Es ist eine Eigenart der Menschen, selbst
die positivste und friedlichste revolutionäre wissenschaftliche oder
soziologische These, Theorie, Erkenntnis oder Abhandlung zu kriegerischen
Zwecken zu missbrauchen. Seit jemandem mal ein Apfel auf den Kopf fiel
und der Betroffene sich dachte "Ui! Schwerkraft!", fingen Menschen sofort
damit an, anderen Menschen von Burgmauern aus Steine auf die Rübe
zu werfen (wobei erwähnt werden sollte, dass die Menschen, die sich
der jeweiligen Burgmauer näherten, meistens ebenso wenig friedliche
Absichten im später etwas flacher aussehenden Kopf hatten... obwohl
es hier natürlich auch Ausnahmen und deswegen auch schreckliche Missverständnisse
gab...) - oder, noch schlimmer, goldene Münzen von hohen Türmen,
nur um zu sehen, was passiert...
Karlmax’ revolutionäre These war von
diesem Schicksal bisher verschont geblieben - wobei sie den Frieden zwischen
den Menschen ja nicht gerade predigte... Vielleicht hing es damit zusammen,
dass die Menschen es langweilig fanden, sich an die Regeln einer bereits
kriegerischen These zu halten - wo blieb denn da der Spaß? So kam
es, dass Karlmax durch seine Theorie weltberühmt wurde und viele Tourneen
veranstaltete, um Vorträge über seine revolutionären, die
Gesellschaft der Menschen verbessernden Gedanken zu halten. Die Menschen
hörten dabei immer interessiert zu, waren begeistert und honorierten
jeden von Karlmax’ Auftritten mit donnerndem Applaus - nur hatte anscheinend
niemand so richtig Lust dazu, der erste zu sein, der diese revolutionären
Ideen auch umsetzte.
Um jene Ideen soll es in dieser Geschichte
jedenfalls ebenfalls nicht gehen.
Karlmax befand sich jedoch gerade kurz vor
einer Tournee in entfernte Länder, um viele, schon jetzt vollkommen
ausverkaufte Vorträge zu halten. Dabei hatte er jedoch zwei Probleme:
Seine Frau und seinen Sohn.
Rita, die Stählerne, wie sie sich selbst
nannte, war die perfekte Ergänzung zu Karlmax’ Charakter: Impulsiv,
aggressiv, stark, direkt und dickköpfig repräsentierte sie das
vollkommene Gegenteil zu ihrem Mann und dominierte ihn daher vollständig,
was diesem aber nicht viel ausmachte, da er sich selbst nicht gerade zur
Führungspersönlichkeit geboren sah und beruhigt war, wenn es
eine Instanz über ihm gab, die die ganze Verantwortung trug und nicht
ihn damit belastete.
Dies war jedoch noch nicht das Problem. Karlmax
bestand nämlich darauf, seine Frau Rita auf der Tournee bei sich zu
haben - und das nur teilweise aus Liebe zu seiner Gefährtin. Als persönliche
Beschützerin machte sie sich dank ihrer selbst vielen Männern
überlegener Muskelkraft nämlich gar nicht schlecht.
Nur leider bestand sie wiederum darauf, dass
ihr gemeinsamer Sohn Ninnel nicht auf die Reise mitkommen dürfe, wodurch
sich das eigentliche und damit größte Problem ergab:
Wohin mit dem Jungen?
Der achtjährige Ninnel war schon mehrfach
durch sein... nun, rebellisches Verhalten aufgefallen und gegenüber
zahlreichen Verwandten durfte man seinen Namen noch nicht mal erwähnen,
wollte man nicht riskieren, sofort aus dem Haus geworfen zu werden... womöglich
noch aus einem Fenster im vierten Stock...
"Was ist mit den Dusseleys?", fragte Karlmax
seine Frau.
"Ich fürchte, die sind nach unserem Besuch
letzten Sommer nicht mehr so gut auf unseren Kleinen zu sprechen, Schatz.
Außerdem ist der Angriff durch diesen Assassinen kurz nach unserem
Aufenthalt dort erfolgt, weißt du noch?"
"Hast Recht, mein Haselschnäuzchen..."
"NENN mich nicht Haselschnäuzchen!",
giftete seine Rita ihn an.
"Ähm... ja, Rita...", Karlmax senkte
demütig den Blick, als ihm ein Einfall kam:
"Was ist mit Sally? Du kennst sie ja... ähm...
ein bisschen... sie könnte mit Ninnels... Eigenarten sicherlich fertig
werden."
Ritas Stimme schnitt so scharf durch die Luft,
dass sich Karlmax damit seinen Bart hätte abrasieren können:
"Ich lasse nicht zu, dass MEIN SOHN bei einer
so unflätlichen Frau einquartiert wird! Sie mag noch so nett sein,
aber ihr Berufsstand übt bloß einen schändlichen Einfluss
auf unseren süßen Kleinen aus!"
"Aber ich habe dich doch dort kennen gelernt,
Liebste!"
"Das ändert nichts daran, dass es ein
für unseren Jungen schändliches und unmoralisches Etablissement
ist! Weitere Vorschläge?"
Karlmax wusste, dass die Diskussion um das
Thema Sally beendet war und kramte in seinem Gedächtnis nach weiteren
Möglichkeiten zur Unterbringung seines Sohnes... jedoch gingen ihm
so langsam die Ideen aus. Nur einen Namen hatte er noch:
"Was ist mit Tante Peggy? Hat sie unseren
Kleinen schon mal kennen gelernt? Bei ihr wäre es doch außerdem
weniger schlimm, wenn wir es uns mit ihr verderben würden..."
"Peggy? Nein, die kommt nicht in Frage. Sie
ist doch tagtäglich so sehr mit dem Schmachten über diesen Schauspieler...
wie hieß er noch mal? Genau, dieser Schauspieler Droca..." - *pling*
- "Die hat doch nichts anderes im Kopf, sie würde unseren Sohn glatt
vergessen und er würde wahrscheinlich verhungern... Sag mal, ist was
mit dir?"
Karlmax starrte ins Leere. In seinem Kopf
machte es immer *pling*, wenn sich eine neue, bahnbrechende Idee anbahnte.
"Welchen Namen hast du gerade noch mal genannt?"
"Droca, der Schauspieler... Kennst du ihn
nicht?"
Karlmax wusste zwar nicht, wo Droca lebte
und wie er ihn erreichen konnte. Doch dafür kannte er jemand anders...
*pling*
"Hast du dieses Geräusch gerade auch
gehört?", fragte Rita.
Eigentlich war der Gedanke vollkommen wahnsinnig.
Er war sogar so wahnsinnig, dass sich Karlmax fragen musste, ob er selbst
nicht bereits wahnsinnig war, wenn er auf solch wahnsinnige Gedanken kam.
Konnte er seinen Sohn wirklich diesem alten Freund anvertrauen, an den
er gerade dachte? Wobei sich die Frage stellte, ob er noch sein Freund
war... beziehungsweise jemals gewesen war... Nun, eigentlich hatte er sich
gegenüber Karlmax bei seinem Besuch immer ganz nett benommen... aber
würde das auch für seinen Sohn gelten?
Die Schwärze von Karlmax’ Gedankenwelt
wurde jäh von einem lautstarken Rufen unterbrochen:
"Paaaapaaaaa, bin wieder Zuhaaaaauuuseeeee!"
Das Rufen ertönte direkt neben Karlmax
Ohr, worauf dieser nicht vorbereitet war, erschrocken umkippte und mit
dem Hinterkopf schmerzhaft auf dem Boden aufschlug. Sekunden später
traf eine gigantische Faust auf seinen Unterleib und nagelte ihn fest.
Als Karlmax wieder Luft bekam und er statt
vollkommenster Schwärze wieder zumindest verschwommene Bilder sehen
konnte, eröffnete sich ihm das Bild seines Sohnes Ninnel, wie dieser
auf seinem Unterleib saß.
Während Karlmax nur schmerzhaft und leise
aufstöhnen konnte, lächelte Rita die beiden liebevoll an und
sagte:
"Na, ich lasse euch beiden dann mal alleine
und bereite das Abendbrot vor - so lange dürft ihr dann noch miteinander
spielen. Und Karli - überlege dir dann bitte noch schleunigst eine
Lösung für unser kleines Problem, ja?"
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging
aus dem Raum hinaus in Richtung Küche.
"Oh toll, Papa, wir spielen! Du bist das Pferd
und ich bin der Reiter, ja?", rief der Junge überschwänglich
in unerträglicher Lautstärke.
Karlmax sah auf die Schuhe seines Sohnes –
er hatte wieder die Stiefel mit den echten Sporen angezogen...
"Ja, Ninnel!", stöhnte er auf - Sohn
hin oder her, dachte er, dieser Junge sollte seine Eltern doch mal wieder
schätzen lernen! Vielleicht wäre die Methode ein wenig radikal
und riskant, doch sicherlich nicht unwirksam...
Als er sich umgedreht hatte, rief sein Sohn
"Hü-hott!" und trat mit den Sporen zu.
Mit einem gedämpften Schmerzensschrei
trat Karlmax seinen allabendlichen Leidensweg der Qualen an und hielt sich
nur mit dem Gedanken am Bewusstsein, wie er seinen Plan seiner Frau verklickern
sollte...
In einer weit entfernten Höhle hatte Kalessan
gerade einen übermütigen Drachentöter verschlungen und bekam
nun große Lust, deswegen mal wieder ein paar Häuser anzuzünden.
"Und du bist dir sicher, dass dieser Herr...
wie hieß er noch mal, Schatz?"
"Kalessan..."
"...dass dieser Kalessan unseren Liebling
auch annehmen wird?", erkundigte sich Rita bei ihrem Mann und versuchte,
das laute Quietschen der Kutschenräder und das Hufgetrappel der Pferde
zu übertönen.
"Nein, ich bin mir ganz und gar nicht sicher
- aber er ist unsere einzige Chance... Ninnel, hör bitte damit auf,
mit deinem Messer die Kutsche zu zerkratzen! Außerdem ist er der
einzige, der es mit dem... impulsiven Charakter unseres Sohnes aufnehmen
kann."
"Und warum wohnt er mitten im Wald?"
"Nun... er ist ein Einsiedler?", entgegnete
Karlmax vorsichtig.
"Ein Einsiedler? Unser Sohn soll bei
einem Einsiedler wohnen? Bist du denn von allen Sinnen?"
"Schatz, ich habe dir gesagt, er ist unsere
einzige Chance. Wir können jetzt nicht mehr zurück – wir haben
eh schon Glück, dass seine Behausung ungefähr auf dem Weg liegt.
Und sieh es doch mal von der positiven Seite: Unser Sohn lernt die Natur
kennen, lernt, wie er alleine in der Wildnis überleben kann und verbringt
ein paar wildromantische Wochen – nicht wahr, Ninnel?"
"Ich will nicht zu so einem doofen Einsiedler!",
sagte Ninnel und begann wieder, mit seinem Messer obszöne Muster in
das Holz der Kutsche zu gravieren.
"Ninnel, ich habe gesagt, du sollst damit
aufhören! Sag du doch auch mal was, Rita!", wandte sich Karlmax verzweifelt
an seine Frau, als sein Sohn keine Anstalten machte, den Befehl des Vaters
zu befolgen.
"Schatz, hör bitte auf damit!", sagte
Rita, woraufhin Ninnel sie kurz anglotzte, um dann das Messer in seine
Tasche zu stecken und seinen Vater durchdringend anzustarren.
Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum
Stehen und das andauernde Quietschen und Hufgetrappel wurde durch lautes
Wiehern ersetzt.
"Oh, ich fürchte, wir sind bald da!",
ließ sich Karlmax vernehmen und stieg aus dem Gefährt aus.
Um ihn herum erstreckte sich der düstere,
verlassene und erschreckend ruhige Wald. Jedenfalls hatte Karlmax das Gefühl,
dass er erschreckend ruhig werden würde, wenn die Pferde mit ihrem
Gewieher aufhörten.
"Die Pferde wolln nich weiter, Sir, weiß
auch nich, warum", sagte der Kutscher, ein dreckiger, abgetakelter Unhold
mit grauenhaftem Akzent, der für sämtliche Neudorfer, die beruflich
in irgendeiner Form mit Pferden zu tun hatten, absolut typisch war.
"Ähm, das geht schon in Ordnung, Herr
Kutscher, wir gehen ab hier zu Fuß weiter. Fahrt ihr doch einfach
ein wenig zurück, bis die Pferde sich wieder beruhigt haben und wartet
dort auf uns. Sollten wir in... einer Stunde noch nicht wieder zurück
sein, dann fahrt einfach wieder zurück nach Neudorf und behaltet das
Geld – und, wenn ich euch einen Rat geben darf, fahrt schnell!" Mit diesen
Worten warf Karlmax dem Kutscher ein Beutel mit Gold zu, was normalerweise
ein todsicheres Mittel ist, um Neudorfer Kutscher seltsame Befehle ohne
Fragen ausführen zu lassen... normalerweise...
"Hoi... und warum so viel, Sir?", erkundigte
sich der Kutscher.
"Nun... Gefahrenzulage!"
"Ah... Darf man auch erfahrn, warum so viel,
Sir?"
Karlmax warf einen Blick auf seine Familie,
die eben aus der Kutsche ausgestiegen war und sagte:
"Nein! Deswegen ist es auch so viel."
Das reichte dem Kutscher anscheinend, der
mit einem Achselzucken die Kutsche mit den scheuenden Pferden auf dem Waldweg
(welcher übrigens merkwürdig breit war und so aussah, als würde
er regelmäßig benutzt werden) wendete und den Weg zurückfuhr,
den sie gekommen waren.
"Könntest du mir mal bitte erklären,
was hier los ist?", giftete Rita ihren Mann mit in die Seiten gestemmten
Armen an.
"Nein, kann ich nicht, aber eine andere Möglichkeit,
Ninnel unterzubringen, gibt es jetzt auch nicht mehr - oder willst du etwa
doch, dass er uns auf dieser interessanten Reise begleitet?"
Mit diesem Satz setzte Karlmax alles auf eine
Karte - würden sie Ninnel wirklich mitnehmen, könnte es sein,
dass dieser sie genauso sehr blamierte, wie vor ein paar Jahren, als er
die "Hoppe Hoppe Reiter mit Sporenstiefeln"-Nummer inmitten eines Vortrags
von Karlmax abzog, ohne, dass dieser sich dagegen hätte wehren können.
Glücklicherweise war Rita jener Auftritt
ebenso peinlich gewesen und noch immer sehr gut in Erinnerung. Deswegen
war nun einer der wenigen Momente gekommen, in dem sie sich ihrem Mann
unterordnete, wenn auch nicht, ohne die Arme zu verschränken und säuerlich
vor sich hin zu grummeln.
Nach einigen Minuten Fußmarsch endete
der Weg an jenem dunklen, finstren Höhleneingang mitten im Wald, an
den Karlmax nur zu gute Erinnerungen hatte. Momentan fragte er sich, wie
er es damals geschafft hatte, jene Höhle lebendig zu verlassen und
ob ihm das noch ein zweites Mal gelingen würde... von seiner Familie
ganz abgesehen...
"Eine HÖHLE? Eine HÖHLE! Unser Sohn
kann nicht mal mehr in einem ordentlichen Haus mit einem ordentlichen Bett
schlafen? Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, Karlmax?", fuhr
Rita auf.
"Schatz, er wird es überleben! Nicht
wahr, Ninnel?", entgegnete Karlmax hilflos.
"Ich will nicht in diese doofe Höhle!"
"Da siehst du’s! Er will nicht da rein!",
sagte Rita.
"Er wollte auch nie zu den Dusseleys..."
"Aber die kannte ich wenigstens."
"Nun, ICH kenne Kalessan da drinnen - oh bitte,
Rita, kannst du mir nicht ein einziges Mal vertrauen?" Karlmax war der
Verzweiflung nahe und sich nicht mehr sicher, ob er die Konfrontation mit
Kalessan oder die mit seiner Frau mehr scheute.
"Ich will nicht in diese doofe Höhle!"
Rita schaute ihren Gatten an, zuckte kurz
nervös mit den Augenlidern und sagte dann:
"Halt den Mund und tu, was dein Vater dir
sagt!"
Karlmax atmete erleichtert auf - er hatte
sie!
"In Ordnung, ich gehe dann jetzt erst mal
alleine da rein und rede mit ihm - ihr wartet solange hier draußen!"
Er traf auf keinen Widerstand mehr und machte
sich daran, die Höhle zu betreten, als er sich wieder fragte, ob die
Konfrontation mit Rita vielleicht doch dem vorzuziehen war, was ihm jetzt
bevorstand...
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Doktor
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