Am nächsten Morgen wachte Kalessan benommen
und mit knurrendem Magen auf. Der Drache war niemals gerne über einen
längeren Zeitraum hungrig und machte sich auch sofort auf die Suche
nach etwas Essbarem. Seltsamerweise wurde er noch in seiner Wohnhöhle
fündig. Geistesabwesend steckte er sich den kleinen Leckerbissen in
sein Maul und lutschte darauf herum, sich darüber wundernd, da er
seine Nahrungsmittel doch sonst immer nur frisch bezog und nie einlagerte.
Da ertönten mit einem Mal die Alarmglocken der Erkenntnis in Kalessans
Kopf und der Drache spie sein Beinahe-Frühstück schleunigst in
seine Pranke, bevor es sich der vernünftigere Teil seines Gehirns
anders überlegte.
Triefend vor draconischem Speichel saß
Ninnel in Kalessans Hand und sah den Drachen vorwurfsvoll an.
"Erzähl mir nicht, dass dein Mund nicht
stinkt!"
"Ähm..."
"Wolltest du mich gerade wirklich auffressen?"
"Ähm... nein!", suchte Kalessan fieberhaft
nach einer Ausrede für seine morgendlichen Anlaufschwierigkeiten,
"Ich wollte... dich nur waschen! Wir Drachen reinigen uns so, verstehst
du?"
Ninnels Gesichtsausdruck sagte selbst Kalessan,
dass er schon über eine normale Wäsche nicht sehr erfreut gewesen
wäre.
"Ihr fresst euch gegenseitig auf oder wascht
ihr euch wirklich so?", fragte der Junge.
"Habe ich dich aufgefressen?"
Ninnel überlegte kurz:
"Nun... nein?"
"Also habe ich dich gewaschen, siehst du!"
"Ich fühl mich aber gar nicht sauber!"
"Halt den Mund!", entgegnete der Drache und
setzte Ninnel wieder auf den Boden seiner Höhle, um sich Gedanken
darüber zu machen, wo er jetzt etwas zu Essen herbekommen könnte,
ohne den Jungen zur Lösung dieses Problems verwenden zu müssen.
Einige Sekunden lang herrschte Stille, bis Ninnel das Schweigen unterbrach:
"Du, Onkel Kalessan?"
"Ja?", antwortete der Drache entnervt.
"Das war eine schöne Geschichte gestern
Abend!"
"Halt den... oh... danke!", sagte Kalessan,
sichtlich überrascht.
"Warst du das in der Geschichte?"
Der Drache fuhr zusammen und giftete den Jungen
an:
"Wie weit hast du mitgehört?"
Ninnel zuckte mit den Schultern.
Kalessan schnaubte, drehte sich von dem Kind
weg und hielt es für besser, dessen Frage nicht zu beantworten, als
schon die nächste kam:
"Du, Onkel Kalessan?"
"Ja?"
"Meine Kleider sind ganz nass, ich brauche
neue!"
Der Drache stöhnte auf. Wer hatte denn
schon mal davon gehört, dass einem roten Drachen statt Jungfrauen
zusätzlich zu vegetarischen Nahrungsmitteln sogar noch Kleider als
Opfergaben dargebracht wurden? Er beschloss, wieder auf die guten, alten
Methoden zurückzugreifen, wenn er die ganze Sache hier hinter sich
gebracht hatte - es galt, einen Ruf zu wahren!
Wenigstens musste er beim Besorgen von Kleidung
und Nahrungsmitteln nicht mit diesem Quälgeist zusammen sein...
Als die folgenden Tage vergingen, pendelte
sich eine gewisse Form der Beziehung zwischen Kalessan und Ninnel ein,
die am ehesten mit der Beziehung zwischen Haustier und Herrchen zu vergleichen
ist. Leider konnten sich beide Parteien nicht darauf einigen, welcher von
ihnen denn nun das Haustier sei.
Kalessan entdeckte, dass Ninnel durchaus zu
ertragen war, wenn der Drache ihm Geschichten erzählte. Und ein Wesen,
das schon mehrere Millennien auf dem Buckel hat, kann so einiges an Geschichten
erzählen, wobei Kalessan jedoch darauf achtete, nicht mehr allzu persönlich
in seinen Ausführungen zu werden und wichtige Details über seine
Rasse und sein Leben wohlweislich vorzuenthalten.
Ninnel wurde einigermaßen ruhig gehalten,
sein Nachschub an Versorgungsmitteln und Kleidung war gesichert und Kalessan
begann, ein Interesse an dem Jungen zu entwickeln, das immerhin dem eines
Insektenforschers gegenüber einer Zecke gleicht, die sich an seinem
Körper festgesaugt hat.
Es war eigentlich ein Zustand, der in dieser
Form hätte beibehalten werden können, hätten sich nicht
die Ereignisse der zweiten Woche auf einmal überschlagen...
Kalessans Geruchsinn und Gehör hatten
ihm schon einige Zeit vorher die folgende Begegnung angekündigt, und
normalerweise war er ein wenig Unterhaltung dieser Art nicht abgeneigt,
dennoch hätte er es in diesen paar Wochen lieber vorgezogen, eine
derartige Begegnung zu vermeiden. Sie wurde eingeleitet mit den Worten:
"A-HA, übles Echsenmonster, euer letztes
Stündlein hat geschlagen. Flehet um Gnade, und ich verspreche euch,
bei meiner Ehre, dass ich es schnell machen werde!"
"Och nö, einer von denen!", dachte sich
Kalessan und nahm sich den Drachentöter mal näher unter die Lupe.
Wie zu erwarten war, trug er eine blendend strahlende und aufpolierte Ritterrüstung,
die in goldenen Farben leuchtete und einen gleichfarbigen Helm, dessen
Visier momentan hochgeklappt war und ein babypopoglattes Gesicht mit kantig
geschnittenen Zügen offenbarte. Die Berufung des Drachentöters
wurde noch von seiner langen Lanze sowie seinem Schild, auf dem ein Drache
in einem durchgestrichenen, roten Kreis abgebildet war, unterstützt.
Das Pferd, auf dem er saß, stand offensichtlich
unter Drogen - ansonsten hätten auch keine zehn Pferde es in Kalessans
Höhle bekommen, was ja sowieso schon ein Widerspruch in sich ist.
Auf der anderen Seite würde ein unter Drogen stehendes Pferd dem Ritter
wenig Nutzen im Kampf sein, es musste sich also um ein ausgebildetes, erfahrenes
Tier handeln, dessen Angstschweiß Kalessan nichtsdestotrotz lieblich
duftend in die Nase stieg - wer konnte es dem Pferd verübeln? Ein
Reittier verrät häufig eine Menge über seinen Reiter - bei
jenem Ritter und seinem Ross handelte es sich also um ein eingespieltes,
mit Drachen erfahrenes Team, was somit ein wenig vorsichtiger zu behandeln
war als der ganze restliche Heldenschund.
Kalessan fand, dass es an der Zeit war, etwas
zu sagen:
"Oh, bitte nicht heute, könnten wir dieses
Treffen nicht ein wenig verschieben? Seht ihr denn nicht, dass ich gerade
damit beschäftigt bin, dem Kleinen hier eine Geschichte zu erzählen?"
Ninnel winkte dem Ritter grinsend zu. Dessen
Augen weiteten sich vor Schrecken.
"Ihr habt einen kleinen Jungen entführt?
Ihr garstiges Monster, dafür werdet ihr noch heute in der Hölle
schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge, ich werde euch aus den Klauen
dieses Drachen befreien!"
"Wollt ihr mal wissen, wie oft ich diesen
Satz in genau demselben Wortlaut in meinem Leben schon gehört habe?",
erwiderte Kalessan, "Genau 164mal, diese Begegnung hier mitgerechnet. Und
genauso viele kleine Jungen wurden nicht aus meinen Klauen befreit, also,
ihr dürft euch jetzt entfernen - heute ist euer Glückstag!"
"Faule Reden von gespaltenen Zungen! Ihr könnt
mich mit eurer Prahlerei nicht ängstigen! Denn sehet: die Anti-Drachenlanze
- sie hat noch jedem eurer Rasse, der sich mir in den Weg gestellt hat,
den Garaus gemacht! Außerdem bin ich in meinem Auftrag nicht alleine:
Mein Gott Helmchen ist mit mir, er wird mich in diesem Kampf beschützen!"
"Boah, ein Kampf - wirst du gegen den Mann
da kämpfen, Onkel Kalessan?", rief Ninnel freudig aus.
"Halt du dich da raus, Junge! Hört mal,
Ritter, ich will keinen Ärger vor dem Kleinen hier. Also, wer hat
euch angeheuert und wie hoch ist seine Bezahlung? Ich zahle euch das Doppelte!",
brachte Kalessan mühsam hervor, mit dem Hintergedanken, später
von Karlmax das Dreifache zurück zu verlangen.
"Ihr könnt das schmutzige Geld aus eurem
Hort behalten, Drache, ich will es nicht! Ich arbeite für die Ehre,
für Helmchen und momentan für die liebreizende Lady Syrop, die
euren Kopf verlangt hat!"
Kalessan seufzte - diese Konfrontation war
also nur auf eine Art und Weise zu lösen. Den Namen Syrop musste er
sich wohl mal merken. Ein Exempel zu statuieren würde sicherlich eine
spaßige Aufgabe werden. Momentan erinnerte er sich jedoch an Karlmax’
Bitte, seinen Sohn mit allzu schrecklichen Gewaltdarstellungen zu verschonen
und wandte sich an den Jungen:
"Pass auf, wir spielen mit diesem Herren hier
jetzt mal eine Runde Verstecken, ja? Du drehst dich gleich um und zählst
laut bis... 48, dann darfst du den Ritter in dieser Höhle suchen gehen.
Aber du darfst dich kein einziges Mal vorher umdrehen, egal was du von
uns beiden hören solltest, ansonsten ist das ganze Spiel verdorben!
Verstanden?"
Ninnel nickte aufgeregt.
Dann sprach Kalessan erneut zum Ritter:
"In Ordnung Ritter, wir beide sind bereit,
es kann losgehen! Und im Übrigen werdet ihr nach näherer Untersuchung
feststellen können, dass meine Zunge entgegen aller öffentlichen
Vorstellungen nicht gespalten ist."
Damit nickte er Ninnel zu, der sich umdrehte,
die Augen zuhielt und mit dem Zählen begann:
"1..."
Gleichzeitig war der Kampfschrei des Ritters
sowie das Wiehern seines Pferdes und lautes Hufgetrappel zu hören,
dann das mächtige Rauschen eines großen, sich schnell bewegenden
Körpers, das Splittern von Holz, ein kurzes "BUH!" von einer tiefen,
machtvollen Stimme, das erneute, diesmal von Angst erfüllte Aufwiehern
des Pferdes, ein dumpfer Aufprall, sich entfernendes Hufgetrappel.
"Meine Lanze! Mein Pferd!"
"20..."
"Na wartet - sehet: das Anti-Drachenschwert!"
"24..."
Das Geräusch schabenden Metalls, Fußgetrappel,
von scharfen Gegenständen durchschnittene Luft, das Bewegen des großen
Körpers, das Stöhnen und die Rufe des Ritters, der Aufprall von
Metall auf einen anderen, harten Körper.
"Aber das Schwert... warum... warum wirkt
es nicht?"
"37..."
Die blitzartige Bewegung einer großen
Masse, ein kurzes *klong*, ein Aufstöhnen des Ritters, das lange Schliddern
eines metallischen Gegenstands auf dem Boden.
"Nein, nicht auch noch mein Schwert!"
"43..."
Das kurze, unangenehme Geräusch von spitzen
Gegenständen auf glatter Metalloberfläche, ein erneuter, panischer
Aufschrei des Ritters.
"45..."
Ein dumpfes Grollen, das Geräusch von
etwas sehr großem, sich öffnendem.
"46..."
"Nein, bitte, tut das n..."
Die Stimme des Ritters wurde gedämpft.
"47..."
*GLUCK*
"48... ICH KOMME!"
Ninnel machte die Augen auf und drehte sich
um. In der Höhle stand Kalessan, als ob nichts geschehen wäre
und sah ihn nervös-freundlich an. Der Junge begann, die Höhle
nach dem Ritter zu durchsuchen. Es dauerte allerdings nicht lange, bis
er bemerkte, dass es in Kalessans Wohnraum keinerlei Nischen und überhaupt
jegliche Art von Versteck gab, außer vielleicht unter Ninnels Bett,
aber dort lag der Ritter auch nicht.
"Hat er sich vielleicht in deiner Schatzkammer
versteckt?"
"Ähm... nein!"
"Und ist er vielleicht nach draußen
gegangen?"
"Nein!"
Ninnel sah enttäuscht aus.
"Dann weiß ich auch nicht, wo er ist
- kannst du mir nicht einen Tipp geben? Bittebittebitte!"
"Na gut, ähm... ich habe... ihn weggezaubert,
du kannst ihn gar nicht finden! War ein kleiner, fieser Scherz von mir,
haha.", sagte Kalessan.
Der Junge machte sofort große Augen.
"Boah, du hast ihn echt weggezaubert? An einen
anderen Ort?"
"Ähm... in gewisser Weise, ja..."
"Kannst du mich auch mal wegzaubern? Bittebittebitte,
Onkel Kalessan!"
"Das würde ich liebend gerne machen,
aber ich fürchte, deine Eltern hätten etwas dagegen."
Der Drache hasste es, wenn ihn Ninnel mit
seinen großen, flehenden Augen so bittend anstarrte, gerade so als
ob es ihm gefallen würde, das Schicksal jenes Ritters zu teilen...
dass er die gleiche Blutgruppe wie sein Vater hatte, machte es für
Kalessan auch nicht einfacher.
"Kannst du dann den Ritter wieder herholen,
ich will noch mal Verstecken spielen, diesmal aber ohne Wegzaubern!"
"Ähm... ich fürchte, dieser Ritter
ist jetzt leider zu beschäftigt, um noch mit dir spielen zu können,
tut mir leid.", sagte Kalessan und rülpste laut und voluminös.
Das Kind setzte einen entrüsteten Gesichtsausdruck
auf:
"Meine Mama hat gesagt, das gehört sich
nicht!"
Der Drache zog eine Augenbraue hoch:
"Pah, das ist mal wieder typisch für
eure Spezies, nur aus Höflichkeitsgründen ganz normale Körperfunktionen
zu unterdrücken - wenn du so etwas unterdrückst, dann verleugnest
du dich selbst, Kleiner!"
Er traf auf zwei große Abgründe
der Verständnislosigkeit in Form von Ninnels Augen.
"Und wo ist das Pferd von dem Ritter?", wechselte
der Junge schnell wieder das Thema.
Kalessan dachte an sein privates Wolfsrudel
im nahe liegenden Wald, das mittlerweile ziemlich ausgehungert sein dürfte.
"Auch weggezaubert."
"Och menno, das ist doof, keiner will mit
mir spielen!", entgegnete Ninnel enttäuscht und trat einen kleinen
Stein auf dem Boden weg. Sein Blick hellte sich jedoch sofort auf, als
der Stein beim Aufprall ein kleines *klonk* von sich gab und er das Schwert
des Ritters in der Höhle liegen sah. Sofort rannte er hin, hob die
Waffe unter Aufbietung aller seiner Kräfte auf und richtete sie auf
Kalessans Brust.
"Ha HA, sieh mal, ich bin ein gefährlicher
Drachentöter!", rief er freudig aus.
Kalessan verdrehte die Augen.
"Führ mich nicht in Versuchung, dich
doch noch wegzuzaubern, ja?"
"Hä?"
"Gib mir einfach die Waffe, jemand wie du
sollte nicht mit so etwas herumspielen.", seufzte der Drache und nahm Ninnel
das Schwert weg, was dieser mit einem beleidigt-enttäuschten Blick
quittierte. Glücklicherweise wusste er es besser, als jetzt mit einem
großen Heul- und Schreikrampf anzufangen. Stattdessen fragte er:
"Kannst du mir vielleicht beibringen, wie
man mit einem Schwert kämpft?"
"Ich könnte es vielleicht, aber ich würde
es selbst dann nicht tun, wenn ich die Erlaubnis von deinem Vater hätte.
Denn wie du siehst, bin ich ein großer, Furcht einflößender
Drache und habe nicht die allergeringste Lust, noch so einen Möchtegern-Drachentöter
heranzuzüchten, der nach meinem Blut lechzt und nach dem Kampf mit
mir eh nur winselnd und ängstlich am Boden kriecht."
Ninnel reckte trotzig das Kinn in die Höhe.
"Ich werde mal Drachentöter, wenn ich
groß bin - dann musst du vor mir Angst haben und mir gehorchen und
vor mir auf dem Boden kriechen! Dann kann ich machen, was ich will. Und
dann habe ich ein eigenes Schwert!"
Kalessan hatte schon befürchtet, dass
er so etwas sagen würde.
"Meinetwegen. Wenn du mal groß bist
und das hier immer noch nicht verdaut haben solltest - ich warte auf dich!
Für heute gibt es jedenfalls keine Geschichten mehr - du kannst ja
mal darüber nachdenken, wie wichtig es wirklich für dich ist,
ein Drachentöter zu werden!"
Mit diesen Worten wendete er sich von dem
Kind ab, legte die Klinge zu den Aberhunderten anderer Anti-Drachenschwerter
in seiner Schatzkammer und versiegelte den Raum wieder.
Ninnel würde heute unausstehlich werden...
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© Der
Doktor
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