk und Kämpfen mit Bogen und Lyk-tai
besitzt. Du lebst deine Kindheit nicht mehr aus, fühlst dich gezwungen
und unter Druck gesetzt mit so viel Verantwortung. Du wanderst von einem
Tief ins andere, bis du schließlich darüber hinwegkommst, falls
du es tust, wenn du älter wirst. Ich wurde mit sechzehn bereits zum
Hauptmann befördert, und das nur, weil ich, um meine Verzweiflung
zu vergessen, ständig trainiert hatte, mich stets nur auf meine Aufträge
konzentriert und in sie verbissen hatte. Trotz der Beförderung hatte
ich immer weniger das Gefühl zu leben, ich selbst zu sein, ich dachte,
ich stände auf Entzug von Freude. Daraufhin war ich die ganze Zeit
über meist depressiv, doch das nur innerlich. Ich hatte mir angewöhnt,
nach außen hin nicht zu zeigen, was ich dachte und fühlte. Das
machte mich für sämtliche Überfälle unentbehrlich,
weil niemand es fertig brachte, mich zu durchschauen. Schließlich
rief Taron mich in den Rang eines Generals, damals war ich gerade einmal
siebzehn. Vielleicht merkte er aber doch irgendetwas von dem, was ich fühlte,
und hielt mich zwei Mondumläufe von allen Raubzügen zurück,
sodass ich mir selbst überlassen war, und nachdenken konnte. Irgendwie
veränderten mich diese acht Wochen, nahmen mir allen Druck und ich
bekam wieder das Gefühl zu leben. Ich war Taron sehr dankbar. Heute
weiß ich, dass ich viel zu früh erwachsen zu sein hatte. Mein
Vater hatte mich bereits mit drei Jahren, bevor ich lesen und schreiben
konnte, zur Kaserne in Ausbildung geschickt. Nur weil er selbst zu dieser
Zeit noch General war, konnte er meine Aufnahme durchsetzen. Ich war aufgewachsen
im Training, unter lauter Kindern, die alle vier Jahre älter als ich
gewesen waren. Sie waren mir in vielen Dingen anfangs noch weit überlegen
gewesen, sei es um die Kraft, Sichtweite, Größe oder Wissen.
Mein Vater hatte dafür gesorgt, dass ich alles so schnell wie möglich
nachlernte, so hatte ich nach Feierabend Einzelschulunterricht, und tagsüber
in den Pausen der regulären Ausbildung extra Training von meinem Vater
bekommen, bis mir die anderen Kinder nicht mehr in Wissen und Kraft voraus
gewesen waren. Aber mein Vater starb bei einem Überfall auf eine Handelskarawane
auf dem Weg nach Kouwah. Von da an stand ich allein, denn meine Mutter
hatte ich nie kennen gelernt, weil sie bereits bei meiner Geburt gestorben
ist."
Wai hielt inne.
Sein Blick wanderte nachdenklich aus dem Fenster.
"Es tut mir leid."
Riyonn legte seine Hand auf Wais Schulter.
"Es muss dir nicht leid tun. Du bist selbst
Waise."
Wai wandte seinen Blick vom Fenster ab.
"Wir sollten uns wieder um die Gegenwart kümmern.
Ragnarök!"
"Du hast Recht."
Riyonn und Wai verließen das Haus.
"Wir sollten Crazen davon erzählen, dass
wir ihm glauben.", schlug Wai vor und Riyonn stimmte stumm zu. Sie gingen
unter der heißen Mittagssonne den Weg entlang zur belebten Hauptstraße,
um von dort aus zur Kaserne abzuzweigen. Als Wai, gefolgt von Riyonn, durch
die Eingangspforte in den Hof der Kaserne trat, steuerte sofort Freygos
Lei auf ihn zu.
"Lonn! Da seid Ihr endlich!", schnaubte Lei
durch seinen ungepflegten schwarzen Schnauzbart. "Ich hatte Euch für
geschmackvoller gehalten. Aber das seid Ihr nicht, sonst hättet Ihr
meine Tochter nicht so rücksichtslos verschmäht und eine Andere
ihrer Schönheit vorgezogen."
Wai seufzte. Nun fing das Theater wieder an.
"Hört, Lei, wir haben keine Zeit. Riyonn
und ich müssen dringend zu Crazen Scroll."
"Zu Crazen, soso? Ihr verschwendet Eure Zeit
also lieber damit, mit Zorans Möchtegerngroß zu Verrückten
zu gehen, als mit Eurem Zimmermitbewohner über die Gemeinheit zu sprechen,
die Ihr seiner Tochter Risa angetan habt, was ja wohl äußerste
Priorität hat?"
Wai warf Riyonn einen viel sagenden Blick
zu.
"Fangen wir systematisch an: Erstens, Riyonn
ist kein Möchtegerngroß, sondern ein junger Mann, zweitens,
Crazen ist nicht verrückt, sondern ein unverbesserlicher Scherzbold
und Trinker, drittens, Ihr seid nicht mehr mein Zimmermitbewohner, da ich
seit heute bei meinen Mündeln wohne, viertens, habe ich wirklich
besseres zu tun, fünftens, es war keine Gemeinheit, sondern eine Abfuhr,
die ich Eurer Tochter erteilt habe, und sechstens, konnte ich Risa noch
nie leiden, weil sie hässlich, arrogant, eingebildet, egoistisch und
selbstsüchtig ist. Guten Tag!"
Freygos wagte kein Wort mehr und wandte sich
schweigend von Wai und Riyonn ab.
Diese steuerten auf die Schlafsäle der
in der Kaserne untergebrachten Diebe zu. Crazen war nicht schwer zu finden.
Alleine saß er in einem dieser Säle auf seiner Bettkante, zusammengekrümmt
zu einem verzweifelten Häufchen Elend, den Kopf in den verschränkten
Armen vergraben. Selbst als Riyonn und Wai eintraten, sah er nicht auf.
Wai setzte sich neben den vermeintlichen Verrückten.
"Crazen?"
Crazen Scroll schreckte auf und starrte Wai
an.
"Was wollt Ihr? Ihr haltet mich doch auch
für verrückt. Alle tun das."
Riyonn ließ sich auf der anderen Seite
Crazens auf die Bettkante nieder.
"Wir glauben Euch."
Ein kurzes Lächeln huschte über
Crazens Gesicht, doch seine Miene erstarrte schnell wieder zu ihrem ursprünglichen
hoffnungslosen Ausdruck zurück.
"Ihr lügt, Ihr glaubt mir nicht! Keiner
außer mir glaubt an Ragnarök."
"Das ist keine Frage des Glaubens mehr", versicherte
Wai eindringlich. "Wir wissen, dass Ragnarök existiert."
Nun überzeugt davon, dass Riyonn und
Wai Lonn nicht mehr an seiner Vorhersage zweifelten, erhob sich Crazen,
lächelte und seine blauen Augen schienen zu leuchten.
"Wir müssen die ganze Stadt überzeugen!",
meinte er.
"Das habt Ihr doch schon tagelang versucht
und der Erfolg ist ausgeblieben. Wir würden höchstens noch einen
draufsetzen und plötzlich alle als verrückt gelten", stoppte
Wai Crazens überraschenden Übermut.
"Aber man muss doch irgendetwas tun können."
Riyonn blickte fragend in die Runde. Jedoch hatte keiner der dreien einen
guten Vorschlag zur Hand. Wortlos starrten sie zu Boden und überlegten
fieberhaft.
© Itariss
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