Ein jeder kennt diese Tage, an denen einem
hintereinander nur grauenhafte Dinge passieren und man sich so vorkommt,
als ob ein riesengroßer Hammer der Negativität einen langsam
und Stück für Stück in die Wand der vollkommenen Verzweiflung
nageln würde. Kurzum, es scheint so, als hätten sich sämtliche
Götter gegen einen verschworen.
Kalessan kannte die Götter... mit einigen
von ihnen traf er sich sogar mehr oder weniger regelmäßig zu
einem kleinen Plausch. Ihnen schob er also nicht die Schuld in die Schuhe
für einen dieser Tage, der in diesem Fall schon mit einem besonders
miesen Traum begann:
Ein alter Mann saß inmitten von zwei
Dutzend schreienden Kindern und lächelte sie an, während sie
fröhlich kreischten und in die Hände klatschten.
"Oh bitte, erzähle uns noch eine Geschichte!"
"Ja, erzähl uns noch eine Geschichte!"
"Oh ja, bittebittebitte!", tönte es von
allen Seiten her.
Der alte Mann lachte laut auf und strahlte
die Kinder ringsum nur noch freundlicher grinsend an.
"Aber natürlich, ihr kleinen Racker.
Also, passt auf: Es war einmal ein kleiner, roter Drache..."
Die Kinder unterbrachen ihn im Chor:
"Die Geschichte, wie du von den Menschen grundlos
angegriffen wurdest und ihr Dorf vernichtet hast, kennen wir aber schon!"
"Genau, erzähl lieber noch mal die Geschichte,
wie die Menschen deine Partnerin und alle deine Jungen umgebracht haben!"
"Ja, genau! Bitte, Onkel Kalessan!"
"Ja, bitte, Onkel Kalessan!"
Onkel Kalessan...
Onkel Kalessan...
Kalessan...
"Onkel Kalessan?"
Der Drache schreckte hoch. Die zwei Dutzend
Kinder verschmolzen zu einem einzigen, das direkt vor Kalessans Schnauze
stand.
"Wasch?", murmelte der Drache, vom alleinigen
Anblick des Quälgeistes schon vollkommen entnervt.
"Du hattest einen Albtraum und warst sehr
laut.", sagte Ninnel, der anscheinend ebenfalls unfreiwillig geweckt wurde
und noch seinen ihm viel zu großen, anscheinend sündhaft teuren
Schlafanzug trug, den Kalessan als "Geschenk" aus einer der umliegenden
Städte erhalten hatte.
"Oh... Habe ich irgendwas verdächtiges
gesagt, wovon du nichts erfahren solltest?"
"Nein, du hast mich nur geweckt.", erwiderte
der Junge vorwurfsvoll.
"Na, dann ist ja alles in Ordnung.", entgegnete
Kalessan und gähnte herzhaft.
Ninnel hielt sich die Nase zu und starrte
in den Schlund seines Aufpassers.
"Du hast da lauter Stofffetzen zwischen den
Zähnen!"
Kalessan schloss seine Kiefern hastig.
"Oh... ähm... wo kommen die denn her?"
So langsam hatte der Drache es satt, seine
Vorlieben für fleischliche Genüsse vor dem Jungen geheim zu halten.
"Hast du etwa einen Menschen aufgefressen?"
"JA, DAS HABE ICH!"
So, jetzt war es raus... eine ehrliche Frage,
eine ehrliche Antwort... da konnte er genauso gut weitermachen:
"Ich habe schon hunderte Menschen gefressen,
ach was, tausende, sogar so kleine Grünschnäbel wie dich – und
ich habe dabei nicht mal mehr mit der Wimper gezuckt, sondern genossen,
wie sie geschrieen und gebettelt und gezappelt haben und wie ihre Knochen
zwischen meinen Zähnen knackten. Ich mag den Geschmack ihres Fleisches,
ihres Blutes und ihre kleinen unbehaarten Körper, die einem nicht
so schwer im Magen liegen wie das ganze andere Gewusel auf diesem verdammten
Planeten. Na, wirst du nun winselnd auf dem Boden kriechen, weil du jetzt
weißt, dass ich ein übler, gewalttätiger Menschenfresser
bin?"
"Kommt drauf an: Wirst du mich jetzt auch
fressen?"
"So sehr ich deine kriecherische Rasse und
vor allem anderen dich verachte – nein! Ich habe deinem Vater etwas versprochen
und ziehe das jetzt auch durch."
"Na, dann ist ja alles in Ordnung!", erwiderte
Ninnel fröhlich und löste seinerseits fast einen Schockzustand
bei Kalessan aus.
"Was soll das heißen... ich habe dir
gerade eröffnet, dass ich schon unzählige Menschen umgebracht
habe und du hast immer noch keine Angst vor mir?"
"Nun, von irgendwas musst du ja leben... außerdem
hast du gerade auch gesagt, dass du mich nicht fressen wirst, warum sollte
ich also Angst haben?"
Weil ich dich auf hunderte andere Arten umbringen
könnte!, dachte sich der Drache, sprach diesen Gedanken aber nicht
laut aus, sondern starrte nur verblüfft auf den kleinen Jungen, der
sich unbesorgt von ihm abwandte und mit anderen Dingen beschäftigte.
Dies war wohl die berühmte Unbeschwertheit
eines Kleinkindes...
Wäre die Welt doch nur so simpel!
Nun, anscheinend würde sich der Drache
in seinen Eigenarten jetzt doch nicht so drastisch zurückhalten müssen,
wie er es die ganze zurück liegende Zeit zu Ninnels Anwesenheit in
seiner Behausung getan hatte... es sah so aus, als würde der folgende
Tag doch gar nicht so schlecht werden.
Doch wie schön wäre das gewesen...
Die seltsamsten Ereignisketten werden manchmal
durch die unpassensten Sätze begonnen. In diesem Fall lautete der
Satz: "Lieferung für Kalessan!"
Dies war zunächst nicht verwunderlich,
da an jenem unheilvollen Tag genau eine Woche vergangen war, seitdem der
Drache auch Doofdorf, eine weitere Siedlung in seiner Umgebung, freundlich
dazu gebeten hatte, ihm wöchentlich Opfergaben zu bringen. So viel
Freundlichkeit kann kein Dorf widerstehen, von daher kam die Lieferung
der verlangten Nahrungsmittel auch äußerst rechtzeitig.
"Stellt das Zeug einfach irgendwo hier hin,
meidet dabei die Pfützen und haut dann wieder ab, ja?"
Kalessan sah sich die beiden Herren, die die
bunt geschmückten Körbe voll vegetierender Nahrungsmittel mitbrachten,
genau an. Normalerweise wurde diese Aufgabe von unbeliebten, dreckigen
und vor allem entbehrlichen Dorftrotteln erledigt, diese beiden schienen
jedoch recht kräftig zu sein. Außerdem hatten sie beide exakt
die gleiche, uniformähnliche Kleidung an, auf die groß die Buchstaben
"LL" aufgestickt waren. Kalessan ging im Kopf schnell alle bekannten Wappen
von Rittern und Drachentötern durch und untersuchte die Menschen auf
Anzeichen von alten Drachentötertricks. Als er nicht fündig wurde,
fragte er nach:
"Wofür steht das 'LL' auf eurer Kleidung?"
"Wat? Oh, dat steht für 'Lennys Lieferungen',
Zustelldienst alla ersta Jüte, zu Diensten!"
"Oh toll, freut mich... ihr dürft euch
dann jetzt verpissen!"
"Eenen Moment noch, Meesta, wat solln wa’n
mit der Jungfroo da machn?", erkundigte sich der Zusteller.
Erst jetzt bemerkte Kalessan die an einen
Holzpfahl gefesselte Frau, die von einem dritten Zusteller auf einem kleinen,
rollbaren Gefährt herein geschoben wurde. Angesichts des offensichtlichen
Alters der Frau von über 50 Jahren hätte die Bezeichnung Jungfrau
jedoch unzutreffender nicht sein können.
"Was soll das werden, ich habe gar keine Jungfrau
bestellt. Und schon gar nicht so eine alte Schrulle wie die da!", empörte
sich Kalessan bei dem obersten Zusteller.
"Hey, das habe ich gehört, Schätzchen!",
rief die Jungfrau aus.
"Ick hab ooch nur meene Anweisungen, weeste,
und ick wees ooch nich, wat ick mit so ner alten Schraube anfangen soll.
Also, wohin mit dem Teil?"
Kalessan hatte absolut keine Lust, sich jetzt
mit einem derartig grauenhaften Akzent weiterhin auseinanderzusetzen und
entgegnete:
"Na gut, na gut, stellt sie da drüben
ab."
Der Zusteller tat, wie ihm geheißen
ward. Damit war anscheinend schon alles in der Höhle abgeliefert,
was die drei Herren dabei hatten. Dennoch schienen sie noch nicht zu beabsichtigen,
Kalessans Höhle zu verlassen.
"Jut, dat macht dann Eensfuffzich Bearbeitungsjebühr
biddesehr.", ließ sich der oberste Zusteller vernehmen.
"Bitte, was?"
"Na, wir machen unsre Arbeit ja ooch nich
umsonst, wa?"
"Ja toll, aber von mir werdet ihr kein Geld
bekommen, also haut ab!", giftete Kalessan die Menschen an.
"Was wollen die Männer da von dir?",
fragte der anscheinend gerade erneut aus seinem Bett gekrochene Ninnel.
"Gar nichts wollen die. Gar nichts bekommen
die!"
"Jetz hör mal zu, Meesta, so wie ick
det sehe, is dat hier ne bereits bezahlte Nachnahmebestellung, in der aber
noch nich die Bearbeitungsjebühr für unser Unternehmen enthalten
war und ick werd diese Höhle hier nich verlassen, bis ick die ausjezahlt
bekommen hab, klar? Wennde willst, kannste det Finanzielle ja jerne mit
den Absendan rejeln, ick will jetz jedenfall meen Jeld habn!"
"Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du
hier vor dir hast und mit wem du so unverfroren sprichst?", zischte der
Drache.
"Du kannst mir natürlich jerne drohen,
aber ick sach dir, mit den Jewerkschaften willste dir ooch nich anlejen!
Und vor dem Kleenen da willste uns doch sicherlich ooch nichts antun, nich
oder?"
"Ha, jetzt hat er dich aber dran bekommen,
Schätzchen!", warf die Jungfrau ein.
"Du da drüben hältst mal brav die
Klappe, ja?"
Eine Stimme ertönte:
"A-HA, übles Echsenmonster, so habe ich
euch doch noch gefunden. Nun hat euer letztes Stündlein geschlagen!"
Oh nein!, dachte sich Kalessan, als der dazu
passende Ritter, der ein Zwilling zu dem letzten Eindringling hätte
sein können, seine Höhle betrat.
"Und was muss ich da sehen! Ihr schändliches
Untier haltet eine holde... Jungfrau?... ähm... gefangen und dazu
noch... drei Lieferanten von 'Lennys Lieferungen'...?"
"Oh, schau mal, Onkel Kalessan, noch ein Ritter
zum Wegzaubern!", rief Ninnel freudig aus.
Der Drachentöter keuchte, schien aber
angesichts dieser wirklichen Greueltat seine Fassung wieder zu gewinnen:
"Ihr habt einen kleinen Jungen entführt?
Ihr garstiges Monster, dafür werdet ihr noch heute in der Hölle
schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge, ich werde euch aus den Klauen
dieses Drachen befreien!"
"165...", dachte sich der Drache.
"Die edle Lady Syrop hat also richtig daran
getan, mich mit dieser Aufgabe zu betreuen!"
"Wer zur Hölle ist diese Lady Syrop eigentlich?",
unterbrach Kalessan den Drachentöter verwirrt.
"Das tut jetzt nichts zur Sache, ihr solltet
nur ihren Namen wissen, bevor ich euch umbringe!"
"Ey, aber erst will ick meen Jeld haben, damit
dat klar is, ja?"
Ein weiterer Mensch betrat die Höhle:
"Boah, ein Drache!"
Der Kleidung nach zu urteilen, schien es sich
um einen jungen Mann aus einer anderen Dimension zu handeln – ganz genau
das, was Kalessan jetzt noch brauchte!
"Wow, ein Drache wird mich auf meine Weltenrettermission
schicken, das ist ja so cool!"
"Aber ich war zuerst da, Fremder aus einer
anderen Dimension, von daher werde ich ihn zuerst umbringen, bevor er euch
auf so eine unheilige Mission schicken kann!", erwiderte der Drachentöter.
"Und was soll ich dann hier?", fragte der
Reisende.
"Hey, ich habe meine besten Kleider extra
für diesen Anlass angezogen, und ich bin nicht einfach nur zum Spaß
hierher gekommen!", rief die Jungfrau dazwischen, deren Kleidung sich bei
genauerem Betrachten als bemerkenswert schäbig entpuppte.
"Jenau, und wat is dann mit meenem Jeld, wie
soll ick dat dann bitte herbekommen?"
"Ja, und was ist mit meinem Geld?", erkundigte
sich die nächste Gestalt, die die Höhle betrat und sich als der
alte Angestellte aus Kalessans Wald entpuppte, der offensichtlich sein
Gehalt einfordern wollte.
Kalessans Augen zuckten nervös von einem
Menschen dieser kleinen Ansammlung in seiner Höhle zum anderen – sein
rechtes Augenlid begann, unkontrolliert zu zittern.
"Oh, ihr seid doch der alte Mann, der mich
hier hereingeschickt hat!", sagte der transdimensional Reisende zum Alten.
"Hmja, ich sehe schon, der Drache hatte anscheinend
noch keine Möglichkeit, sich mit euch zu... beschäftigen... nun,
sieht so aus, als müsste er mir zuerst meine Bezahlung geben, ansonsten
geschieht hier gar nichts!", gab dieser zurück.
"Oh, er bezahlt euch dafür, dass ihr
Leute zu ihm schickt? Warum denn?"
"Ähm... vergesst es!"
"Du, Onkel Kalessan, was wollen die denn alle
hier?"
Kalessans linkes Augenlid begann nun ebenfalls
zu zucken.
"Kommen wir jetzt langsam mal voran? Ich habe
heute noch zwei Duelle zu bestreiten und eine bösartige Räuberbande
auszulöschen, mein Terminkalender lässt keinen Platz für
Verspätungen!", machte sich der Ritter lautstark kund.
"Und wir ham heute ooch noch die eene oder
andre Lieferung zu machen, näch?"
"Ich werde langsam steif an diesem ollen Pfahl
hier!"
"Ich kann es kaum erwarten, diese Welt vor
dem Bösen zu retten!"
"Und ich kann es kaum erwarten, endlich mal
wieder meine wohlverdiente Bezahlung zu bekommen!"
"Du, Onkel Kalessan, ich habe Hunger!"
Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll
auf den Drachen, dessen ganzer Kopf nun sichtbar vibrierte.
Kalessans Ausbruch traf sie schnell, hart
und vor allem unerwartet.
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Doktor
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