Das Babysitter von Der Doktor
8. Kapitel

In einem Ausbruch verzweifelter Gutmütigkeit zahlte er den Alten und die Lieferanten aus, vereinbarte einen neuen Termin mit dem Drachentöter
("Und was ist, wenn ihr eure Gefangenen in diesem Zeitraum umbringt? Das kann ich nicht zulassen!"
"Aber dann fällt eure Rache doch nur umso schrecklicher aus, nicht wahr?"
"Oh ja - also wagt es nicht, Echse!")
und schickte den Fremden aus der anderen Dimension auf eine Reise. Doch diesmal war es ausnahmsweise nicht die Reise in Kalessans Magen, sondern wirklich in einen anderen Teil des Kontinents:
"Also passt auf, ihr nehmt diesen Brief hier und übergebt ihm einem anderen Vertreter meiner Art namens Morkulebus dem Schwarzen. Ihr findet ihn in den finsteren Sümpfen des Schwarzen Todes."
"Boah, das hört sich voll cool an! Und was muss ich dann machen?"
"Morkulebus wird wissen, was mit euch zu tun ist - nur dürft ihr diese wichtige Botschaft niemals verlieren und niemand außer Morkulebus darf sie lesen, nicht einmal ihr selbst!"
"Aha, und wo sind diese finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes?", fragte der Reisende.
"Ähm... das herauszufinden ist Bestandteil deiner gefahrvollen Reise. Ich kann dir nur die Tür zeigen, hindurchgehen musst du selbst - sie ist da drüben, und jetzt hau ab!", fuhr Kalessan ihn mit den letzten Worten an.
Der Fremde ließ sich ein letztes "Cool!" vernehmen, packte den Brief stolz in seine Hosentasche und machte sich frohen Gemüts auf seine gefahrvolle Reise in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes.
Den Großteil der ungewollten Besucher war Kalessan damit los. So blieb nur noch eine Person übrig:
"Finde ich ja ganz toll, wie du die alle abgewimmelt hast, Schätzchen. Kannst du dich jetzt vielleicht auch mal um mich kümmern, ist nicht gerade sehr angenehm, wenn man so lange auf seinen Tod warten muss", sagte die Jungfrau mit ihrer heiseren, rauchigen Stimme.
"Oh, wirst du sie jetzt fressen, Kalessan?"
"Sei ruhig, Ninnel! Und du da kannst mir nicht wirklich verklickern, dass du noch eine Jungfrau bist", richtete sich der Drache an die immer noch an ihren Holzpfahl angebundene, angebliche Jungfrau.
"Bin noch so frisch wie am ersten Tag, Schätzchen. Rein und unversehrt, zart und schmackhaft."
"Deine Opferbereitschaft ist wirklich hinreißend. Du hast nicht zufällig sämtliche Taschen mit Kalk vollgestopft, der sich in meinem Magen ausdehnen und mich verrecken lassen sollen?"
"Ähm... nein?", antwortete die sichtlich überraschte und nun nicht mehr ganz so selbstbewusste Jungfrau.
"Erstens habe ich schon bessere Lügner gesehen, zweitens stinkst du überall nach dem Zeug und drittens funktioniert es sowieso nicht. Außerdem hätte ich dich eh nicht gefressen, mit diesem Quälgeist in meiner Nähe..."
"Och, warum denn Kalessan – ich will sehen, wie du sie frisst! Och bitte, mir zuliebe!", bettelte Ninnel lautstark.
"Danke für deine Unterstützung, Kleiner!", entgegnete die Jungfrau säuerlich.
"Ich sagte, dass du den Mund halten sollst, Winzling!", brauste Kalessan auf, der den Stress von vorhin anscheinend noch nicht ganz verarbeitet hatte.
"Ich will das jetzt aber sehen! Ich will, ich will, ichwillichwillichwill..."
"Wenn du nicht sofort ruhig bist, dann setzt es was, Kleiner!", knurrte der Drache drohend.
"Ichwillichwillichwillichwillichwill..."
Einer von Kalessans Nervensträngen riss innerlich mit einem lauten Knall.
Der Drache schlug zu.
Der Junge war still.
"Na endlich ist Ruhe!", sagte Kalessan, der sich wieder der Jungfrau zuwandte, welche schockiert auf den Jungen starrte.
"Wie... wie konntet ihr nur?"
"Manchmal muss man halt harte Maßnahmen ergreifen, wenn man seinen Willen durchsetzen will... Schätzchen!", fügte der Drache in spottendem Tonfall hinzu.
"Aber... aber er war doch noch ein kleines Kind!"
"Ja, und jetzt gibt er endlich Ruhe!"
"Weil ihr ihn enthauptet habt!"
Kalessan sah Ninnel an. Der ungewöhnlich schlaffe Körper des Jungen, eine sich ausbreitende, rote Pfütze und nicht zuletzt der mehrere Meter entfernt liegende Kopf des Kindes, welcher noch immer eine sehr erwartungsvolle "Ichwill..."-Miene trug, sprachen nicht gerade für Kalessans Unschuld.
Menschen umbringen war ja normalerweise schön und gut, doch diesmal empfand er an seiner Tat keine Freude, vielmehr drängte sich ihm die nagende Erkenntnis auf, dass er für diesen Mord ernsthafte Konsequenzen würde tragen müssen.
In einer fließenden Kette aus Gedanken wanderten seine Gefühle von Erschrockenheit über Zufriedenheit, Scham, schlechtes Gewissen und Verzweiflung bis hin zu dem letztendlich grausamsten Gefühl, bei einer eigentlich simplen Aufgabe vollkommen versagt zu haben. Die meisten dieser Gefühle hatte er seit langer Zeit nicht mehr empfunden, und schon gar nicht aufgrund eines Menschen, den er im Grunde genauso sehr wie jeden anderen, wenn nicht sogar noch mehr, verachtete - zumindest versuchte er, sich das einzureden.
Während Kalessan jenen Gedanken nachhegte, scheute sich die Jungfrau nicht, ihn mit den derbsten Ausdrücken zu bekreischen, die sie in ihrem längeren Leben selbst als Jungfrau bereits aufschnappen konnte. Irgendwann zwischen den "Mistkerlen", "kaltblütigen Bastarden" und "Turnbeutelvergessern" wurde es auch dem erschrockenen Drachen zu bunt:
"Kannst du auch mal deine verdammte Klappe halten!?", schrie er. Die erzeugten Schallwellen alleine reichten bereits aus, um die Jungfrau vor Schmerzen aufkreischen zu lassen. Fortan hing sie wimmernd an ihrem Pfahl. Eine Beschimpfung fügte sie den ganzen "Kindermördern" und "seelenlosen Monstren" jedoch noch leise hinzu:
"Ihr seid schlimmer als der schrecklichste Dämon der Hölle!"
*pling*
Versagen hatte Kalessan als Möglichkeit bei allen seinen Handlungen schon immer ausgeschlossen. Und auch jetzt war nicht der Zeitpunkt gekommen, dies wieder als Option hinzuzufügen.
Der Drache verwandelte sich, lief in seine Schatzkammer und durchwühlte sämtliche Truhen und Ansammlungen von Schätzen, die er dort vorfand, bis er alle Utensilien beisammen hatte, die er benötigen würde. Er lief zurück in seine Wohnhöhle und zeichnete mit schwarzer Kreide sorgfältig die erforderlichen Symbole auf eine Stelle des Bodens, die noch nicht vollgeblutet oder -gepinkelt worden war. Danach stellte er die Kerzen an den entsprechenden Stellen auf und zündete sie mit der Berührung eines Fingers an. Schließlich wischte er, um den Vorbereitungen den letzten Schliff zu geben, eine Ecke des großen Drudenfußes, den er gemalt hatte, weg. Die Jungfrau beobachtete ihn hasserfüllt und fing wieder an zu kreischen:
"Was wollt ihr da machen? Schwarze Magie? Eure Hexerei wird die Seele dieses armen Jungen auch nicht wieder zurück bringen, nur seine seelenlose Hülle, ihr grausames Stück Sch..."
"HALT den Mund und sei still. Ich kann seine Seele vielleicht nicht zurück bringen, aber ich kenne jemanden, der das kann. Und ich warne dich, sag jetzt ja kein Wort - und wenn, dann sprich nur in der Weise wie ich es tun werde, denn er hat so seine Eigenheiten und ist momentan ziemlich schlecht gelaunt. Es hat irgendwas mit der... 'neuen Rechtschreibung' oder so zu tun, die ihm ziemlich zu schaffen macht. Wenn dir deine Seele also lieb ist, dann wirst du ruhig bleiben, denn ich kann dir sonst auch nicht weiter helfen! Ganz davon abgesehen, dass ich das überhaupt nicht will..."
In der Hoffnung, das Richtige zu tun, wendete sich Kalessan von der nun ruhigen Jungfrau ab und begann mit der Beschwörung seines "alten Bekannten". Blitz, Donner, Nebel, ein großer, schwarzer Pudel und eine gewaltige lyrische Veränderung kündeten die Ankunft des Herren der Unterwelt an...
MEFISTOFELES tritt, indem der Nebel fällt, aus dem Pentagramm hervor:
Wozu der Lärm? Was steht dem Herrn zu Diensten?
KALESSAN:
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst
Und fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;
Mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
MEFISTOFELES:
Hört auf mit diesem Redeschwall
Und sagt mir lieber, alter Freund
Warum ihr mich mit einem mal
Zu euch bestellt in dieser Stund!
Ihr wisst wie ich beschäftigt bin
Drum nennt schnell den verqueren Sinn
Von diesem Anruf - sprechet rasch!
KALESSAN:
Eure Reime sind heut ziemlich lasch...
MEFISTOFELES:
Wer bist du, dass du mich hier tadelst?
KALESSAN:
Nur der, den du mit Freundschaft adelst.
Doch sag: Kennst du den Faust?
MEFISTOFELES:
                                                   Den Doktor? Diesen Wicht?
KALESSAN:
Oh, nein, den Faust, den mein’ ich nicht!
Der Karlmax ist’s!
MEFISTOFELES:
                                Ach der, was ist mit dem?
KALESSAN:
Fürwahr! er diente mir auf gar besondre Weise.
Und ist nun grad auf einer großen Reise.
Ihm treibt die Gärung in die Ferne.
Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,
Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.
MEFISTOFELES:
Nun kommt zur Sache!
KALESSAN:
Sein Sohn ist’s, der mein Herz bewegt.
Verzweiflung die sich in mir regt,
Denn tot ist er, durch meine Hand
Starb er, sein Körper liegt dort noch
Doch in mir hab ich anerkannt
Dass sein Tod wie ein großes Loch
In meinem Herzen ist, 
Das schnell zu füllen ich gedenke
Indem ich neues Leben schenke.
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Nekromantie!
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Denn Leben schenken kann ich nicht,
Nicht mal mehr diesem kleinen Wicht.
Drum eurer Hilfe ich bedarf
Wo ich als Freund stets redlich, brav
Die Seelen der durch mich Gefallnen
In euer Reich, die Hölle, schickte.
Eure Hilfe, die ich brauch
Um ihm zu geben Lebenshauch.
Lange Rede, kurzer Sinn
Woran ich interessiert nun bin
Ist, was ihr zu dem Vorschlag meint.
MEFISTOFELES:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Nun frag ich dich: was ist der Grund
Weswegen ich zu dieser Stund
Den Bengel soll ins Leben rufen
Ich Teufel mit den Pferdehufen?
Doch die Seelen vieler Toter
Gelangten nur durch euch
Mein lieber Roter
Schnell und häufig in mein Reich
Fürwahr!
Drum sei mein’ einzige Bedingung
Mit der die Seel des Jungen ich errette:
Ein andre Seele, rein und jung
Die ich denn statt des Kindes gerne hätte.
KALESSAN auf die Jungfrau zeigend:
Nehmt diese dort!
JUNGFRAU:
                              Wen - mich?
KALESSAN:
Nun seid jetzt still!
Denn eure Seele ist’s, die dieser Teufel gerne will.
MEFISTOFELES:
Schön ist sie nicht, das ist wohl wahr
Doch innen ist sie rein und klar - 
Ich nehme sie!
JUNGFRAU:
                           Er will mich!
KALESSAN:
Und der Junge soll leben!
JUNGFRAU:
Zu Hilf! Ich glaub ich muss mich übergeben!
MEFISTOFELES:
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.
JUNGFRAU:
So irgendjemand! Rette mich!
Ihr Götter! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!
Kalessan! Mir graut’s vor dir.
MEFISTOFELES:
Sie ist gerichtet!
KALESSAN:
                           Er gerettet!
MEFISTOFELES zur Jungfrau:
                                               Her zu mir!
Verschwindet mit der Jungfrau.
STIMME DER JUNGFRAU von innen, verhallend:
Kalessan! DU AR...!
Normalität kehrte wieder ein. Kalessan sah sich wieder dazu in der Lage, in normalen Sätzen zu denken. Sein Blick fiel auf Ninnel, der auf dem Boden lag, als wäre nichts geschehen. Keine große Blutlache und kein abgetrennter Kopf sprachen mehr für die begangene Untat.
Ninnel öffnete die Augen sah den Drachen an wie jemand, der gerade am Steuer in Sekundenschlaf gefallen ist und sich jetzt wundert, dass sein Auto an einem Baum klebt. Der Junge rappelte sich auf und sah sich um. Dann fragte er:
"Hast du die Jungfrau jetzt aufgefressen?"
"Ähm... ja!", antwortete der Drache, verwirrt über die Frage.
"Och menno, ich wollte doch zugucken!"
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© Der Doktor
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Und schon geht's weiter zum 9. Kapitel...

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