Für fast zwei Wochen hatte sie es geschafft, ihn zu meiden.
Stets hatte sie sich vorsichtig durch das Treppenhaus des Krankenhauses
geschlichen, atemlos an die Wand gedrückt, um im Falle des Falles
den Rückzug antreten zu können.
Nein, sie hatte zunächst überhaupt keine Lust gehabt,
auf ihn zu treffen, denn es war ja nicht wirklich Darius, sondern
ER, dieses gehässige Scheusal, der sie mit dieser Maskerade verhöhnen
und quälen wollte. Davon war sie felsenfest überzeugt. Und er
wusste ganz genau, weswegen sie Tag für Tag hinauf in die Intensivstation
wollte. Obwohl man Darius in ein Zimmer ein Stockwerk tiefer verlegt hatte,
hatte er jeden Tag am Fenster der obersten Etage gestanden, unglücklicherweise
in direkter Nähe der Treppe und der Fahrstühle. Stundenlang hatte
er dort verharrte und hinaus in die künstliche Landschaft gestarrt.
Sie hatte wohl oder übel warten müssen, bis er endlich
zurück in sein Zimmer gegangen war. Natürlich war das kindisch
und töricht gewesen, denn er wusste, wann sie in seiner Nähe
war und hätte leicht zu ihr kommen können.
Merkwürdig, dass dies nie geschah.
In ganz Shangri-La wunderte man sich darüber, dass ›Darius‹
nicht den kleinsten Kratzer abbekommen hatte, erklärte es jedoch mit
einer glücklichen Fügung des Schicksals.
Aber für Tigris war das der entscheidende Beweis, dass Bru’jaxxelon
seine Finger im Spiel hatte.
Und obwohl sie die Darius-Gestalt mied, schien Bru’jaxxelon dennoch
stets unsichtbar und schweigend durch Shangri-La hinter ihr her zu schleichen,
ja sogar durch Guulin Kherem, der Hochburg der DiSMaster, wo sie sich oft
aufhielt. Es gab keinen Tag, an dem nicht für lange Augenblicke die
reale Welt von seiner trostlosen, feindlichen Seelenlandschaft verdrängt
wurde oder seine Stimme durch ihre Gedanken raunte. Seit dem Tag seiner
Ankunft in Shangri-La hatte sich Tigris auf die Taktik verlagert, seinen
Spott und seine Drohungen so oft wie möglich zu ignorieren, doch das
schien ihn nicht im Geringsten zu stören.
Es war beinahe zum Verrücktwerden. Oh, das hatte er sich schön
ausgedacht. Wem sollte sie von ihrem Wissen erzählen? Und wer würde
ihr glauben? Vielleicht nur Antigua, die ja schon über Tigris’ Visionen
Bescheid wusste. Aber würde sie ihr auch abnehmen, dass der gefährlichste
Daimon aller Zeiten nun mitten unter ihnen herumschlich und nur darauf
aus war, Chaos und Unfrieden zu stiften? Jeden Tag war sie drauf und dran,
Ember in alles einzuweihen. Doch selbst bei ihm hatte sie bisher irgendetwas
zurückgehalten. Vielleicht die Tatsache, dass er und Savanni sehr
glücklich zu sein schienen und Tigris ihn nicht mit etwas belasten
wollte, von dem sie selber nicht wusste, was es zu bedeuten hatte, und
manchmal immer noch zweifelte, ob es die Wahrheit war oder nicht doch nur
Wahn ...
Doch just an jenem Tag, an dem sie sich vorgenommen hatte, dem Monstrum
nicht mehr auszuweichen und vielleicht mehr über seine Pläne
zu erfahren - er konnte zuweilen ziemlich redselig sein -, hatte ›Darius‹
nicht mehr an jenem Fenster gestanden, und die darauf folgenden Tage auch
nicht mehr: Man hatte ihn in ein Seminarhaus unten am See von Shangri-La
gesteckt. Dort lernten all jene die ersten Lektionen über das Leben
als Xendii und über die Daimons, die man unter den Neutralen entdeckt
oder die sogar aus Psychiatrien und Krankenhäusern befreit worden
waren. Danach hatten sie die freie Wahl, sich einer Xendi-Gemeinschaft
anzuschließen, aber auch in die Gebiete der Allianz zu wechseln.
Viele, die endlich die Wahrheit über sich und ihre Kräfte wussten,
entschieden sich sogar, weiterhin bei ihren Familien zu leben und dann
und wann einen Abstecher in die ›andere Welt‹ zu machen. Doch die meisten
hatten zermürbende, leidvolle Erlebnisse mit ihren menschlichen, nicht
übernatürlich begabten Artgenossen gehabt und zogen es vor, sich
völlig PAGAN und seiner Sache zu verschreiben.
Und nun war Darius auf freiem Fuß. Sie konnte also jederzeit
und unerwartet auf ihn treffen. Aber mit diesem Gedanken hatte sie sich
abgefunden. Bru’Jaxxelon hatte ihr ›Geheimnis‹ anscheinend noch nicht herausgefunden
und sie fand es eine gute Idee, ihn in dem Glauben zu belassen, sie hätte
eines. Damit gewann sie ihrer Meinung nach Zeit - Zeit, um herauszukriegen,
was das Amulett an Kräften verbarg, wie man sie jederzeit aktivierte
und wie man sie vielleicht gegen Bru’jaxxelon einsetzen konnte.
Unglücklicherweise war sie in dieser Hinsicht keinen Schritt
weiter gekommen: Es hatte sich seit ihrer erstaunlichen Entdeckung nicht
mehr verändert. Die kleine zwölfblättrige Blüte und
der winzige Schmetterling befanden sich immer noch an der gleichen Stelle
und hatten sich nicht mehr bewegt, ein Blütenblatt glühte immer
noch bläulich.
Aber auch Mira etwa, die in dem Schmuckstück den Schlüssel
für eine geheimnisvolle, bislang unbekannte Dreizehnte Node sah, hatte
nicht das Geringste herausgefunden. Nicht einmal das DimensioNet gab Informationen
her.
Die Älteren hatten ohnehin andere Sorgen und nie Zeit. Selbst
ihre Mutter war oft für PAGAN unterwegs, um herauszufinden, ob bestimmte,
verdächtige Menschen tatsächlich Daimons waren oder nicht.
Bat Furan, Ras Algheti und Antigua hingen Tag und Nacht mit den
DiSMaster zusammen.
Sicher, Tigris konnte jederzeit bei Aévons Truppe mitmachen.
Doch darauf hatte sie im Moment keine Lust, denn dort drehte sich nur alles
um das nächste DiSMaster-Tournament und andere illegale Aktivitäten.
Alle trainierten, als stünde demnächst eine große Schlacht
gegen die Allianz an - oder was davon übrig war, nachdem Circumpolaris
ausgetreten war, alle Passagen in seine Doméns gesperrt hatte und
Atlantika endlich offiziell PAGAN angehörte.
Und außerdem hatte sie etwas Wichtigeres zu tun, als den ganzen
Tag Dashes und Jets durch die Gegend zu schießen. Etwas, das sie
voll und ganz ausfüllte, das ihr das Gefühl gab, den ersten Sieg
über Bru’jaxxelon davon getragen zu haben. In dieser Hinsicht hatte
er jedenfalls nicht gewonnen: Das am schwersten verletzte Opfer von Excelsior
war noch am Leben, wenn auch in ein Koma gefallen.
Nur deshalb zog es sie Tag für Tag hinauf in die Intensivstation.
Wann immer sie konnte, besuchte sie ihn in seinem abgedunkelten
Zimmer, wie auch an jenem Nachmittag Mitte Mai, fast einen Monat nach seiner
Einlieferung.
Da lag er, der Arme, eingewickelt wie eine Mumie, während der
Herz-Kreislauf-Monitor regelmäßig ›Ping‹ von sich gab. Nachdem
er vierzehn Tage in dem Gemisch aus einer Nährlösung und DiS
gelegen hatte, um seine Verbrennungen zu heilen, hatte man ihn schließlich
aus dem DiS-Tank geholt, rieb ihn mehrmals täglich mit einer DiS-angereicherten
Salbe ein und verband ihn anschließend wieder von Kopf bis Fuß.
Nur die Augen, Nasenlöcher und der Mund waren ausgespart worden.
Tigris erinnerte sich an das dunkle Blau dieser Augen, an den Schmerz,
der aus ihnen herausgeschrieen hatte und fragte sich, wann er sie endlich
wieder öffnen würde.
Und sie würde vielleicht die Erste sein, die er dann sah.
Jeden Tag saß sie bei ihm, die erste Zeit nur schweigend.
Doch dann hatte sie begonnen, zu ihm zu reden, erzählte ihm von den
Daimons, die nun inkarniert waren, von den Machenschaften der RSA und schließlich
sogar dann und wann von ihren eigenen Sorgen.
Natürlich nicht von diesem Scheusal, sie wollte ihn ja nicht
beunruhigen.
Falls er sie überhaupt hören konnte ...
›Arme, kleine Mumie‹, dachte sie. Noch dazu bisher namenlos.
Was hatte er wohl an Schrecklichem erlebt? Er sah so zierlich aus,
so zerbrechlich - und war doch scheinbar zäher als so manche andere.
Doch ob er jemals wieder erwachte?
»Ich bin sicher, du bist bald völlig gesund. Mira meint,
von den Verbrennungen ist kaum mehr etwas zu sehen, du hast Glück
gehabt, dass der DiS-Tank schon erfunden wurde. Im Moment siehst du zwar
aus wie ein Pharao im Museum, aber das wird schon noch.«
Sie hatte den Kopf auf sein Polster gelegt und betrachtete seine
geschlossenen Augen. Wie lang seine Wimpern gewachsen waren. Seidig sahen
sie aus, fast mädchenhaft. Viel konnte man ja nicht von seinem Profil
unter dem Verband erkennen, doch seine Nase schien ebenfalls klein zu sein.
Und dann sein schöner Mund: Seine Oberlippe war voller als
die Unterlippe, so dass es so aussah, als schmollte er ein wenig.
»Ich bin gespannt, wie du so bist. Ich denke, du bist nett.
Jemand mit solchen Wimpern bis zum Knie kann nur nett ein. Weißt
du, was die Krankenschwestern vorhin gesagt haben? Du hättest Sommersprossen
auf der Nase. Sie sehen dich ja jeden Tag ohne Verband. Ich weiß,
man sollte ein bestimmtes Wort nicht für einen Jungen verwenden. Aber
sie meinten, du seist ...entschuldige, es ist wirklich nicht böse
gemeint: Du seist niedlich. Und ich erzähl einen Haufen Unsinn, ich
weiß.« Sie seufzte und setzte sich wieder gerade auf den Stuhl,
ohne ihn jedoch aus den Augen zu lassen. Sie hatte ihn schon jetzt in ihr
Herz geschlossen, auch wenn er nur dalag, angeschlossen an den Tropf und
unzählige Kabel, und Gott sei Dank regelmäßig atmete.
Sie strich vorsichtig über seine verbundene Hand, die regungslos
neben seinem Körper auf der Bettdecke ruhte, als es an der Tür
klopfte und Ilvyn lächelnd ins Zimmer kam.
»Dachte ich es mir doch, dass du hier bist. Wie geht es ihm?«
Die junge Seherin trat an das Krankenbett und betrachtete die verbundene,
schmale Gestalt darin mitleidig.
»Unverändert. Die Seher meinten, es wäre so eine
psychische Sache. Nicht aufwachen wollen, oder so. Aber ich gebe die Hoffnung
nicht auf.« Tigris zupfte mit einem schiefen, traurigen Lächeln
die Bettdecke glatt.
»Hast du vielleicht ein bisschen Zeit?«, fragte Ilvyn.
Tigris sah kurz auf ihre Uhr. »Ich muss auf jeden Fall noch
gleich in die Mongolei. Aévon will etwas ungemein Wichtiges besprechen.«
»Höchstwahrscheinlich ein illegales Motorrad-Rennen«,
brummte Ilvyn missbilligend. »Wie viele Verweise muss PAGAN denn
noch aussprechen, damit er einsieht, wie verantwortungslos er handelt?«
»Ich glaube, er sammelt die Dinger. Jedenfalls hängen
solche Schriftstücke in den Fluren von Guulin Kherem an der Wand.«
Tigris unterdrückte ein Grinsen. So beliebt Aévon und die DiSMaster
unter den Jugendlichen waren, so haarsträubend und unmöglich
fanden ihn fast alle, für die Recht und Ordnung zwei heilige Güter
darstellten, ihre eigene Mutter und Ilvyn natürlich miteingeschlossen.
»Ich bin wenigstens froh, dass du nicht an diesem wahnwitzigen
DiSMaster-Turnier teilnehmen möchtest. Wenn doch nur Bat Furan und
die anderen genauso denken würden!«
»Ich glaube, sie sehen die DiSMaster inzwischen als einen
Ersatz für Windwibbenburg an. Und sie hassen die Allianz grenzenlos,
vor allem Antigua. Sie wollen Rache für alles. Aévon ist ihnen
dabei gerne behilflich.«
»Ach, dann weißt du noch gar nicht das Neueste: Die
Allianz existiert nicht mehr. Shangri-News hat vor einer halben Stunde
gebracht, dass Umbriel und Adhara den Austritt ihrer Doméns aus
der RSA erklärt haben. Mira meint, das sei auch für Orientalis
die Gelegenheit, endlich die volle Kontrolle über ihre Gebiete zu
erhalten. Die Lage ist vollkommen verworren, die Menschen größtenteils
verängstigt. Die Kirchen und Tempel waren noch nie voller als in diesen
Tagen.« Ilvyn, die ihre Haare mittlerweile pfiffig-kurz trug,
blieb gedankenverloren am Herz-Kreislauf-Monitor hängen. Dann tauchte
sie mit einem Mal aus ihren Überlegungen auf und sah Tigris ernst
an.
»Also, wenn du einen Moment Zeit hättest, Tigris. Ich
recherchiere nämlich immer noch an dieser Barujadiel-Sache und mir
ist eben schon wieder etwas Merkwürdiges passiert, wie bei diesem
Buch, das ich auf genauso mysteriöse Weise in Prag gefunden habe und
das leider in Wind-« Ilvyn schluckte. »Das zurückgeblieben
ist.«
»Ja, ich erinnere mich.« Tigris furchte die Stirn. »Aber
deine Theorie, dass Barujadiel ein gefallener Engel und außerdem
der jetzige Siebte Shinn sein soll, stimmt auf jeden Fall nicht.«
Tigris schüttelte energisch mit gefurchter Stirn den Kopf. »Nein,
auf keinen Fall. Barujadiel ist gut, das fühle ich deutlich.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich diese Theorie auch fallen lassen,
nachdem ich im DimensioNet einiges über diese Mistviecher von Shinnn
gelesen habe. Der jetzige Siebte Shinnn war vorher ein Melegon und ist
durch Empowerment zu einem Shinnn geworden, wie es wohl die Regel ist.«
Tigris musste schmunzeln: Das sollte die verhuschte, ängstliche
Seher-Schülerin aus Windwibbenburg sein? Wie selbstverständlich
sie von den Daimons und noch dazu von den Shinnn sprach. Man konnte sagen,
was man wollte: Ilvyn hatte sich vielleicht von allen am meisten verändert.
Sie besuchte mit Begeisterung sämtliche Seher-Seminare und verstand
sich mit Mira blendend, die sie immer zu öffentlichen Ratsitzungen
mitnahm. Denn Mira hielt große Stücke auf das junge Mädchen
und hatte ihr erst kürzlich einen Nebenjob in ihrem Beraterstab verschafft,
wo sie für Recherchen und andere unterstützende Tätigkeiten
eingesetzt wurde.
Tigris strich noch einmal über die Hand ihres ›Schützlings‹,
bevor sie aufstand und mit Ilvyn in das kleine Stück Wildgarten ging,
wo sie in Ruhe miteinander reden konnten.
Sie ließen sich in der Nähe des Flusses unter einer Trauerweide
nieder, die Schatten spendete.
Es gab wie angekündigt bestes Spätfrühlingswetter,
die Temperatur erreichte über 28°. Im frei wucherndem Gras zirpte,
summte und raschelte es, der azurblaue Himmel stach wolkenlos durch die
Lücken im Geäst der Bäume.
»Also, ich bin auf eine neue Spur im Fall Barujadiel gestoßen«,
fuhr die junge Seherin eifrig fort, wobei ihr die Brille im Überschwang
etwas von der Nase rutschte. »Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich
bin auf eine neue Spur gestoßen worden. Schon wieder, wie mit dem
Buch. Es war heute in der Bibliothek, ich saß am Computer und recherchierte
für PAGAN im DimensioNet, als ich kurz aufgestanden bin, um mir einen
Kaffee vom Automaten zu holen. Ich schwöre dir, ich habe keine zwei
Minuten gebraucht und hatte den Computer die ganze Zeit im Blickfeld. Und
als ich mich wieder daran gesetzt habe, standen auf einmal diese beiden
Worte in der Suchmaschine, ich musste nur noch auf GetDiS klicken.«
»Welche zwei Worte?«, fragte Tigris mit großen
Augen.
» ›Taneeth Weltentempler‹.
Durch diese Kombination bin ich auf eine Seite der FreeDaimons-Homepage
gelangt, dort, wo die Geschichte und die Gründungsmitglieder aufgelistet
sind. Taneeth ist einer von ihnen und schon seit ein paar hundert Jahren
tot. Er war ein Cherub und eigentlich tut weniger sein Name oder er etwas
zur Sache als vielmehr seine Religion: Er war der letzte dieser Weltentempler.
Interessant ist auch, dass die FD nur wenig später gegründet
worden ist, nachdem er in den so genannten Club der Materiphilen eingetreten
war.«
»Das hört sich aber nach etwas mächtig Schweinischem
an.«
»Ist aber etwas Nettes: Daimons, die materielle Welten mehr
lieben als die Daimonsion. Gegründet worden war dieser Club von Omrishah.
Er war also der Vorläufer der Free Daimons.«
»Omrishah, schon wieder. Wo hat er eigentlich seine Finger
nicht drin?«, knurrte Tigris augenrollend, zog ihre Sandalen aus
und hielt ihre Füße in das kühlende Wasser des Flusses.
»Ich finde ihn unwahrscheinlich faszinierend«, seufzte
Ilvyn verträumt. »Ich würde alles drum geben, einmal mit
ihm sprechen zu dürfen. Leider steht er ja immer noch unter Hausarrest.«
»Und was hat jetzt dieser Taneeth mit Barujadiel zu tun?«,
fragte Tigris, ungeduldig mit den Füßen im Wasser planschend.
»Warte ab: Die Weltentempler wurden lange Zeit sowohl von
den Zerrafin als auch Shinnn religiös verfolgt, wegen Gotteslästerung
und Störung des Seelenfriedens der Daimons. Erst als Omrishah die
Daimonkratie und damit Religionsfreiheit eingeführt hat, hörten
die Verfolgungen auf, aber da gab es auch schon fast keine Weltentempler
mehr.
Die Weltentempler hatten keine geoffenbarten Schriften - oder Schwingungen,
wie ein Daimon jetzt wohl sagen würde. Aber sie hatten eine Art Gründungsmythos.
Und ein Auszug daraus findet man, wenn man sich die Biografie von Taneeth
auf der Homepage der FD durchliest. Ich habe es dir ausgedruckt.«
Ilvyn zog einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Jeanstasche und überreichte
ihn Tigris, die ihn gespannt annahm.
Wir Weltentempler glauben daran, dass vor langer Zeit zwei Angoleahs
auf die Erde hinab gestiegen waren und geheim als Menschen unter den Menschen
lebten, um mit ihnen die ideale Gemeinschaft aufzubauen, die von Liebe
und Verantwortung gegenüber sich selbst und den anderen geprägt
ist. Die Angoleahs errichteten diese Gemeinschaft in einer Stadt, deren
Name zusammen mit ihr ausgelöscht wurde und die wir Die-Stätte-die-in-unseren-Herzen-fortbesteht
nennen.
In dieser Gemeinschaft hatte der Einzelne große Freiheit,
die nur dort beschnitten wurde, wenn sie das Leben und das Glück anderer
gefährdete. Jeder einzelne war gleichwertig unter Gleichwertigen,
es gab keinen König und keine dominierende Religion.
Diese Stadt zog auch andere Daimons und Menschen an, die dort friedlich
miteinander lebten und arbeiteten.
Durch Verrat wurden die beiden Angoleahs entlarvt, die Stadt durch
missgünstige Daimons dem Erdboden gleichgemacht. Die ideale Gemeinschaft
war zerstört. Aber die Erinnerung an sie und an die Angoleah haben
wir Weltentempler bewahrt. Uns wurde auch der Name von einem der beiden
Angoleah überliefert. Er lautet Diél.
Bis heute bestreiten die Zerrafin, dass es unter ihnen jemanden
diesen Namens gegeben hat.
Tigris sah überrascht auf. »Diél! Barujadiel. Das
ist er.«
Ilvyn schmunzelte. »Schon möglich. Aber für mich
ist die Verbindung Weltentempler-Club der Materiphilen-FreeDaimons-PAGAN
am interessantesten. Denn PAGAN hat viele seiner Grundsätze eins zu
eins von der FD übernommen, vor allem den Grundsatz, dass man keine
Beweise für oder gegen Gottes Existenz hat, jede Diskussion über
ihn sich daher erübrigt und die Energie stattdessen besser auf die
Probleme des Lebens vor dem Tod aufgewendet werden sollten.«
»Meine Güte ...dann ist Diél so etwas wie ein
Revolutionär«, rief Tigris aufgeregt und sah die Seherin triumphierend
an.
»Falls an diesem Weltentempler-Mythos etwas wahres dran ist«,
entgegnete Ilvyn nachdenklich. Dass jene Sekte von den Zerrafin ausgerottet
worden sein sollten, ließ ihr keine Ruhe. Denn immer noch stellten
die Sieben ›Erzengel‹ etwas Besonderes für sie dar, auch wenn sie
ihnen nicht mehr die kritiklose Ehrfurcht wie früher entgegenbrachte.
Aber sie besuchte oft die Homepage der der Sieben Zerrafin, wo sogar ihre
d-Mail-Adressen vermerkt waren. Ilvyn fragte sich, ob sie nicht umgehend
eine Nachricht an Mikkiyell senden sollte, der für Presse, Medien
und Öffentlichkeitsarbeit bei den Z7 verantwortlich zeichnete. Sie
wollte von den Zerrafin eine Stellungnahme zu dem Fall der Weltentempler
haben. Aber ob sie noch zu Lebzeiten eine Antwort bekommen würde?
Mit einem Mal schrak sie auf und fuhr herum.
»Was ist los?«, fragte Tigris.
»Ach, nur ein Tier oder so. Mir war eben, als stünde
jemand hinter mir.«
Tigris’ Augen weiteten sich vor Schreck. Dann überkam sie das
bekannte Frösteln tief in ihrer Brust, das Seine Anwesenheit bestätigte.
»Tja«, meinte Ilvyn verlegen. »Wenn man jahrelang
eingetrichtert bekommen hat, dass an jeder Ecke ein böser Teufel lauert,
kann man seine Schreckhaftigkeit nicht so schnell überwinden.«
Tigris schluckte und senkte rasch den Blick. Oh ja, er war hier,
bei ihnen. Und anscheinend hatte er sie schon die ganze Zeit belauscht,
denn Tigris spürte eine merkwürdige Stimmung von ihm ausgehen:
Unruhig, verwirrt und aufgewühlt. Das kalte, dunkle Land seiner Seele,
welches für Momente vor ihrem geistigen Auge erschien, hatte sich
in dichten, rastlos wabernden Nebel gehüllt und vibrierte wie durch
ein Beben. Offenbar beunruhigte ihn das, was Ilvyn herausgefunden hatte,
zutiefst.
Und schließlich hörte Tigris ihn knurren: ›Ich habe genug
von diesen Rätseln! Was hält mich nur ab, alle deine Geheimnisse
und dich einfach in Flammen aufgehen zu lassen?‹
Tigris zog rasch die Beine an den Körper und lehnte ihre Stirn
gegen sie.
»Tigris? Geht es dir wieder schlecht? Soll ich dich nicht
besser ins Krankenhaus bringen?«, hörte sie Ilvyn besorgt fragen.
»Es geht gleich vorbei«, wisperte Tigris unglücklich.
›Warum wird all das nach so langer Zeit ans Tageslicht gezerrt?
Was bezweckt der Eloyah damit?‹, regte sich Bru’jaxxelon weiterhin auf.
Tigris konnte wahrnehmen, dass er wie ein Irrwicht planlos in den Bäumen
umherschoss.
›Natürlich, er weidet sich an den Qualen, die die Erinnerungen
bringen. Ich hatte sie fortgesperrt, in das tiefste, dunkelste Verlies
meines Selbst. Aber jetzt seid ihr beide dort eingebrochen, die Gefangenen
sind hinauf in mein Herz geflüchtet und fangen wieder an, mich zu
zerfressen.‹
Eine schreckliche Eingebung durchzuckte ihren Geist und sie schaute
in die Baumwipfel.
›Es war in dem Text von Verrat die Rede. Du bist es, nicht wahr?
Du bist dieser Verräter!‹
Sie kam gar nicht dazu, diesen Gedanken genug zu bereuen.
Unter dem fassungslosen Blick von Ilvyn, die vor Entsetzen schockgefror,
wurde Tigris wie von Geisterhand in die Höhe emporgehoben. Nicht einmal
zu schreien fiel ihr ein, so sehr überraschte sie der plötzliche
körperliche Angriff des unsichtbaren Daimons, der sie wie eine Puppe
durch die Luft schleuderte und geradewegs in den Fluss warf, begleitet
von wildzornigen Verwünschungen.
Tigris tauchte prustend und hustend aus dem Wasser auf und schwamm
wütend augenblicklich zurück zum Ufer. Triefendnass und mit hasserfülltem
Gesicht schaute sie um sich.
»Du kannst nur nicht die Wahrheit vertragen, gib es zu!«,
brüllte sie, während Ilvyn sie mit großen Augen und offenem
Mund dabei beobachtete.
›Nenne mich meinetwegen Bestie oder Scheusal, aber nie wieder einen
Verräter!‹, dröhnte Bru’jaxxelon telepathisch zur Antwort, was
sie augenblicklich vor bohrenden Kopfschmerzen ins Gras sacken ließ.
»Es macht dir zu schaffen, das fühle ich deutlich. Ja,
das kann ich. Du warst dort, in dieser Stadt«, sagte Tigris leise
und schaute zu den Bäumen empor, ungeachtet Ilvyns verstörten
Blicken, die sich ebenfalls umsah.
Wie jähzornig dieses Monstrum werden konnte, hatte Tigris während
der vergangenen Wochen schon fast vergessen. Er hatte sie soeben daran
erinnert.
Und er war launisch, seine Stimmungsschwankungen kamen von einem
Moment zum anderen.
Selbstzerfleischende Trauer trieben Tigris augenblicklich die Tränen
in die Augen, als er mit ungewohnt zitternder Stimme wohl mehr zu sich
selber als zu ihr sprach.
›Ich erinnere mich. Erinnere mich. Diese Stadt ... wir waren so
glücklich. Wir wollten nie wieder zurück.‹
Unerwartet berührte etwas sie einen Handbreit über ihrem
Steißbein, ein klirrendkaltes Gefühl, als ob sich dort eine
unsichtbare Hand leicht auf ihre Haut legte.
›Ich erinnere mich wieder deutlich.
Dieser ungewohnte Körper, so schwerfällig - und so empfindlich
...‹
Der zarte Druck wanderte ihr Rückgrat hinauf, schritt Wirbel
für Wirbel ab.
Verwirrt kniff sie die Augen zusammen.
Da war etwas merkwürdig Vertrautes an dieser Berührung
...
Es ging weiter nach oben, bis in ihren Nacken und glitt dann seitlich
an ihrem Hals entlang bis zu ihren Wangen.
Die Stimme des Daimons war nicht mehr als ein Hauchen, selbstvergessen,
verloren in seinen Gedanken. ›Ja, ich erinnere mich vor allem daran. Weich.
Süß. Magnetisch.‹ Unendlich langsam und sanft fuhr etwas über
ihren Mund, zeichnete die Konturen ihrer Lippen nach.
Sie wagte sich nicht zu rühren, obwohl das reinste Gefühlschaos
in ihr ausgebrochen war. So gerne sie auch augenblicklich aufgesprungen
und vor seiner Berührung geflohen wäre, hielt sie jedoch etwas
Stärkeres zurück.
›Blitz und Donner, Erdbeben und Orkan, vereint in einer so einfachen
Berührung.
Wie sehr ich es vermisse, dieses Küssen.
Das war eines der schönsten von den Dingen, weswegen wir nie
wieder fortwollten von hier.
Und was für Gefühle mit diesem Körper möglich
waren.
Jeden Flecken auf ihrem wunderbaren Kontinent habe ich selbst erkundet
und mit stürmischer, gnadenlosen Zärtlichkeit erobert, so wie
auch sie meinen Körper, mein Herz und schließlich meine Seele
überwältigt und für immer unter ihre königliche, liebevolle
Herrschaft gestellt hat.‹
Die unsichtbare Hand wanderte über ihr Kinn und ihre Kehle.
›Denn kein Körper der Welt, weder der eines Menschen oder eines
Daimons, vermag solch eine glücksentfesselnde, beinahe schmerzhafte,
alles überschwemmende Lust zu erzeugen wie die Verschmelzung zweier
Seelen. Alleine der Gedanke daran macht mich wahnsinnig, und ich kann mich
beinahe nicht zügeln.
Soll ich hier und jetzt von deine Seele kosten, kleines Erdengeschöpf?
Oder vorher deinem Tempel Ehrehrbietung darbringen und ihn vorbereiten
für die Ankunft wildester Energien?‹
Tigris fühlte ihr Gesicht heiß werden. Was für anzügliche
Unverschämtheiten! Seine gewisperten Worte stießen sie ab und
faszinierten sie gleichzeitig.
Und Ilvyn beobachtete sie weiterhin mit angehaltenem Atem.
›Schau an, der Gedanke behagt dir insgeheim. Was für ein rätselhaftes
Geschöpf bist du nur?‹
Und mit diesen Worten entfernte er sich. Zumindest konnte sie ihn
von einem Moment auf den nächsten nicht mehr wahrnehmen.
»Was war das, Tigris?« wagte Ilvyn endlich zu fragen
und sah sich beklommen um.
»Ich glaube nicht, dass du es wirklich wissen wollen würdest,
Ilvyn«, entgegnete Tigris erschöpft und resigniert.
»Und ich glaube nicht, dass du mich gut kennst. Ich will doch
immer alles wissen«, antwortete die junge Seherin leise.
Tigris starrte sie unentschlossen an. Von alleine wäre sie
niemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet Ilvyn von Bru’jaxxelon
zu erzählen.
»Ich fühle, dass du einen riesigen Sorgenstein mit dir
herumschleppst. Abnehmen kann ich ihn dir sicher nicht, aber ich kann dir
tragen helfen. Ein bisschen wenigstens. Und überlegen, wie du ihn
fort bekommst«, fuhr Ilvyn zaghaft fort.
Tigris wischte sich über die Augen, so gerührt und dankbar
war sie wegen dieses Angebots. Warum eigentlich nicht? Ilvyn war klug und
hartnäckig. Vielleicht konnte sie ihr tatsächlich helfen.
Doch noch viel tröstlicher erschien ihr die Aussicht, endlich,
endlich jemandem von wirklich Allem erzählen zu können.
»Eigentlich hat es schon eine Woche vor meinem Geburtstag
angefangen ...«, begann Tigris.
.
Die verängstigten Einwohner New Yorks wagten sich nachts gar
nicht mehr auf die Straße.
Schuld daran waren die verfluchten Gargoyles, die das Empire State
Building sowie die Freiheitsstatue zu ihren Quartieren erkoren hatten und
nach Einbruch der Dunkelheit durch die hell erleuchteten Straßenschluchten
segelten. Sie hielten dabei Ausschau nach Menschen, die schnell über
die Straßen hechteten oder sich zu weit aus dem Balkon lehnten, um
auf sie herabzustoßen, sie mit ihren messerscharfen Klauen zu packen
und kreischend mit ihnen einige Runden in etwa tausend Metern Höhe
über der Stadt zu drehen, bevor sie sie anfangs regelmäßig
im Central Park über den Wiesen oder in die Springbrunnen abwarfen.
Unglücklicherweise gab es einige Todesfälle deswegen, woraufhin
die Gargoyles dazu übergingen, ihre Passagiere in den East River plumpsen
zu lassen, was zwar die Zahl der Toten minimierte, doch die Wut und die
Angst der New Yorker überhaupt nicht schmälern konnte. Da halfen
auch Beschwichtigungsversuche wie herabprasselndes Geld oder großzügige
Carepakete mit Bier und Chips nicht weiter, was auch schon das Einzige
war, was die fünfzehn Daimons von den Benimm-Kursen bei PAGAN in Erinnerung
behalten hatten. Vielleicht hätte man doch nicht nach nur wenigen
Stunden von dort ausbüchsen sollen?
Auch hatten die Meute der über fünf Meter großen,
geflügelten Daimons mit den gelben Augen ihre helle Freude daran,
urplötzlich über den brechend vollen Kirchen aufzutauchen und
unflätige, gotteslästerliche Ausdrücke zu schreien oder
die Hits von Marilyn Manson im Chor zu grölen - was die Menschen nur
noch mehr davon überzeugte, es mit der Brut Satans zu tun zu haben.
Mit Schaudern erzählte man sich, wie sie Autos auf den Highways
kidnappten und ins Meer warfen, oder gleich ganze Züge und U-Bahnen
zum Entgleisen brachten. Nachts stolzierten sie zudem gerne in Manhattan
herum, verwüsteten dabei dieses oder jenes Lokal und fraßen
mit Vorliebe Popcorn. Jedenfalls sahen die Straßen der Metropole
jeden Tag aufs Neue nach Super Party aus, so wie die Gargoyles das Popcorn
und auch Konfetti und Luftschlangen großzügig auf dem Asphalt
zu verteilen pflegten.
Tagsüber begnügten sie sich mysteriöserweise damit,
von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer zu springen oder sich gegenseitig Noten
für die gelungensten Saltos von Miss Liberty zuzurufen.
Es ging gar das Gerücht um, es gäbe Menschen, die sie
zu sich in die obersten Etagen des Empire State Building holten, um mit
ihnen über Fußball zu diskutieren - was jedoch als Mär
abgetan wurde. Diese Kreaturen sollten vernunftbegabt sein?
Nein, sie waren durch und durch böse und es gab kaum jemanden,
der nicht Rettung herbeisehnte.
Daher blieb jeder New Yorker interessiert vor den Holzschilder stehen,
die Anfang Mai in der ganzen Stadt an den Straßenlaternen aufgetaucht
waren.
| DIES IST DIE ZEIT DER LETZTEN DÄMMERUNG. GOTTES REICH IST NAHE.
SEID VOLL DES MUTES |
oder
| LASST UNS DAS REICH DER LETZTEN DÄMMERUNG GEMEINSAM ERSCHAFFEN,
AUF DASS WIR ERRETTET WERDEN, WENN DIE EWIGE NACHT HEREINBRICHT |
Aber auch
| DIE ENGEL GOTTES WERDEN SICH ZEIGEN. HALTET EUCH BEREIT. |
Und
| DIE ENGEL GOTTES UND DER PROPHET WERDEN EUCH NICHT IM STICH LASSEN. |
Nicht zu vergessen
| UND SEIN ZEICHEN WIRD SEIN, DASS SEINE KRIEGER DIE HÖLLENBRUT
ZERMALMEN. SEID OHNE FURCHT! |
Wer steckte hinter diesen Anschlägen? Und konnte man ihn wirklich
ernst nehmen? Sollten tatsächlich Engel erscheinen und die verhassten
Gargoyles hinwegfegen? Wenn es doch nur wirklich so geschähe! Wie
bitter nötig man doch jemanden hatte, der Licht in diese verwirrende
Zeit brachte, einen Weg zeigte, der aus dem ganzen Schlamassel wieder herausführte.
Und dann, drei Wochen nach dem ersten Erscheinen der Monstren ...
Langsam zog sich das Tageslicht hinter den Horizont zurück
und lieferte die geplagte Stadt wieder den Gargoyles aus. Die Schatten
eroberten die Straßenzüge aufs Neue, so sehr sich die Menschen
auch mit ihren bunten Lichtern dagegen wehrten.
Plötzlich schossen tiefrote Kugeln durch den Himmel, die mit
lautem Knall explodierten und ebenso rote Nebelschwaden in die Dämmerung
entließen. Sie strebten jedoch schnell wieder aufeinander zu, zogen
sich zusammen, verwirbelten sich und formten langsam ein riesiges, leuchtenrotes
Schwert mit zwei Flügeln an der Klinge und einer Art roten Heiligenschein
über dem Knauf.
Das riesige Symbol verharrte für fünf Minuten still und
ehrfurchtgebietend über der Stadt -
Lange genug, um immer mehr Köpfe in den Fenstern der Hochhäuser
und Wolkenkratzer auftauchen zu lassen, die gebannt gen Himmel blickten.
Doch das war nur der Anfang eines noch viel spektakuläreren
Auftritts.
Mit einem Mal gingen mehrere Sirenen in ganz New York los - und
immer mehr von ihnen fielen in das monotone, unheimliche Heulen ein.
Die Gargoyles versammelten sich allesamt auf dem Empire State Building,
um über die rätselhaften Vorkommnisse zu beraten.
Fassungslos rissen auch sie die Augen auf, als die düsteren
Wolken mit einem Mal von Speeren grellen Lichts durchstoßen wurden.
Viele Menschen hingegen fingen laut zu weinen und vor Verzückung
zu schreien an, so überirdisch schön war diese Helligkeit.
Und dann - dann schwebten sie an den Lichtspeeren hernieder.
Engel.
Große, kraftvolle, wunderschöne Engel mit durchdringend
hellen Augen, glänzenden Locken und weiten, schneeweißen Schwingen.
Ihr Erscheinen löste eine wahre Massenhysterie aus: Die Menschen
strömten furchtlos aus ihren Häusern auf die Straße, laut
singend und geradezu irre vor Freude. Im Sekundentakt fielen etliche vor
überbordender Ekstase in Ohnmacht. Niemand dachte mehr an die Gargoyles
oder andere Dämonen. Jubelrufe, Hallelujas und Hosiannas schallten
durch die Betoncanyons.
Die Engelsschar schwebte langsam und elegant zur Erde hernieder.
Ihre Gewänder glitzerten, als wären sie über und über
mit Diamantsplitter übersät.
»Höret!«, rief ein besonders prachtvoller Engel
mit haselnussbraunem Haar zu der immer weiter anschwellenden Menschenmenge
am Times Square hinunter. »Fürchtet euch nicht mehr! Ihr alle
sollt errettet werden, wenn ihr dem Propheten folgt. Denn dies ist die
Zeit der letzten Dämmerung, wo Dämonen auf die Welt entlassen
werden, um Spreu vom Weizen zu trennen. Folgt der Wahrheit und dem Geflügelten
Schwert, und Gott wird euch erretten und zu sich nehmen, wenn er die Himmel
zusammenfaltet, die Berge glättet und die Meere freigibt, auf dass
sie alles Land und alles Leben verschlingen.«
Und die Menschen schauten sich erwartungsvoll um: Wo war der Prophet?
Die Engel landeten mitten vor dem Paramount Building, einem hohen
Gebäude im Art-Deco-Stil, wobei die Menschen ehrfürchtig vor
ihnen zurückwogten, denn zu atemberaubend, geradezu unerträglich
schön war ihr reiner Anblick.
Sie formierten sich zu acht Reihen aus Sechsen.
Nur gut, dass der respektvolle Abstand dafür sorgte, dass kein
Mensch hörte, was sie untereinander zu tuscheln hatten.
»Da kommt ein Team von CNN!«, wisperte ein Engel aufgeregt
in den hinteren Reihen. »Sehe ich gut aus? Nicht irgendwie ... overdressed?«
»Als ob jemand auf die billigen Ränge achtet«,
höhnte einer weiter vorne süffisant.
»Glaubst du, sie werden uns interviewen? Vielleicht sieht
mich Quentin Tarrantino und bietet mir eine Rolle an!«, meinte ein
goldgelocktes Geschöpf verträumt.
»Du warst schon in ›Der Daimon, der mich liebte‹ scheiße«,
knurrte der besonders prachtvolle Engel mit den haselnussbraunen Haaren.
»Warum sollte er dich überhaupt in Erwägung ziehen?«
»Du bist doch nur neidisch, dass du nicht die Rolle bekommen
hast und stattdessen diese blöde Sendung für frischentschlüpfte
Cherubim moderieren musstest.«
»Könnt ihr mal vielleicht ein wenig leiser sein?«,
regte sich ein anderer der vordersten Engel auf. »Der MoZ liegt sehr
viel an diesem Auftrag. Und du weißt, wie sie sein können, wenn
man etwas verpatzt. Wenn hier nicht alles so wie abgesprochen läuft,
töten sie uns. Also benehmt euch gefälligst nach Drehbuch!«
»Würdet ihr Dummons ganz hinten endlich diesen Typen
hinter uns durchlassen? Er spielt den Propheten und damit die Hauptrolle!«,
zischelte der besonders prachtvolle Engel böse.
Augenblicklich schwebten sie alle beiseite, damit ein Mann aus ihrer
Mitte vor die Menschen treten konnte.
Diesen blieb der Mund fast offen stehen: Dies sollte ein Mensch
sein? Er sah noch schöner aus als die Engel, die ihn beschützend
umgaben.
Seine topazgrünen Augen wanderten die fassungslosen, hysterischen,
drängelnden Reihen der Menschen entlang.
Und was Umbriel sah, erfüllte ihn mit fast unerträglicher
Verachtung und grenzenlosem Triumph.
Er hatte die Schäfchen dieser Stadt genau da, wo er sie haben
wollte.
Genau an diesem Ort würde es seinen Anfang nehmen, sein Reich,
das er der Blutigen Mutter und ihren Kindern zu Füßen legen
würde.
Und so lächelte er sein mildestes, schönsten Lächeln,
hob die Arme und rief der Menschenmasse zu: »Seid ihr der Dämonen
müde?«
Die Menschen brüllten und schluchzten: »Ja!« »Befreie
uns!« »Rette uns!«
»Aber seid Ihr es auch wert, dass GOTT euch errette? Schaut
in eure Seelen! Was habt ihr bisher für Gott getan? Liebt ihr Ihn
denn wirklich?«
Es gab viele Rufe wie ›Ja, Gott ist unser Zeuge!‹ ›Wir gehen jeden
Tag in die Kirche!‹ ›Wir sind Sünder, doch wir bereuen!‹, vereinzelt
auch betretenes Schweigen. Viele kamen ins Grübeln. Hatte man nicht
fortwährend göttliches Gesetz übertreten? Hatte man sich,
bevor die Gargoyles kamen, nicht einen Dreck um die Heiligen Schriften
gekümmert und sein Leben hemmungslos genossen? War man tatsächlich
wert, errettet zu werden, nach all den Sünden, die man angehäuft
hatte?
»Doch ich verkünde euch Frohe Botschaft von IHM!«,
rief der überirdisch schöne Mahner, dem man mittlerweile ein
Mikrofon besorgt hatte. Ohne Unterlass flammten Blitzgewitter auf: Die
Reporter konnten gar nicht genug Photos von ihm und den Engeln machen.
Auch zahlreiche Kameras blieben gebannt an ihnen kleben und nahmen jede
Sekunde des Ereignisses auf. Was für eine unglaubliche Story! Was
für phantastische Zeiten doch angebrochen waren! Freude und Furcht
vermengten sich zu einem aufputschenden Gefühl, aus dem heraus die
Menschen jeden Satz Umbriels bejubelten.
»Er ist ein strenger Richter und doch voller Gnade! Es ist
nie zu spät, zu ihm zurück zu kehren und sich ihm vollkommen
zu verschreiben. Er hat gesehen, wie die Menschen leiden, nicht nur unter
den Kreaturen der Hölle, die freigelassen worden sind. Wollt ihr nun
bereuen und umkehren?«
Und wieder gab es tosenden Applaus und überschäumende
Gefühlsausbrüche.
»Mein Name ist Umbriel und ich verkünde euch nun die
Wahrheit und die Zukunft: Ich wurde gesandt, um euch zurück in Gottes
liebende Arme zu führen und die Wahre Religion zu verkünden.
Um mich sind Getreue Diener, die von den Engeln wahrhaft unglaubliche Kräfte
verliehen bekommen haben. Sie werden euch von dem Bösen befreien,
das über euren Köpfen lauert. Doch das Böse in euch selbst
und in euren Gemeinden müsst ihr selber bekämpfen. Wenn ihr nur
an Gott und seine Gebote festhaltet, werdet ihr siegreich sein! Und gebt
Obacht auf diejenigen, denen ebenfalls starke Kräfte von ihren Satanen
verliehen worden sind. Sie sind gottlos und geben sich abscheulichen Sünden
hin. Doch hier und heute gründen wir ein Reich, in das sie nicht ihre
gotteslästerlichen Ideen hineintragen können. Hier ist der Mittelpunkt
von Gottes Reich, und wir werden unsere Grenzen stetig ausdehnen im Kampf
gegen die Höllenbrut und die sündigen Heiden und Teufelsanbeter!
Seht die Krieger, die mir die Engel selber an die Seite gestellt haben.«
Die Schar der Engel teilte sich wieder, um zehn Männern und
Frauen in schwarzen Uniformen Platz zu machen. Ihr Anführer war hochgewachsen
und sah überaus furchtlos und hart aus.
»Dies ist Thanatos, Gottes Schwert der Gerechtigkeit. Ich
bitte euch nun, wieder zurück in eure Häuser zu gehen und nicht
vor Sonnenaufgang zurückzukehren, denn es wird gefährlich sein,
wenn er und seine Schar die Dämonen zum Kampf herausfordern. Doch
habt keine Sorge: Gott und die Engel sind mit uns. Wir werden siegreich
sein! Und morgen könnt ihr euch selber davon überzeugen, dass
Sein Heiliges Reich angebrochen ist. Gott segne euch. Und Sein Friede sei
mit euch.«
Noch während die Menschen jubelten, tauchte Umbriel in die
Schar der Engel ein und verschwand.
Thanatos und seine Truppe standen zusammen und beratschlagten offenbar
die Vorgehensweise, während sie immer wieder in den Himmel sahen.
Dann setzten sie sich unter den Augen der Menschenmenge in Bewegung - in
Richtung Empire State Building. Etliche Kamerateams folgten ihnen entgegen
Umbriels Warnung dabei, während die Engel wieder emporstiegen. Was
für ein erhabener Anblick! Fasziniert und erschüttert sahen ihnen
die Menschen nach, hoben immer wieder die Köpfe, während sie
sich langsam zerstreuten.
Thanatos und seine Truppe jedoch fuhren aufs Dach des Empire State
Building, dessen Eingänge sie für die Kamerateams verschlossen.
Man legte jenen noch einmal nahe, besser Schutz zu suchen.
Doch niemand wollte sich womöglich atemberaubende, spektakuläre
Bilder von einem biblischem Kampf entgehen lassen, weswegen die Teams sich
kurzerhand in die obersten Stockwerke der benachbarten Wolkenkratzer einnisteten.
So kam es, dass noch in der gleichen Nacht in der ganzen Welt pausenlos
Berichte und Filme von einem schier unglaublichen Ereignis gesendet wurden.
Millionen von Menschen sahen die zehnköpfige Truppe das Dach
des Empire State Building stürmen. Sie verschossen rote und blaue
Strahlen und hüllten sich in glühende Lichtgespinste, wenn die
Gargoyles zurückschossen. Diese wehrten sich zunächst verbissen,
attackierten die heldenhaften Krieger aus der Luft, doch einer nach dem
anderen ging kreischend in Feuer auf, das ihn rasch verzehrte. Und wer
von den Übriggebliebenen fliehen wollte, bekam glühende Kugeln
hinterher geschossen, die ihn brennend in die Häuserschluchten stürzen
ließen.
Kein einziger Gargoyle überlebte den Sonnenaufgang.
Doch die Welt hatte von da an nur noch ein Gesprächsthema:
Umbriel und seine siegreichen Krieger.
Ihnen zu Ehren wurde von dem Bürgermeister New Yorks wenige
Tage später eiligst eine Parade abgehalten. Sämtliche Fernsehsender
rissen sich um ein Interview mit ihnen, doch Umbriel zog es vor, von Kirche
zu Kirche und von Sportstadion zu Sportstadion in ganz Amerika zu reisen,
um auch dort das Reich Gottes zu predigen und geplagte Städte von
Dämonen zu befreien.
Was er allerdings zu erwähnen ›vergaß‹, war die wohl
unbedeutende Tatsache, dass es eine Sorte mächtiger Wesen gab, die
bei 10,2% DiS-Level noch nicht von den Menschen gesehen werden konnten
und inkarnierte Cherubim mit einem müden Lächeln vernichteten.
Auf Anweisung ›von oben‹ nämlich waren die Melegonin der Zerrafin
dazu angehalten worden, Umbriel und seine Gotteskrieger in jede Hinsicht
zu unterstützen.
Und auch die Melegonin der Shinnn hatten ihre Befehle.
Diese lauteten:
1. Alle Möglichkeiten nutzen, weitere Noden unter Kontrolle
zu bringen und ganz zu öffnen.
2. Ausschau nach dem Menschenmädchen halten, das höchstwahrscheinlich
ein wichtiges DiSfakt mit sich herumträgt.
3. Prüfen, ob Bru’jaxxelon sich tatsächlich auf dieser
Welt aufhält.
In Bezug auf den ersten Befehl lief alles äußerst zufriedenstellend,
was man vom Letzteren gar nicht behaupten konnte.
Was hingegen den zweiten Punkt anging, so hatte die MoSh bereits
sehr aufschlussreiche Informationen von verschiedenen Daimons erhalten
und eine Neuner-Mannschaft Melegonin in die Gebiete PAGANs entsandt.
Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie das Mädchen
aufspüren würden.
.
Guulin Kherem quoll geradezu aus den Nähten. In dem kerzenerleuchteten
Gemeinschaftssaal, den die Windwibbs das erste Mal bei dem überraschenden
Seminar nach Equinox Veris kennen gelernt hatten, drängelten sich
über hundert Jugendliche und junge Erwachsene zusammen und tuschelten
aufgeregt miteinander.
Noch kein einziger der DiSMaster war zu sehen, aber man erwartete
mit Spannung, dass jeden Moment einer der Wandteppiche an den Lehmmauern
zurückgeschlagen würde und die beliebten Mitglieder der Truppe
vor sie traten.
Was wollte Aévon ihnen denn nur Wichtiges mitteilen, dass
er alle geladen hatte, die zurzeit für das DiSMaster-Tournament trainierten?
Oder verriet er endlich, wo und wann das nächste aufregende und selbstverständlich
illegale Rennen oder weitere, harte ungenehmigte Zweikämpfe stattfanden?
»Ihr wollt also allen Ernstes gegen Daimons antreten, ja?«,
erkundigte sich Tigris bei ihren Freunden. Sie saßen alle ganz weit
vorn, nah bei Rosanjin und Celestine.
Tigris kraulte schon seit zwanzig Minuten Callisto, einen schwarzweißrotgescheckten
Hauskater, der zusammen mit fünf anderen Katzen in Guulin Kherem lebte
und sich behaglich auf ihrem Schoß ausgebreitet hatte. »So
etwas würde ich niemals mitmachen, das ist doch Selbstmord.«
»Die Daimons sind nur nebensächlich«, entgegnete
Bat Furan knapp. »Unser Ziel ist immer noch, diejenigen zu finden
und zu bestrafen, die Windwibbenburg ausgelöscht haben. Hier lernen
wir soviel, das wir dafür gebrauchen können.«
»Genau. Und ich will von der Allianz wissen, wo meine Mutter
ist. Oder ob sie sie vielleicht auch schon längst getötet haben,
diese Bestien!« knurrte Antigua.
»Wolltest du nicht auch weiter mit uns trainieren?«
fragte Ras Algheti Tigris missbilligend. »Stattdessen hängst
du jeden Tag bei dieser Mumie herum und textest ihn zu. Bestimmt wacht
er nur deswegen eines Tages schlagartig auf und knallt dir als erstes eine.«
»Ich denke nicht, dass er mir eine knallen würde. Ich
wäre froh, wenn ich ihn dadurch aufwecken könnte. Aber niemand
weiß, ob und wann er aus dem Koma aufwacht.«
Sie kraulte Callisto noch energischer vor stiller Wut, was ihr mit
einem ärgerlichen Biss in die Hand samt anschließendem Fauchen
vergolten wurde. Der Kater sprang auf, schüttelte sich und wollte
sich dann beleidigt davon trollen, als er plötzlich erstarrte, die
Ohren spitzte und sich wachsam knurrend im Raum umsah.
»Was hat er andauernd für Probleme?«, brummte Ras
Algheti, der diese merkwürdige Verhaltensweise schon einige Male bei
dem Tier beobachtet hatte.
»Er sieht wohl Gespenster«, meinte Antigua.
Tigris jedoch musste tief durchatmen und versuchte den Impuls zu
unterdrücken, einfach aufzuspringen und ›Lass mich endlich in Ruhe,
du Monstrum!‹ durch den Raum zu schreien. Denn Bru’jaxxelon war hier, sie
fühlte seine Anwesenheit deutlich, so wie offenbar auch Callisto,
der sich inzwischen aufgeplustert hatte und immer noch leise knurrte. Er
starrte dabei in Richtung des von Fackeln erleuchteten Korridors, der zu
den Passagen in die Burg führte.
Aus diesem kamen ein weiterer Pulk junger Menschen, die stehen blieben
und sich nach freien Sitzplätzen umsahen.
Und dann entdeckte Tigris einen alten Bekannten.
Sie hatte sich schon eingehend mit dem Gedanken vertraut gemacht,
früher oder später auf ihn zu treffen, doch dass es ausgerechnet
in Guulin Kherem geschah...
Hastig wandte sie den Blick ab und senkte den Kopf, denn noch schien
er sie nicht unter der Vielzahl Leute entdeckt zu haben.
Aber damit wog sie sich in falscher Sicherheit.
»Einen wunderschönen Guten Abend wünsche ich, Milady«,
sagte eine wohlvertraute Stimme nur wenige Augenblicke später neben
ihr.
Tigris traf beinahe der Schlag: Der gleiche Klang, dasselbe Timbre
und die nur zu bekannte, altmodisch erscheinende Wortwahl. Sogar der sanfte,
ironische Unterton, wie sie in Erinnerung hatte, schwang in seinen Sätzen
mit.
Obwohl sie fühlte, dass Bru’jaxxelon innerlich zornig, verstimmt
und auf eigenartige Weise aufgewühlt war, vermochte er es in seiner
Inkarnation anscheinend glänzend zu überspielen.
Ihre Eingeweiden schienen sich vor Schreck gleichzeitig aufeinander
zu stürzen, ihr Herz feuerte sie dabei mit wilden Schlägen an.
Sie nahm jedoch all ihren Mut zusammen und heftete entschlossen
ihren Blick an sein Gesicht. Dünn war es geworden, doch es schaute
nicht mehr so ausgezehrt wie noch vor einigen Wochen aus. Unergründlich
dunkel wie ehedem sahen seine Augen aus.
Das einzige, was sich gravierend an ihm geändert hatte, waren
die Haare, die nun raspelkurz waren und mittelbraun in Natura.
Und natürlich, dass er in Wahrheit jemand ganz anderer war.
»Milady ... Wenn schon, Miladies«, sagte Antigua, ihm
undeutbar zulächelnd.
Seine schwarzen Augen wandten sich der Ruferin zu, anerkennend hob
er die dunkle Braue.
»Entzückend. Wie konnte ich mir nur diesen Fauxpas leisten?
Guten Abend also, Miladies and Gentlemen.«
»Redest du immer so komisch?«, fragte Bat Furan belustigt.
»Stets und zu allen Zeiten. So ist gesichert, dass man mich
unter hundert anderen augenblicklich heraushört. Und man bleibt im
Gespräch.«
»Du bist also Darius«, sagte Antigua und bot ihm sogleich
eine Zigarette an, die er jedoch lächelnd ablehnte. Er ließ
sich neben ihnen nieder.
»Also bin ich Darius. Wer seid ihr? Ich meine viele von Tigris’
guten und vermeintlich guten Freunden zu kennen, aber euch habe ich noch
nie gesehen. Gehört ihr auch zu diesem PAGAN-Verein?«
»Mehr oder weniger«, antwortete Bat Furan und stellte
sich und die beiden anderen kurz vor. »Wir wollen allerdings DiSMaster
werden. Der Anführer und Burgherr, sozusagen, will hier etwas angeblich
Wichtiges loswerden. Fall bloß nicht in Ohnmacht, wenn er gleich
erst einmal seinen Freund abknutscht, er ist nämlich schwul.«
»Das macht mir nichts aus. Möge doch knutschen, wer knutschen
will. Knutschen ist etwas Schönes, was man von vielen anderen Sachen
nicht behaupten kann, nicht wahr, Tigris?«
»Sehr wahr, Darius. Absolut wahr.« Sie betonte seinen
Namen überdeutlich und musterte sein Gesicht. Was für ein Scheusal
Bru’jaxxelon doch war! Hätte sie nicht die Wahrheit gewusst, sie hätte
tatsächlich geglaubt, den echten Darius vor sich sitzen zu haben.
»Ja, ich weiß, du bist verstimmt wegen dieser Sache
in Düsseldorf«, meinte Darius daraufhin nachdenklich, wobei
er sie jedoch nicht ansah. »Es tut mir leid, dass ich dich mit hineingezogen
habe. Dein Rachegott hat mich dafür schwer bestraft.« Er zog
die Brauen zusammen und sah scheinbar interessiert auf seine Hände.
Wie er so dasaß, gekleidet in Jeans und einem schwarzem Hemd, ging
scheinbar nichts besonders bedrohliches von ihm aus. Tigris fühlte
einen dicken Kloß in ihrer Kehle hängen.
›Gib dir keine Mühe, du Scheusal‹, dachte sie hasserfüllt.
›Deine Maske ist genial, in der Tat. Aber vielleicht hättest du nicht
damit prahlen sollen, dass du mir ein Geschenk gebracht hast. Du willst
mich um den Verstand bringen. Das wird dir nicht gelingen.‹
Doch Bru’jaxxelon antwortete nicht, sondern zog es offenbar vor,
sie einfach nur seine zornige Anwesenheit spüren zu lassen und ansonsten
einen friedlichen Darius zu mimen.
»Man hat mir über die DiSMaster schon einiges berichtet,
weswegen ich mich entschlossen habe, ihnen beizutreten.«
»Du wirst nur DiSMaster, wenn du einen Zweikampf gegen einen
anderen Xendi oder einen Daimon bestehst. Man überlebt es nicht unbedingt«,
klärte ihn Ras Algheti auf.
»Auch das habe ich noch in Erinnerung aus einem Gespräch
in dieser merkwürdigen, unglaublichen Stadt namens Shangri-La.«
Darius nahm sich eine Limonade, die ein Junge auf einem Tablett weiterreichte.
Tigris beobachtete, wie er das Glas leerte. Sie hatte in Shangri-La schon
zahlreiche inkarnierte Daimons gesehen und wunderte sich auch bei Darius,
wie lebensecht sie wirkten.
»Nun, das kann mich nicht schrecken«, erklärte
dieser weiter. »Ich habe Dinge gesehen, gegen die ein Daimonwettkampf
ein Sonntagsausflug ist.«
»Das glaube ich dir gerne«, sagte Bat Furan hoch interessiert.
»Außer dir haben nur vier andere diese Hölle überlebt.
Da müssen irgendwelche Bomben hochgegangen sein, so gründlich
ist dieses Excelsior vernichtet worden.«
»Es war besser so. Lebend wäre ohnehin niemand von dort
entkommen. Wer sich als zu gefährlich herausstellte, wurde ohne Gnade
von den Ärzten eingeschläfert. Oder man landete auf dem Seziertisch«,
sagte Darius heiter, doch seine Stimme schwankte ein wenig. Tigris musste
Bru’jaxxelon insgeheim Respekt zollen. So echt...
»Ich frage mich allerdings, wie es zerstört worden ist.
Ich erinnere mich nicht an die letzten Tage dort. Alles war so verschwommen,
wie in Watte gepackt. Dann wurde es schwarz und kalt. Und als ich die Augen
wieder geöffnet habe, stand kein Stein mehr auf dem anderen, alles
war voller Qualm und Feuer. Und dann standen diese PAGAN-Leute vor mir
und brachten mich fort von dort. Der Alptraum hatte plötzlich ein
Ende. Eine zweite Chance wurde mir gegeben. Warum, das weiß ich noch
nicht.«
»Sei doch einfach froh, dass du es überlebt hast«,
meinte Antigua. »Und wenn du erst einige Stunden Kampfunterricht
hattest, kann dir auch so schnell nicht mehr jemand etwas anhaben.«
»Oh, Darius ist absolut nicht hilflos«, bemerkte Tigris
ätzend. »Nicht wahr, Darius. Du könntest uns bestimmt alle
locker in die Tasche stecken.«
Darius hob die Braue. »Wäre ich dann in Excelsior gelandet?
Ich kann einiges - aber sicherlich können mir die DiSMaster noch viel
mehr beibringen. Ich werde jedenfalls ein eifriger Schüler sein.«
»Warst du etwa auch bei der Allianz? Oder ...hat dich irgendeine
von diesen blöden BAD-Company Sekten eingeweiht?«, fragte Antigua
und beobachtete dabei genau seine Reaktion.
Doch Darius hielt ihrem Blick mit einem schwach spöttischen
Lächeln stand, als er antwortete: »Derjenige, der mir einige
erstaunliche Kniffe beigebracht hat, kam eines Tages nicht mehr. Er war
ein guter Lehrmeister. Hart, bisweilen grausam, doch über die Maßen
geschickt im Umgang mit Aethron, beziehungsweise DiS.« Darius senkte
rasch den Blick, als er noch schnell hinzufügte: »Seinen Namen
hat er mir nicht genannt.«
Antigua musterte ihn misstrauisch.
»Heißt er zufälligerweise Bru’jaxxelon?«,
knurrte Tigris, die in Stimmung war, das Scheusal zu enttarnen und dabei
zu ertappen, wie es sich selbst verriet.
»Bru- wer? Ich weiß nicht, sagte ich.« Darius
wandte sich etwas ärgerlich aussehend ab.
Zu seinem Glück, wie Tigris dachte, tauchten endlich die DiSMaster
auf und verteilten sich auf die Sitzkissen, die noch leer vor der Menge
der jungen Leute herumlagen.
Aévon spazierte als letzter in den Gemeinschaftssaal. Er
wirkte unverkennbar gut gelaunt und tatendurstig. Seine honigfarbenen Augen
strahlten vor Energie.
Darius starrte ihn überrascht an, dann richtete sich sein Blick
auf Tigris, die sich demonstrativ nur noch auf Callisto konzentrierte.
Der Kater hatte ihr noch eine letzte Chance eingeräumt, ihn mit ausgiebigem,
sanftem Kraulen zu verwöhnen.
»Das ist Aévon, ihr Halbbruder«, antwortete Antigua
für ihre Freundin, die offenbar gewillt war, kein Wort mehr mit ihrem
alten Bekannten zu wechseln.
»Ein halber, warmer Bruder. Was für merkwürdige
Haken das Leben doch manchmal schlägt«, bemerkte Darius amüsiert.
Aévon hatte sich im Schneidersitz vor die versammelte Mannschaft
gesetzt und lehnte sich mit einem Arm auf Rosanjins Schulter, um ihm etwas
ins Ohr zu flüstern. Tiefe, zärtliche Blicke gingen zwischen
den beiden hin und her.
Dann endlich wandte sich Aévon vollkommen seinen Schülern
zu.
»Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, und Willkommen
zu einem geselligen Beisammensein im Staatsgebiet von Guulin Kherem.«
Die letzten, die noch miteinander plauderten, verstummten genauso
überrascht wie ihre aufmerksameren Genossen.
»Ja, ihr habt richtig gehört. Um 14:00 Ortszeit beschlossen
die hier anwesenden DiSMasters, Guulin Kherem zu annektieren und unter
ihre alleinige Herrschaft zu stellen. Wir verbleiben zunächst einmal
im PAGAN-Verbund, denn die Gegenseite, die Schmusegern-Allianz, ist ein
wenig aufgelöst, wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, und ohnehin
keine Alternative für freiheitsliebende junge Xendii.«
Die jungen Menschen vor ihm kicherten unsicher. Was hatte das alles
zu bedeuten?
»Außerdem erkläre ich den Staat Guulin Kherem zur
daimonfreien Zone. Jeder dieser Typen ist frei zum Abschuss, sollte er
es wagen, in einem Umkreis von 50 Meilen auf unserem Staatsgebiet spazieren
zu gehen.
In diesen beschissenen Zeiten mit einem DiS-Level von mittlerweile
10,2% sehe ich es als die Hauptaufgabe der DiSMasters an, die Anzahl der
Daimons auf ein Wohlfühl-Niveau zu bringen, das bei mir persönlich
gegen 0 tendiert. Wir werden uns ab sofort um alle unerwünschten Gäste
dieser Welt kümmern, die meinen, keine Regeln befolgen zu müssen
und ihren Ego-Trip fahren. Als erstes gibt es eine Warnung von uns. Erwischen
wir sie noch einmal bei Aktionen gegen Menschen, eine kleine schmerzhafte
Erinnerung und schließlich, für die ganz Harten unter ihnen,
den Tod. Daimons, die es besonders wild treiben und Menschen gefährden,
können ohne Vorwarnung erschossen werden. PAGANs Schmuseverfahren
mit tränenreicher Rücksendung durch die Tore dürfte ohnehin
nach der Präsidentschaftswahl bald sein Ende finden.«
Der erste Applaus brandete auf, doch Aévon hob die Hand und
ließ den Beifall verklingen.
»Die DiSMasters haben noch weitere Ziele: Die geöffneten
Noden wieder zu schließen, den DiS-Level wieder unter die 9%-Marke
bringen und uns dann endlich dem Rest der Welt widmen. Aber das Letztere
wird wohl noch ein Weilchen dauern.
Für diese ehrgeizigen Projekte brauchen wir genauso ehrgeizige,
entschlossene Leute. Die DiSMasters sollen zu einer verschworenen Gemeinschaft
werden, in der jeder jedem blind vertrauen kann.
Und deswegen gibt es ab sofort zwei Bedingungen, um bei uns mitmachen
zu können. Neben dem obligatorischen DiSMaster-Tournament, in dem
ihr euer Können oder natürlich auch Versagen unter Beweis stellt,
muss jeder Neuling selbstverständlich Bürger des Staates Guulin
Kherem werden und hierher auswandern.«
Aévon gab nach diesen Worten den jungen Leuten Gelegenheit,
alle Neuigkeiten erst einmal sacken zu lassen und miteinander darüber
zu palavern. In den meisten Gesichtern stand Begeisterung geschrieben,
wie er befriedigt feststellte. Viele DiSMaster-Anwärter verbrachten
ohnehin schon viel Zeit in der Mongolei beim Training.
»Und welche Staatsform wählt der Staat Guulin Kherem?«,
rief Darius Aévon mit hoch erhobenen Brauen zu.
»Diktatur, natürlich. Mein Ego ist zu groß für
eine Demokratie«, antwortete Aévon grinsend.
»Nun, denn. Ich neige ohnehin eher dem Feudalismus zu und
hoffe, dass wenigstens hier Peitschenhiebe wieder eingeführt werden.
Ich stelle mich gern als Kerkermeister zur Verfügung.«
»Peitschenhiebe, danach lechzen sie doch förmlich, tsss.
Es gibt für einige Herren hier sicher keine größere Strafe,
als meine Füße und noch viel mehr von mir massieren zu müssen.«
»Du bist in der Tat unglaublich grausam. Ich werde dir treu
dienen.« Darius senkte gespielt untertänig mit seinem typischen
spöttisch-amüsierten Lächeln den Kopf.
»Wenigstens einer!«, lachte Aévon.
Tigris jedoch war geradezu sprachlos. Dieses Monstrum wickelte erfolgreich
ihren Bruder ein, nachdem er schon bei Antigua gepunktet hatte!
»Wir werden hier wohnen?« vergewisserte sich Ras Algheti
bei Aévon begeistert.
»Nein, wir bauen für unsere Schüler-Untertanen einen
Slum vor den Toren der Burg, damit ich jeden Morgen beim Frühsport
vor dem Fenster eine befriedigende Aussicht genießen kann.«
»Ich hätte dann bitte auch gerne ein Zimmer mit Blick
auf unsere Untertanen«, meldete sich Shirooka zu Wort. »Und
einen Leibeigenen nur für mich alleine, mit dem ich machen kann, was
ich will.« Sie warf Bat Furan einen tiefen Blick zu, den er mit einem
mehrdeutigen Lächeln quittierte.
»Da in Guulin Kherem leider nicht sehr viele Präsidentensuiten
zur Verfügung stehen«, wandte sich Aévon wieder an die
jungen Leute vor ihm, »werden sich mehrere Leute einen Raum teilen
müssen. Zum Trost dürft ihr diese Räume so gestalten, wie
es euch gefällt. Es gibt viel zu tun hier, viel zu organisieren, sobald
ihr eingezogen seid, und das auch noch neben Training, Einsätzen und
Abfeiern. Wobei wir letzteres zwar nicht übertreiben, aber dafür
umso romantischer gestalten werden.
Das also war mein Wort zum - was haben wir heute eigentlich? - Nun
ja, das war das Wort zur Woche. Hababai und Shirooka tragen gleich alle
ein, die masochistisch und verrückt genug sind, bei uns mitzumachen.
Und jetzt besauft euch gefälligst, damit Hababai seine Liste vollkriegt.«
Er griff nach einem Glas auf einem Tablett neben sich und prostete ihnen
allen zu.
»Es gefällt mir hier recht gut. Da ich ohnehin tausende
Meilen von zu Hause fort bin, kann ich ja auch gleich hier bleiben«,
erklärte Darius. »Lass uns eine WG gründen, Tigris Aurora.
Zusammen mit Antigua. Frauen sind schließlich bekannt dafür,
eine angenehme, friedliche Atmosphäre zu verbreiten. Das würde
mir wirklich gut tun.«
»Ich fürchte, du verbreitest dafür keine besonders
angenehme, friedliche Atmosphäre, Darius«, sagte Tigris kalt.
»So wie du schon die ganze Zeit?«, spöttelte Darius
gelassen. Doch ein zorniger Blick aus dunklen Augen bohrte sich in die
ihren. Hastig wandte sie sich ab. Vielleicht war es nicht so klug, Bru’jaxxelon
derart zu reizen? Was, wenn er wieder einen Tobsuchtsanfall bekam und absichtlich
oder nicht Aévon und ihre Freunde verletzte oder sogar...?
»Ich habe ohnehin nicht vor, Staatsbürger von Zimberland
zu werden. Meine Mutter rädert und vierteilt mich, wenn ich damit
ankomme«, sagte sie dann, ohne ihn anzusehen.
»Wie schade. Ich hoffe nicht, wegen mir?«
»Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Wie beruhigend. Es erklärt aber nicht, weswegen du mich
nie besucht hast, als ich im Krankenhaus von Shangri-La siech darniederlag.
Du trägst mir also immer noch die Sache in Düsseldorf nach. Nun...
Was soll ich machen? Verzeihung kann man nicht erzwingen.« Er hatte
sich mit zusammengezogenen Brauen von ihr abgewandt und sah sich im Raum
um. Antigua tippte ihn auf die Schulter. »Und was ist jetzt mit dir?
Ich und die Jungs gehen uns eintragen.«
»Genau. Und da du ja auf Frauen stehst, kannst du mit mir
und Ras Algheti in einem Zimmer wohnen«, sagte Bat Furan, der schon
aufgestanden war. In der Ecke, in der Hababai an einem niedrigen Tischchen
saß, hatte sich bereits eine Traube von Interessenten um den DiSMaster
gebildet. Immer noch redeten alle begeistert durcheinander, viele schmiedeten
schon Pläne.
Darius erhob sich daraufhin ebenfalls. Er warf Tigris einen düsteren
Blick zu, dann sagte er: »In Shangri-La hält mich zumindest
nichts mehr. Lasst uns auswandern.«
Gemeinsam gingen die vier hinüber, um sich von Hababai eintragen
zu lassen.
Tigris schnaubte genervt auf. Nun war Darius also jeden Tag in Guulin
Kherem anzutreffen.
Sie ließ ihn nicht aus den Augen und beobachtete, wie er,
Antigua und die anderen beiden Jungs sich nach der Eintragung zu einer
Gruppe anderer Neulinge gesellte, die mit Volta in den Gängen verschwanden.
Offenbar suchten sie jetzt nach einem Zimmer in der Burg, das sie in Beschlag
nehmen wollten.
›Ich weiß, was du vorhast. Du willst es so hinbiegen, dass
mir niemand glaubt, dass Darius in Wahrheit du bist. Du willst dich bei
meinen Freunden einschleimen‹, dachte sie wütend.
›Du weißt gar nichts‹, widersprach Bru’jaxxelon kalt und immer
noch rastlose Unruhe ausströmend. ›Gar nichts. Du mutmaßt nur.
Ich habe schon zuviel Zeit mit dir verschwendet und meine Ziele
zur Seite geschoben. Omrishah kann mich nicht aufhalten, welche listigen
Winkelzüge er auch probiert.
Es gibt nichts, was mich von meinem Plan abhalten könnte. Nichts.‹
Tigris schloss die Augen, während ihr Herz vor Sorge und Angst
heftig zu klopfen angefangen hatte. Bru’jaxxelon hatte also die Schonfrist
für beendet erklärt. Welche furchtbaren Dinge würde er ihr
und allen, die sie liebte, nun antun?
»Geht es dir gut, Kleines?«
Tigris spürte eine vertraute, kraftvolle Hand auf ihrer Schulter
und sah auf: Aévon hatte sich neben sie gehockt und betrachtete
aufmerksam ihre Gesichtszüge.
»Etwas bedrückt dich. Und ich weiß, was es ist.«
Verwirrt starrte sie an.
»Unser lieber Vater, nicht wahr? Er hat es immer noch nicht
für nötig gehalten, dich zu besuchen und dir die Gelegenheit
zu geben, ihn kennen zu lernen.«
Auch das noch! Tigris hatte diese Tatsache so energisch beiseite
geschoben, dass es ihr jetzt erst auffiel, wieviel Zeit schon verstrichen
war, ohne dass sie ihn zu Gesicht bekommen hatte.
Sie war so beschäftigt mit Bru’jaxxelon und ihrem Schützling
im Krankenhaus, und mit ihren Freunden und Aévon...
»Aber was?«, fuhr Aévon grimmig fort. »Du
bist die ganzen Jahre auch prächtig ohne ihn zurecht gekommen. Du
hast nichts verpasst. Procyon Zimberdale denkt in allererster Linie an
seine Karriere. Oder wenn nicht daran, dann an sein Vergnügen. Er
reist zur Zeit im Gebiet von PAGAN herum und betreibt Wahlkampf. Er möchte
der nächste Präsident werden, und seine Chancen stehen nach dem
Orientalis-Debakel glänzend da - schließlich war er der einzige,
der den Rat davor gewarnt hat.
Schreib ihn ab, Tigris. Ich habe es schon lange getan. Und seitdem
geht es mir prächtig.«
»Liebst du ihn denn kein Stück?« fragte Tigris
ungläubig. »Wärst du nicht traurig, wenn er plötzlich
sterben würde?«
»Liebes, er ist schon lange für mich gestorben. Mindestens,
seitdem er mich zu einer Sippe in die Mongolei abgeschoben hat. Gut, es
geschah nur zu meinem Besten, denn De Navarris hatte damals meinen Tod
verlangt, wie es ja gesetzlich vorgeschrieben war. Doch wie du habe ich
monatelang auf seine spärlichen Besuche gewartet. Er ist eben nicht
der Familienmensch. Im Gegensatz zu mir und dir.« Aévon lächelte
und zog sie in seine Arme. Tigris schmiegte sich an seinen kraftvollen
Körper und fühlte sich für einige Augenblicke sicher und
geborgen.
Dann störte Bru’jaxxelon sie aus dieser süßen Illusion
unvermittelt auf.
›Wärst du nicht traurig, wenn dein Bruder plötzlich sterben
würde?‹ höhnte er.
›Das wäre ich. Wenn man jemanden liebt, ist sein Tod wie ein
Weltuntergang. Aber das sind Dinge, von denen du nichts verstehst‹, erwiderte
sie in Gedanken traurig.
›Niemand versteht dieses Ding besser als ich. Das solltest du wissen,
wo du doch zuweilen meinen Geist und meine Seele besuchst‹, erklärte
der Daimon verächtlich, und doch schwang eine Spur Verletzlichkeit
darin. Doch dann wurde seine Stimme in ihrem Kopf richtiggehend gehässig.
›Aber du bringst mich auf eine gute Idee. Du willst mir nicht die Wahrheit
über deinen Pakt mit dem Eloyah gestehen? Ich muss wohl andere Mittel
anwenden als bisher. Gleich jetzt. Wer wird der oder die erste sein, der
für deine Sturheit bezahlen muss?‹
Ein kalter Schauer kroch langsam über ihren Rücken. Sie
drückte sich gegen Aévons Brust. Sein Herz schlug regelmäßig
und stark.
Langsam entwand sie sich aus seiner Umarmung und sah ihn ängstlich
an, was ihn natürlich erstaunte. Dann guckte sie sich nach Antigua
und den anderen um, während die Panik in ihr zunahm. Langsam erhob
sie sich, während ihre Gedanken wild durcheinander rasten.
»Wenn ich nur wüßte, was du manchmal hast, Kleines.
Soll ich dich nicht besser nach Shangri-La bringen?« Aévon
strich ihr besorgt eine Locke hinters Ohr.
Aber Tigris hörte ihn gar nicht mehr.
Das Monstrum hatte soeben eine Todesdrohung gegen alle, die sie
liebte, ausgesprochen.
Da, Antigua! Sie kam mit Bat Furan und Ras Algheti wieder in den
Gemeinschaftssaal hereingeschneit, putzmunter und am Leben.
›Ja, wer könnte es sein? Ehrlich, wie ich bin, sage ich nur
soviel: Derjenige befindet sich nicht in Guulin Kherem‹
Shangri-La!
Ihre Mutter! Ilvyn! Mira?
»Ich muss gehen«, erklärte sie Aévon tonlos
und hastete zu dem Korridor, der zu den Passagen führte.
Sie rannte durch den engen, von Fackeln erleuchteten Gang, außer
sich vor Sorge und Angst, während die Tränen über ihre Wangen
strömten. Dieses Scheusal! Dieses verfluchte Scheusal.
In dem kleinen Raum, in dem die Tore lagen, war niemand.
»Ich weiß nichts! Ich habe mit Omrishah nichts zu tun!
DU mutmaßt nur! Ich habe kein Geheimnis und ich weiß nicht,
wieso ich dich hören und fühlen kann!«, schrie sie verzweifelt
und sah sich in den tanzenden Schatten, die die Fackeln warfen, um.
Dann rannte sie in die Finsternis, hinter der Shangri-La lag.
.
Als erstes raste sie die Treppen des Aquariums hoch in ihre Wohnung.
Voller Panik klopfte sie an der Tür, obwohl sie einen Schlüssel
hatte, nach dem sie mit zitternden Fingern in ihre Hosentasche kramte.
Die Tür ging auf.
»Spätzchen? Was ist passiert?«, fragte Danubia
erstaunt. Im nächsten Moment flog ihr ihre Tochter in die Arme und
drückte sie fest an sich, nassgeschwitzt und völlig außer
Atem.
»Oh Gott, was ist passiert?«
Doch Tigris antwortete nicht, sondern fragte aufgeregt: »Wo
ist Ilvyn? Hast du Ilvyn gesehen?«
»Heute noch nicht, ich bin eben erst aus Afrika zurückgekommen,
wir-«
Und schon war Tigris wieder davongerannt.
Die große Bibliothek! Sie war etwa einen Kilometer entfernt
vom Aquarium.
Es war schwer, durch die Vielzahl gutgelaunter Xendii in den engen
Straßen der Innenstadt zu kommen.
Wie sorglos sie an ihr vorbeispazierten und vor den Cafés
und Restaurants saßen!
All das und noch viel mehr konnte er mit einem Schlag auslöschen,
wie er es mit Excelsior getan hatte, diese mitleidlose, grauenerregende
Kreatur, mit nichts als Hass und Eis in sich.
›Wer ist schneller, Tigris? Der Tod oder du? Gerechterweise habe
ich gewartet, bis du hier bist. Und gerechterweise fange ich mit jemandem
an, den du noch nicht so lange kennst. Eigentlich kennst du ihn gar nicht
wirklich, wenn man es recht bedenkt. Worüber du wirklich froh sein
kannst.‹
Tigris blieb mitten vor einem Café stehen und überlegte
schweratmend.
»Tigris! Hallo!«
Sie riss den Kopf herum und sah Mira und ein paar andere Xendii
an einem Tisch des gutbesuchten Lokals sitzen. Schon war die Vize-Präsidentin
aufgestanden und kam zu ihr.
»Ich habe eine gute Neuigkeit für dich! Wir wissen wahrscheinlich,
wie der Junge heißt, um den du dich so rührend kümmerst.
Sein Name ist Anjul.«
»A-Anjul?« Sie sah Mira mit großen Augen an.
Anjul.
Sie wagte nicht zu atmen, als die bestürzende Erkenntnis sie
überfiel.
»Oh nein ... Nein!«, stammelte sie und wich rückwärts
zurück.
Das Stimmgewirr entspannter, glücklicher Menschen und leisen
Klängen von Musik geriet zu einer hässlichen Kakophonie, die
sich über das Ungeheuerliche lustig machten, das vielleicht gerade
im Krankenhaus geschah.
Augenblicklich rannte sie wieder los.
Sie wusste, dass es sinnlos war, dass ER ihn schon längst getötet
hatte oder vor ihren Augen töten würde.
Aber sie konnte einfach nicht aufhören zu rennen, sprang im
letzte Moment in einen Aufzug, mit dem zwei Xendii gerade hinauffahren
wollten.
Wie lange das dauerte! Jeder Moment war eine einzige Qual.
Die beiden Frauen sahen sie mitleidig an, so verweint und außer
sich, wie das Mädchen neben ihnen aussah. Sie fuhren in den zehnten
Stock und Tigris schoss an ihnen vorbei zu den Treppen, um in die letzte
Etage zu gelangen.
Sie platzte mitten in ihren Alptraum: Schwestern rannten hektisch
aus seinem Zimmer, aus dem laute, aufgeregte Stimmen drangen.
»Bei Drei!«, brüllte der Arzt, während der
Herz-Kreislauf-Monitor durchgehend und unerbittlich fiepte.
»Das ist kein Platz für dich!«, rief eine daimonische
Krankenschwester und versuchte Tigris aus dem Zimmer zu schieben, die wortlos
und wie gelähmt in der Tür stand. Hilflos musste sie mit anschauen,
wie ein Arzt den Defibrilator auf die Brust der zierlichen Gestalt setzte
und einen Elektroschock auslöste. Man hatte seinen Verband dort aufgeschnitten.
Sein Körper zuckte zusammen und fiel zurück aufs Bett.
»Nein! Oh, ich hasse dich so sehr!«, schrie Tigris,
schubste die Schwester einfach zur Seite und rannte näher zum Bett.
Und wieder der Defibrilator - und wieder umsonst ...
Das hässliche Fiepen hörte nicht auf, es wollte einfach
nicht aufhören.
Die Ärzte sahen sich ernst an.
»Ein letztes Mal ... «
»Ich muss darauf bestehen, dass du draußen wartest!«,
keifte die Schwester und zog Tigris mit sich, die sich jedoch erneut heftig
wehrte und sträubte.
»Bitte retten Sie ihn! Er darf nicht gewinnen!«, rief
Tigris den Ärzten zu.
Aber sie schüttelten nur ihre Köpfe, nachdem auch der
letzte Versuch keinerlei Wirkung gebracht hatte.
Einer von ihnen kam zu ihr und sprach leise das aus, wovor sie sich
fürchtete.
»Wir haben wirklich alles versucht. Es tut mir leid.«
Tigris sah ungläubig zu dem Bett. Wie in Trance ging sie langsam
zu ihm.
Anjul.
»Wir hatten uns doch noch gar nicht richtig kennen gelernt«,
flüsterte sie tonlos und beugte sich über ihn.
Er sah eigentlich aus wie immer, hatte die Augen geschlossen, als
schliefe er nur.
Noch nie hatte sie sein Gesicht gesehen.
Sie legte ihre Hand auf sein verbundene Wange.
Unaufhörlich tropften Tränen auf den Mull.
In ihr gab es keinen Hass auf Bru’jaxxelon mehr, nur noch eine mitleiderfüllte
Trauer wegen Anjul.
Er hätte eine Chance verdient, nach dem schrecklichen Excelsior
etwas Schönes zu sehen, Leute zu treffen, die ihn mochten und schätzten.
Er hätte ein besseres Leben haben können. Er hätte frei
sein können, die Welt sehen können. Er hätte Liebe empfinden
und spüren können.
Das alles war ihm genommen worden, sinnlos, auf ungerechte Weise.
Sie streichelte über sein Gesicht.
Vielleicht hatte ihn noch nie jemand jemals geküsst.
»Es tut mir so leid, Anjul. So leid«, flüsterte
sie, und immer noch strömten die Tränen aus ihren Augen.
Dann drückte sie lächelnd und sanft ihren Mund auf seine
kalten Lippen und schloss die Augen.
Das war das einzige, was sie ihm zum Abschied geben konnte.
Wie warm ihr mit einem Mal im Herzen wurde.
Das Gefühl durchströmte sämtliche Adern ihres Körpers
und schien die Erde unter ihr erbeben zu lassen.
Oder passierte es in dem dunklen, trostlosen Land einer gefühllosen,
abgestorbenen Seele?
Dort hasteten die Wolken über den Himmel, als flüchteten
sie vor etwas.
Das Eis knirschte und krachte, Risse bahnten sich ihren Weg bis
zu der Feste, die sich mit dichten Wolkenschwaden verhüllte.
In der Tiefe unter dem Boden grollte und rumorte etwas.
Das Land war in Aufruhr: ER war außer sich, verwirrter als
je zuvor, ungläubig und entsetzt, schockiert geradezu.
Von irgendwoher wurde ein leiser, kurzer, regelmäßig
wiederkehrender Klang herangetragen.
Der zarteste Hauch eines Atems streifte ihre Lippen, welcher sie
aus dieser Vision auftauchen und die Augen öffnen ließ.
Dunkles Blau, über das sich langbewimperte Lider zuckend senkten
und wieder hoben.
Tigris fuhr hoch und starrte in das verbundene Gesicht.
Sein Mund war leicht geöffnet und bebte.
Der Herz-Kreislauf-Monitor sandte unermüdlich sein ›Ping‹ aus,
doch diesmal klang es triumphierend, feierlich, wie Glockenschläge.
Und die Ärzte und Schwestern samt Beatmungsgerät strömten
ins Zimmer, um fassungslos das Wunder mit eigenen Augen zu sehen, das soeben
geschehen war.
War das nur ein Traum?
Es fühlte sich so unwirklich an, es konnte unmöglich wahr
sein...
»Unglaublich! Der Herzschlag ist noch ein wenig unregelmäßig,
aber wir haben ihn wieder!«, hörte sie jemanden fröhlich
rufen.
»Ach Gottchen, Tigris! Ich wurde angerufen, kurz nachdem wir
uns unten in der Stadt getroffen hatten.«
Das war Mira. Tigris sah sie erstaunt an und dann die Hand, die
auf ihre Schulter gelegt wurde und sie streichelte. Sie fühlte die
Wärme und den Druck.
»Er lebt?«, fragte sie unsicher.
»Ja. Solche erstaunlichen Dinge kommen hin und wieder vor.
Oh, mein armes Kind. Du bist ja ganz verweint«, meinte Mira und umarmte
sie.
Tigris legte den Kopf auf Miras Schulter und starrte zu Anjul hinüber.
Die blauen Augen hatten sich wieder geschlossen, doch die Lider zuckten,
seine Lippen bewegten sich leicht.
Es war kein Traum!
Und jetzt wusste sie, weswegen Bru’jaxxelon so schockiert war.
›Du konntest ihn nicht töten. Du hast keine Macht über
ihn. Du bist nicht so stark, wie du glaubst‹, dachte sie voller Genugtuung.
Der Daimon jedoch antwortete nicht, sie konnte ihn auch nicht mehr
fühlen.
Das musste er wohl erst einmal verdauen!
»Also, ich habe noch gesehen, wie sie ihn geküsst hat,
und dann sprang das Gerät wieder an«, meinte eine Schwester
zu Mira und sah Tigris schmunzelnd an. »So etwas kennt man ja nur
aus diesem Märchen. Wie hieß es doch gleich? Dornröschen,
genau. Nur dass in diesem Fall der Prinz eine ›Sie‹ ist.«
»Der Mann, der dich einmal zur Frau bekommt, kann sich glücklich
schätzen«, erklärte auch der Xendi-Arzt, der hinzukam.
»Dein Kuss weckt anscheinend Tote auf.«
Tigris löste sich von Mira, wischte sich über das Gesicht
und ging langsam und zögernd zu Anjul.
Eine Schwester war gerade dabei, ihm den Verband abzunehmen.
»In den nächsten Tagen hätten wir den ohnehin endgültig
entfernt«, erklärte sie lächelnd.
Tigris verfolgte mit klopfendem Herzen die Enthüllung ›ihrer
Mumie‹. Und obwohl sie sich einerseits sicher war, Anjuls ganzes Gesicht
noch nie zuvor gesehen zu haben, machte ihr Herz bei seinem Anblick einen
überraschten und überwältigten Hüpfer. Etwas in diesem
Antlitz kam ihr unerklärlicherweise vertraut vor, doch sie vermochte
nicht zu sagen, was.
Anjul hatte tatsächlich Sommersprossen auf seiner Nase, was
seinem Gesicht einen frechen, liebenswerten Gesichtsausdruck verlieh. Er
war dunkelblond, wie die kurzen Haare und die kurzen Bartstoppeln verrieten.
Höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt konnte er sein.
Tigris sah ihn schweigend an, als müsse sie sich für den
Fall der Fälle sein Gesicht gut einprägen.
Für einen kleinen Moment öffnete er die Augen ein wenig.
Ihr verhangener, undeutbarer Blick schien durch Tigris hindurch
bis tief in ihr Herz zu reichen und dort auf etwas Irritierendes zu treffen.
Eine leicht buschige, doch schön geschwungene Braue zuckte fragend
in die Höhe.
Mira legte den Arm um Tigris und führte sie langsam aus dem
Zimmer, wobei diese mehrmals zurückblickte. Immer trafen sich dabei
ihre und Anjuls Augen, was jedes Mal einen Schwarm Schmetterlinge in ihrem
Magen aufscheuchte, die wie betrunken wild durcheinander wimmeln zu schienen.
Die Vizepräsidentin lotste sie zu einer kleinen Sitzgruppe
abseits des Krankenzimmers.
»Er braucht jetzt sehr viel Verständnis und vor allem
Geduld. Wir wissen nicht, was er in Excelsior durchmachen musste. Nicht
jeder ist so stark und entschlossen, trotz allem so normal wie möglich
weiter zu leben wie dein Freund Darius.«
Tigris schwieg bei der Nennung dieses Namens und sah stattdessen
nachdenklich in den Flur, an dessen Ende Anjuls Zimmer lag.
»Es ist uns gelungen«, fuhr Mira fort, »einige
Daten aus den Excelsior-Rechnern, die wir geborgen hatten, wieder herzustellen.
Demnach ist Anjul Rufer-Wandler, wie auch schon unsere Seher vermutet
haben.«
»Vermutet?«, fragte Tigris erstaunt.
»Nun, es kommt vor, dass infolge einer schweren Krankheit,
Koma oder aber auch Amnesie der Shine eines Xendi flackert oder fast gänzlich
schwindet. Selbst erfahrene Seher haben dann Schwierigkeiten, eine solche
Aura zu analysieren.
Jedenfalls ist das Rufer-Wandler-Xendium eine höchst seltene
Kombination an Doppelbegabung.
Das hat man offenbar auch in Excelsior erkannt. Dort wurde er unter
›Anjul - O. Berks, Top Priority‹ geführt. Wir nehmen an, letzteres
ist der Name des Stationsleiters oder ähnliches. Es wäre gut,
wenn du diesen Namen gegenüber Anjul zunächst einmal nicht erwähnst.
Wer weiß, was für schreckliche Erinnerungen das auslösen
könnte!«
»N-natürlich!«, rief Tigris leidenschaftlich.
Was für ein elendes Schicksal!
Ihr Herz zerfloss förmlich über vor Mitleid und Sympathie
mit Anjul.
Oh, sie wollte ganz für ihn da sein, wollte sich um ihn kümmern
und versuchen, all seine Wunden, auch die seelischen, zu heilen.
Das betrachtete sie als ihre neue, heilige Pflicht.
Im Geiste sah sie sich schon im Park von Shangri-La mit ihm spazieren
gehen, wo sie sich etwa unter einem Baum niederlassen würden. Dort
würde er seinen Kopf auf ihren Schoß betten und mit diesen unglaublich
dunkelblauen Augen dankbar und voll tiefer Zuneigung zu ihr empor blicken.
Inmitten dieser verträumten, edelmütigen Gedanken machte
sich wieder einmal ihre seltsame, innere Stimme bemerkbar und meinte unpassenderweise
und vollkommen unromantisch:
›Diese unerschütterliche, beinahe aufdringliche Selbstlosigkeit,
diese unfassbar unendliche Geduld und diese grenzenlose, hartnäckige
Liebe...
Das kommt mir merkwürdig bekannt vor.
Irgendwie erinnere ich mich schwach, dass solche hehren Gefühle
nicht immer auf Gegenliebe stoßen.‹
Was für unsinnige Gedanken ihr doch manchmal in den Sinn kamen,
seitdem sie das Amulett mit sich herumschleppen musste!
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und verscheuchte sie
entschlossen.
Nein, das zwischen ihr und Anjul war etwas ganz besonderes, von
Anfang an. Nichts und niemand konnte ihr das ausreden. Dieses schmächtige
Kerlchen, kaum größer als sie selber, sah doch schon von weitem
herzergreifend unschuldig und liebenswert aus.
Vor allem aber wie jemand, der dringend und sehr viel Zuneigung
brauchte.
Und wer anderer kam denn dafür in Frage als jemand, der jeden
Tag an seinem Krankenbett gewacht hatte; seine Hand gestreichelt, mit ihm
geredet hatte, in der Hoffnung, trotz seines Komas zu ihm durchzudringen?
Doch niemand sonst als diejenige, die ihn regelrecht zurück
ins Leben geknutscht hatte.
© I.S.
Alaxa
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse
bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
|