Entweder war es von Mefistofeles beabsichtigt
gewesen oder Kalessan hatte den menschlichen Verdrängungsmechanismus
katastrophal unterschätzt. Jedenfalls hatte Ninnel keine Erinnerung
mehr an seinen eigenen Tod, geschweige denn die Zeit danach. Woran er allerdings
noch perfekte Erinnerungen zu haben schien, waren die Minuten kurz vor
Kalessans kleinem Ausrutscher. Da der Drache laut eigenen Aussagen die
Jungfrau nach Ninnels Bitten doch noch verspeist hatte, war die logische
Schlussfolgerung des Jungen gewesen, dass er den Drachen doch nur intensiv
nerven müsse, um seinen eigenen Willen durchsetzen zu können.
Kalessan auf der anderen Seite fasste das
Kind fortan nur noch mit Samthandschuhen an und behandelte es wie ein gesprungenes,
rohes Ei. Kurzum: jegliche Art der Kontrolle, die Kalessan über Ninnel
in den letzten Wochen gewonnen hatte, wurde durch diesen verhängnisvollen
Tag zerstört.
Ninnel konnte somit machen, was er wollte,
und Kalessans Nerven lagen blank. Die Demütigungen, die ihm der Junge
in den folgenden Tagen zufügte, übertrafen beinahe das Gefühl
des Versagens, das der Drache nach Ninnels Tod empfunden hatte. Doch es
waren nun schon einige Wochen verstrichen und ein Ende dieser schwarzen
Tage war in Sicht.
Kalessan sah ein Licht am Ende des Tunnels.
Es entpuppte sich als ein Güterzug.
Da Kalessan gerade auf dem Rücken lag,
machte Ninnel sich einen Spaß daraus, auf seinem Unterleib auf und
ab zu hüpfen. Dies machte dem Drachen, dem nicht einmal ernsthafte
Schwerthiebe an dieser Stelle wirklich etwas anhaben konnten, rein physisch
nichts aus. Dennoch spürte er jeden Hüpfer, als würde die
Faust eines Gottes unablässig auf ihn einprügeln.
"Wenn du weitermachst, erzähl ich das
deiner Mutter!", sagte er, doch es half nichts.
"Na und?", antwortete das Kind und machte
fröhlich weiter.
Kalessan richtete sich auf und bellte in bedrohlichem
Tonfall:
"Wenn du nicht sofort aufhörst, werde
ich dich fressen!"
Dies bewirkte, dass Ninnel zumindest ein paar
Sekunden aufhörte, bis er schließlich "Nein, wirst du nicht",
sagte und einfach weitermachte.
Auf der einen Seite wirkte da die folgende
Erscheinung fast erlösend, doch Kalessan hatte sich bereits damit
abgefunden, dass jeder Eindringling wirklich nur im allerersten Moment
eine willkommene Abwechslung darstellte.
"Ähm... Herr... Herr Kalessan?", ertönte
eine fiepsige Stimme, die Ninnel dazu veranlasste, mit seinem Gehopse aufzuhören
und Kalessan, in die entsprechende Richtung zu sehen.
Ein kleines Wesen mit Augenbrauen, die Finanzminister
aller Welten vor Neid erblassen lassen würden, mit einer Nase, die
vom Gurkentisch des nächst besten Gemüsehändlers geklaut
zu sein schien, mit Ohren, die es wahrscheinlich zum Segelfliegen benutzte,
und Augen, die größer waren als die von Spezies, die mehrere
Kilometer tief unter der Meeresoberfläche leben, war zunächst
mal sein Gesicht eine absolute Katastrophe. Das Wesen war zudem vier Fuß
groß, hatte eine kränklich-braune Hautfarbe, eine ranzige Tunika
um den Leib gebunden und war so potthässlich, dass jedes Krebsgeschwür
demgegenüber einen Schönheitswettbewerb gewinnen könnte.
Kalessan kannte dieses Wesen nur zu gut -
es handelte sich um Deppy, den persönlichen Hauswürger von Smahug.
Würger hießen diese Wesen, weil dies die erste Reaktion sehr
treffend umschrieb, die man beim Kontakt mit ihnen hatte.
"Bitte, Deppy, sage mir nicht, dass ich das
tun soll, was ich jetzt denke, das könnte böse Folgen für
dich haben!", knurrte Kalessan und unterdrückte den Würgereiz.
Ninnel schien angesichts dieser Erscheinung
zwischen Interesse und Abscheu sehr hin- und her gerissen... wenigstens
hielt er die Klappe.
"Aber Meister hat mir gesagen tut, ich sollen
euch sagen tun machen!" - Hatte ich schon erwähnt, dass die Grammatik
der Würger ebenfalls zum Kotzen ist? - "Meister Smahug hat gesagt
gemacht, dass ich machen sollen tun machen muss, dass..."
"SAG es nicht, Deppy, ich warne dich!"
"Aber dann muss armes Deppy sich wieder selbst
machen foltern tun, macht armes Deppy keinen Spaß, nichts nein."
"Das ist doch nichts im Gegensatz zu dem,
was ich dir antun könnte...", drohte der Drache.
"Oh, ihr sein nie nicht nett zu nettes Deppy,
Deppy machen tun tut nur seine Aufgabe erfüllen machen. 'Deppy machen
gehen ganz brav zu Herr Kalessan!', sagen Meister Smahug, 'Und machen sagen
Herr Kalessan, dass sofort kommen er machen tun soll, jetzt gleich, weil
wichtiges Treffen sein tut auf dem Berg und'..."
Seinen Satz sollte er nie fertig sprechen,
da er in einem Feuerstrahl aus Kalessans Maul verglühte.
Eine mehrere Sekunden lange Stille entstand,
bis sich Ninnel dazu durchringen konnte, als erster wieder etwas zu sagen:
"Danke... aber musstest du es gleich umbringen?"
Der Drache schnaubte:
"Würger kann man nicht umbringen, das
ist ja das Brutale an diesen Mistkerlen. Der kehrt jetzt zu seinem Herrn
zurück und nimmt erneut diese widerwärtige Gestalt an. Dagegen
bist selbst du eine Schönheit."
"Und was wollte er von dir?"
"Nichts gutes..."
Smahug hatte also eine Versammlung einberufen.
Kalessan hasste diese Versammlungen! Die anderen
neun Drachenarten verhielten sich auf diesen Treffen immer wie die letzten
Idioten, führten kindische Debatten aus und verhielten sich generell
nicht so, wie es wahre Drachen - Drachen wie Kalessan – tun sollten. Lediglich
Morkulebus war ähnlicher Auffassung und daher noch das von Kalessan
am meisten respektierte Mitglied, wenn er sich auch aus der Sicht des roten
Drachen zu passiv verhielt.
Schlimmer als das Verhalten der Drachen bei
jenen Treffen waren jedoch die Anlässe, aus denen Smahug, der Oberhaupt
des Rates, sie einberief. Erst beim letzten Mal hatte er den gesamten Rat
beinahe in sein Verderben geführt, was zu Kalessans Bekanntschaft
mit Karlmax und letztendlich auch zur momentanen Misere des roten Drachen
geführt hatte.
Doch wenn man wie Kalessan ältestes Exemplar
der eigenen Spezies war, konnte man sich vor diesen Versammlungen leider
nicht drücken, wollte man seine Position und damit ein ernsthaftes
Mitspracherecht bei den Entscheidungen über die Geschicke der Welt,
zu denen es auch ab und an kam, nicht riskieren.
Von ihm wurde nun erwartet, dass er sich sofort
auf den Weg machte, um an der Versammlung teilzunehmen. Ninnel konnte er
natürlich nicht in seiner Höhle lassen. Wer wusste schon, wie
viele Ritter - möglichst noch Getreue dieser ominösen Lady Syrop
- sich noch auf den Weg zu Kalessans Höhle machten und den Jungen
dann mitnahmen.
Kalessans Optionen waren also nicht sehr zahlreich
- auch wenn er es hasste, den Jungen in die Geheimnisse des Drachenvolkes
einzuweihen und, was noch schlimmer war, ihn mit dem peinlichen Auftreten
seiner Artgenossen konfrontieren zu müssen.
"Was wollte er denn nun genau?", unterbrach
Ninnel Kalessans Gedankengänge.
"Er hat eine Versammlung einberufen, zu der
ich gehen muss. Sieht so aus, als müsstest du mich begleiten..."
"Oh toll, dann darf ich endlich mit dir fliegen?"
So sehr Kalessan versucht hatte dies zu vermeiden,
diesmal hieß die Antwort wohl oder übel:
"Ja..."
Ninnel klatschte freudig erregt in die Hände
und bedrängte den Drachen, sogleich loszufliegen. Seufzend begann
dieser mit den Vorbereitungen, nur damit dieses elende Gequengel endlich
aufhören würde.
Währenddessen war ein junger Mann aus
einer fremden Dimension damit beschäftigt, die finsteren Sümpfe
des Schwarzen Todes zu finden, was sich als nicht besonders einfach herausstellen
sollte.
Viele Wochen lang zog er alleine durch die
Dörfer und Wälder, doch keiner schien den richtigen Weg zu wissen,
und böse Menschen hatten die Hinweisschilder umgedreht oder mit obszönen
Zeichnungen unleserlich gemacht.
Die Wälder waren auch nicht ungefährlich,
denn überall streunten gefährliche, wilde Tiere umher. Der Mann
aus der fremden Dimension sorgte sich aber nicht darum, denn schließlich
war er ja auserwählt, diese Welt zu retten, deswegen konnte ihm natürlich
nichts passieren. Eine große Anzahl von Zufällen, namentlich
zwei Wölfe, die sich im Streit um ihn als Beute selbst zerfleischten,
ein Bär, der kurz vor seinem Angriff unglücklich stolperte und
sich an einem Baum das Genick brach und ein Löwe, der sich gerade
auf den Reisenden stürzen wollte, dem dann aber einfiel, dass es im
Wald gar keine Löwen gab, worauf er in einer Rauchwolke verpuffte,
sorgten dann auch wunderbarerweise dafür, dass ihm tatsächlich
nichts passierte.
Einmal stieß der Reisende sogar auf
eine Räuberbande, die ihn freundlich umzingelte. Diese Räuber
entpuppten sich jedoch als hinterhältige Versicherungsvertreter, worauf
selbst der Mann aus der fremden Dimension schleunigst die Flucht ergriff.
Schließlich kam er in eine weitere kleine
Stadt und traf dort endlich auf einen Menschen, der den Weg in die finsteren
Sümpfe des Schwarzen Todes zu kennen schien. Es handelte sich um einen
seltsamen, kleinen Kerl in einer knallbunten, ledrigen Rüstung, die
aus so vielen Einzelteilen bestand, dass die gesamte Konstruktion bei der
geringsten Bewegung laut klappernd hin und her wackelte. Am Bauch war offenbar
eine Klappe, die man beliebig öffnen und schließen konnte. Die
Klinge seines Schwertes wies eine leichte Kurve auf und schien die gesamte
Biographie seines Besitzers zu erzählen, so vollgekritzelt mit fremdartigen
Schriftzeichen wie sie war.
"Und du weißt, wo es zu den finsteren
Sümpfen des Schwarzen Todes geht?", fragte der Reisende den Krieger.
"Ja, Nagersacki wissen wo ihr finden finstere
Sümpfe, hai!"
"Wo?"
"Was?"
"Häh?"
"Nein - hai!", sagte der Krieger nochmals.
"Ach so... kannst du mich dort hinführen?"
"Warum sollte Nagersacki das tun? Wo ist die
Ehre darin, fragt er den Fremden."
"Die Ehre?", erkundigte sich der Fremde verwirrt.
"Nagersacki kämpfen nur für die
Ehre. Wenn Ehre von Nagersacki verletzt, Nagersacki bringen sich selbst
um mit Kike-Riki!"
Nagersackie öffnete demonstrativ die
Klappe an seiner Rüstung und zeigte dem Fremden seinen nackten Bauch.
"Sag mal, was genau bist du eigentlich?"
"Nagersacki sein ehrenhafter Sauriam!", antwortete
der Krieger mit stolzgeschwellter Brust.
"Ich dachte, die Saurier wären alle ausgestorben!?"
"Wenn alle ausgestorben, warum stehen Nagersacki
jetzt vor euch?"
"Verstehe... Meinst du, dass es ehrenvoll
wäre, wenn du mir bei der Rettung der Welt hilfst?"
"Rettung der Welt? Ist große Ehre für
Nagersacki! Es wird mir Freude sein, den Fremden zu begleiten und ehrenhaft
zu sterben, hai!"
"Wo?"
"Was?"
"Ach, vergiss es..."
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Doktor
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