Das Babysitter von Der Doktor
1. Kapitel

Es ist eine Eigenart der Menschen, selbst die positivste und friedlichste revolutionäre wissenschaftliche oder soziologische These, Theorie, Erkenntnis oder Abhandlung zu kriegerischen Zwecken zu missbrauchen. Seit jemandem mal ein Apfel auf den Kopf fiel und der Betroffene sich dachte "Ui! Schwerkraft!", fingen Menschen sofort damit an, anderen Menschen von Burgmauern aus Steine auf die Rübe zu werfen (wobei erwähnt werden sollte, dass die Menschen, die sich der jeweiligen Burgmauer näherten, meistens ebenso wenig friedliche Absichten im später etwas flacher aussehenden Kopf hatten... obwohl es hier natürlich auch Ausnahmen und deswegen auch schreckliche Missverständnisse gab...) - oder, noch schlimmer, goldene Münzen von hohen Türmen, nur um zu sehen, was passiert...
Karlmax’ revolutionäre These war von diesem Schicksal bisher verschont geblieben - wobei sie den Frieden zwischen den Menschen ja nicht gerade predigte... Vielleicht hing es damit zusammen, dass die Menschen es langweilig fanden, sich an die Regeln einer bereits kriegerischen These zu halten - wo blieb denn da der Spaß? So kam es, dass Karlmax durch seine Theorie weltberühmt wurde und viele Tourneen veranstaltete, um Vorträge über seine revolutionären, die Gesellschaft der Menschen verbessernden Gedanken zu halten. Die Menschen hörten dabei immer interessiert zu, waren begeistert und honorierten jeden von Karlmax’ Auftritten mit donnerndem Applaus - nur hatte anscheinend niemand so richtig Lust dazu, der erste zu sein, der diese revolutionären Ideen auch umsetzte.
Um jene Ideen soll es in dieser Geschichte jedenfalls ebenfalls nicht gehen.

Karlmax befand sich jedoch gerade kurz vor einer Tournee in entfernte Länder, um viele, schon jetzt vollkommen ausverkaufte Vorträge zu halten. Dabei hatte er jedoch zwei Probleme:
Seine Frau und seinen Sohn.
Rita, die Stählerne, wie sie sich selbst nannte, war die perfekte Ergänzung zu Karlmax’ Charakter: Impulsiv, aggressiv, stark, direkt und dickköpfig repräsentierte sie das vollkommene Gegenteil zu ihrem Mann und dominierte ihn daher vollständig, was diesem aber nicht viel ausmachte, da er sich selbst nicht gerade zur Führungspersönlichkeit geboren sah und beruhigt war, wenn es eine Instanz über ihm gab, die die ganze Verantwortung trug und nicht ihn damit belastete.
Dies war jedoch noch nicht das Problem. Karlmax bestand nämlich darauf, seine Frau Rita auf der Tournee bei sich zu haben - und das nur teilweise aus Liebe zu seiner Gefährtin. Als persönliche Beschützerin machte sie sich dank ihrer selbst vielen Männern überlegener Muskelkraft nämlich gar nicht schlecht.
Nur leider bestand sie wiederum darauf, dass ihr gemeinsamer Sohn Ninnel nicht auf die Reise mitkommen dürfe, wodurch sich das eigentliche und damit größte Problem ergab:
Wohin mit dem Jungen?
Der achtjährige Ninnel war schon mehrfach durch sein... nun, rebellisches Verhalten aufgefallen und gegenüber zahlreichen Verwandten durfte man seinen Namen noch nicht mal erwähnen, wollte man nicht riskieren, sofort aus dem Haus geworfen zu werden... womöglich noch aus einem Fenster im vierten Stock...
"Was ist mit den Dusseleys?", fragte Karlmax seine Frau.
"Ich fürchte, die sind nach unserem Besuch letzten Sommer nicht mehr so gut auf unseren Kleinen zu sprechen, Schatz. Außerdem ist der Angriff durch diesen Assassinen kurz nach unserem Aufenthalt dort erfolgt, weißt du noch?"
"Hast Recht, mein Haselschnäuzchen..."
"NENN mich nicht Haselschnäuzchen!", giftete seine Rita ihn an.
"Ähm... ja, Rita...", Karlmax senkte demütig den Blick, als ihm ein Einfall kam:
"Was ist mit Sally? Du kennst sie ja... ähm... ein bisschen... sie könnte mit Ninnels... Eigenarten sicherlich fertig werden."
Ritas Stimme schnitt so scharf durch die Luft, dass sich Karlmax damit seinen Bart hätte abrasieren können:
"Ich lasse nicht zu, dass MEIN SOHN bei einer so unflätlichen Frau einquartiert wird! Sie mag noch so nett sein, aber ihr Berufsstand übt bloß einen schändlichen Einfluss auf unseren süßen Kleinen aus!"
"Aber ich habe dich doch dort kennen gelernt, Liebste!"
"Das ändert nichts daran, dass es ein für unseren Jungen schändliches und unmoralisches Etablissement ist! Weitere Vorschläge?"
Karlmax wusste, dass die Diskussion um das Thema Sally beendet war und kramte in seinem Gedächtnis nach weiteren Möglichkeiten zur Unterbringung seines Sohnes... jedoch gingen ihm so langsam die Ideen aus. Nur einen Namen hatte er noch:
"Was ist mit Tante Peggy? Hat sie unseren Kleinen schon mal kennen gelernt? Bei ihr wäre es doch außerdem weniger schlimm, wenn wir es uns mit ihr verderben würden..."
"Peggy? Nein, die kommt nicht in Frage. Sie ist doch tagtäglich so sehr mit dem Schmachten über diesen Schauspieler... wie hieß er noch mal? Genau, dieser Schauspieler Droca..." - *pling* - "Die hat doch nichts anderes im Kopf, sie würde unseren Sohn glatt vergessen und er würde wahrscheinlich verhungern... Sag mal, ist was mit dir?"
Karlmax starrte ins Leere. In seinem Kopf machte es immer *pling*, wenn sich eine neue, bahnbrechende Idee anbahnte.
"Welchen Namen hast du gerade noch mal genannt?"
"Droca, der Schauspieler... Kennst du ihn nicht?"
Karlmax wusste zwar nicht, wo Droca lebte und wie er ihn erreichen konnte. Doch dafür kannte er jemand anders... *pling*
"Hast du dieses Geräusch gerade auch gehört?", fragte Rita.
Eigentlich war der Gedanke vollkommen wahnsinnig. Er war sogar so wahnsinnig, dass sich Karlmax fragen musste, ob er selbst nicht bereits wahnsinnig war, wenn er auf solch wahnsinnige Gedanken kam. Konnte er seinen Sohn wirklich diesem alten Freund anvertrauen, an den er gerade dachte? Wobei sich die Frage stellte, ob er noch sein Freund war... beziehungsweise jemals gewesen war... Nun, eigentlich hatte er sich gegenüber Karlmax bei seinem Besuch immer ganz nett benommen... aber würde das auch für seinen Sohn gelten?
Die Schwärze von Karlmax’ Gedankenwelt wurde jäh von einem lautstarken Rufen unterbrochen:
"Paaaapaaaaa, bin wieder Zuhaaaaauuuseeeee!"
Das Rufen ertönte direkt neben Karlmax Ohr, worauf dieser nicht vorbereitet war, erschrocken umkippte und mit dem Hinterkopf schmerzhaft auf dem Boden aufschlug. Sekunden später traf eine gigantische Faust auf seinen Unterleib und nagelte ihn fest.
Als Karlmax wieder Luft bekam und er statt vollkommenster Schwärze wieder zumindest verschwommene Bilder sehen konnte, eröffnete sich ihm das Bild seines Sohnes Ninnel, wie dieser auf seinem Unterleib saß.
Während Karlmax nur schmerzhaft und leise aufstöhnen konnte, lächelte Rita die beiden liebevoll an und sagte:
"Na, ich lasse euch beiden dann mal alleine und bereite das Abendbrot vor - so lange dürft ihr dann noch miteinander spielen. Und Karli - überlege dir dann bitte noch schleunigst eine Lösung für unser kleines Problem, ja?"
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging aus dem Raum hinaus in Richtung Küche.
"Oh toll, Papa, wir spielen! Du bist das Pferd und ich bin der Reiter, ja?", rief der Junge überschwänglich in unerträglicher Lautstärke.
Karlmax sah auf die Schuhe seines Sohnes – er hatte wieder die Stiefel mit den echten Sporen angezogen...
"Ja, Ninnel!", stöhnte er auf - Sohn hin oder her, dachte er, dieser Junge sollte seine Eltern doch mal wieder schätzen lernen! Vielleicht wäre die Methode ein wenig radikal und riskant, doch sicherlich nicht unwirksam...
Als er sich umgedreht hatte, rief sein Sohn "Hü-hott!" und trat mit den Sporen zu.
Mit einem gedämpften Schmerzensschrei trat Karlmax seinen allabendlichen Leidensweg der Qualen an und hielt sich nur mit dem Gedanken am Bewusstsein, wie er seinen Plan seiner Frau verklickern sollte...

In einer weit entfernten Höhle hatte Kalessan gerade einen übermütigen Drachentöter verschlungen und bekam nun große Lust, deswegen mal wieder ein paar Häuser anzuzünden.

"Und du bist dir sicher, dass dieser Herr... wie hieß er noch mal, Schatz?"
"Kalessan..."
"...dass dieser Kalessan unseren Liebling auch annehmen wird?", erkundigte sich Rita bei ihrem Mann und versuchte, das laute Quietschen der Kutschenräder und das Hufgetrappel der Pferde zu übertönen.
"Nein, ich bin mir ganz und gar nicht sicher - aber er ist unsere einzige Chance... Ninnel, hör bitte damit auf, mit deinem Messer die Kutsche zu zerkratzen! Außerdem ist er der einzige, der es mit dem... impulsiven Charakter unseres Sohnes aufnehmen kann."
"Und warum wohnt er mitten im Wald?"
"Nun... er ist ein Einsiedler?", entgegnete Karlmax vorsichtig.
"Ein Einsiedler? Unser Sohn soll bei einem Einsiedler wohnen? Bist du denn von allen Sinnen?"
"Schatz, ich habe dir gesagt, er ist unsere einzige Chance. Wir können jetzt nicht mehr zurück – wir haben eh schon Glück, dass seine Behausung ungefähr auf dem Weg liegt. Und sieh es doch mal von der positiven Seite: Unser Sohn lernt die Natur kennen, lernt, wie er alleine in der Wildnis überleben kann und verbringt ein paar wildromantische Wochen – nicht wahr, Ninnel?"
"Ich will nicht zu so einem doofen Einsiedler!", sagte Ninnel und begann wieder, mit seinem Messer obszöne Muster in das Holz der Kutsche zu gravieren.
"Ninnel, ich habe gesagt, du sollst damit aufhören! Sag du doch auch mal was, Rita!", wandte sich Karlmax verzweifelt an seine Frau, als sein Sohn keine Anstalten machte, den Befehl des Vaters zu befolgen.
"Schatz, hör bitte auf damit!", sagte Rita, woraufhin Ninnel sie kurz anglotzte, um dann das Messer in seine Tasche zu stecken und seinen Vater durchdringend anzustarren.
Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum Stehen und das andauernde Quietschen und Hufgetrappel wurde durch lautes Wiehern ersetzt.
"Oh, ich fürchte, wir sind bald da!", ließ sich Karlmax vernehmen und stieg aus dem Gefährt aus.
Um ihn herum erstreckte sich der düstere, verlassene und erschreckend ruhige Wald. Jedenfalls hatte Karlmax das Gefühl, dass er erschreckend ruhig werden würde, wenn die Pferde mit ihrem Gewieher aufhörten.
"Die Pferde wolln nich weiter, Sir, weiß auch nich, warum", sagte der Kutscher, ein dreckiger, abgetakelter Unhold mit grauenhaftem Akzent, der für sämtliche Neudorfer, die beruflich in irgendeiner Form mit Pferden zu tun hatten, absolut typisch war.
"Ähm, das geht schon in Ordnung, Herr Kutscher, wir gehen ab hier zu Fuß weiter. Fahrt ihr doch einfach ein wenig zurück, bis die Pferde sich wieder beruhigt haben und wartet dort auf uns. Sollten wir in... einer Stunde noch nicht wieder zurück sein, dann fahrt einfach wieder zurück nach Neudorf und behaltet das Geld – und, wenn ich euch einen Rat geben darf, fahrt schnell!" Mit diesen Worten warf Karlmax dem Kutscher ein Beutel mit Gold zu, was normalerweise ein todsicheres Mittel ist, um Neudorfer Kutscher seltsame Befehle ohne Fragen ausführen zu lassen... normalerweise...
"Hoi... und warum so viel, Sir?", erkundigte sich der Kutscher.
"Nun... Gefahrenzulage!"
"Ah... Darf man auch erfahrn, warum so viel, Sir?"
Karlmax warf einen Blick auf seine Familie, die eben aus der Kutsche ausgestiegen war und sagte:
"Nein! Deswegen ist es auch so viel."
Das reichte dem Kutscher anscheinend, der mit einem Achselzucken die Kutsche mit den scheuenden Pferden auf dem Waldweg (welcher übrigens merkwürdig breit war und so aussah, als würde er regelmäßig benutzt werden) wendete und den Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.
"Könntest du mir mal bitte erklären, was hier los ist?", giftete Rita ihren Mann mit in die Seiten gestemmten Armen an.
"Nein, kann ich nicht, aber eine andere Möglichkeit, Ninnel unterzubringen, gibt es jetzt auch nicht mehr - oder willst du etwa doch, dass er uns auf dieser interessanten Reise begleitet?"
Mit diesem Satz setzte Karlmax alles auf eine Karte - würden sie Ninnel wirklich mitnehmen, könnte es sein, dass dieser sie genauso sehr blamierte, wie vor ein paar Jahren, als er die "Hoppe Hoppe Reiter mit Sporenstiefeln"-Nummer inmitten eines Vortrags von Karlmax abzog, ohne, dass dieser sich dagegen hätte wehren können.
Glücklicherweise war Rita jener Auftritt ebenso peinlich gewesen und noch immer sehr gut in Erinnerung. Deswegen war nun einer der wenigen Momente gekommen, in dem sie sich ihrem Mann unterordnete, wenn auch nicht, ohne die Arme zu verschränken und säuerlich vor sich hin zu grummeln.
Nach einigen Minuten Fußmarsch endete der Weg an jenem dunklen, finstren Höhleneingang mitten im Wald, an den Karlmax nur zu gute Erinnerungen hatte. Momentan fragte er sich, wie er es damals geschafft hatte, jene Höhle lebendig zu verlassen und ob ihm das noch ein zweites Mal gelingen würde... von seiner Familie ganz abgesehen...
"Eine HÖHLE? Eine HÖHLE! Unser Sohn kann nicht mal mehr in einem ordentlichen Haus mit einem ordentlichen Bett schlafen? Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, Karlmax?", fuhr Rita auf.
"Schatz, er wird es überleben! Nicht wahr, Ninnel?", entgegnete Karlmax hilflos.
"Ich will nicht in diese doofe Höhle!"
"Da siehst du’s! Er will nicht da rein!", sagte Rita.
"Er wollte auch nie zu den Dusseleys..."
"Aber die kannte ich wenigstens."
"Nun, ICH kenne Kalessan da drinnen - oh bitte, Rita, kannst du mir nicht ein einziges Mal vertrauen?" Karlmax war der Verzweiflung nahe und sich nicht mehr sicher, ob er die Konfrontation mit Kalessan oder die mit seiner Frau mehr scheute.
"Ich will nicht in diese doofe Höhle!"
Rita schaute ihren Gatten an, zuckte kurz nervös mit den Augenlidern und sagte dann:
"Halt den Mund und tu, was dein Vater dir sagt!"
Karlmax atmete erleichtert auf - er hatte sie!
"In Ordnung, ich gehe dann jetzt erst mal alleine da rein und rede mit ihm - ihr wartet solange hier draußen!"
Er traf auf keinen Widerstand mehr und machte sich daran, die Höhle zu betreten, als er sich wieder fragte, ob die Konfrontation mit Rita vielleicht doch dem vorzuziehen war, was ihm jetzt bevorstand...
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© Der Doktor
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel...

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