Das Babysitter von Der Doktor
9. Kapitel

Entweder war es von Mefistofeles beabsichtigt gewesen oder Kalessan hatte den menschlichen Verdrängungsmechanismus katastrophal unterschätzt. Jedenfalls hatte Ninnel keine Erinnerung mehr an seinen eigenen Tod, geschweige denn die Zeit danach. Woran er allerdings noch perfekte Erinnerungen zu haben schien, waren die Minuten kurz vor Kalessans kleinem Ausrutscher. Da der Drache laut eigenen Aussagen die Jungfrau nach Ninnels Bitten doch noch verspeist hatte, war die logische Schlussfolgerung des Jungen gewesen, dass er den Drachen doch nur intensiv nerven müsse, um seinen eigenen Willen durchsetzen zu können.
Kalessan auf der anderen Seite fasste das Kind fortan nur noch mit Samthandschuhen an und behandelte es wie ein gesprungenes, rohes Ei. Kurzum: jegliche Art der Kontrolle, die Kalessan über Ninnel in den letzten Wochen gewonnen hatte, wurde durch diesen verhängnisvollen Tag zerstört.
Ninnel konnte somit machen, was er wollte, und Kalessans Nerven lagen blank. Die Demütigungen, die ihm der Junge in den folgenden Tagen zufügte, übertrafen beinahe das Gefühl des Versagens, das der Drache nach Ninnels Tod empfunden hatte. Doch es waren nun schon einige Wochen verstrichen und ein Ende dieser schwarzen Tage war in Sicht.
Kalessan sah ein Licht am Ende des Tunnels.
Es entpuppte sich als ein Güterzug.

Da Kalessan gerade auf dem Rücken lag, machte Ninnel sich einen Spaß daraus, auf seinem Unterleib auf und ab zu hüpfen. Dies machte dem Drachen, dem nicht einmal ernsthafte Schwerthiebe an dieser Stelle wirklich etwas anhaben konnten, rein physisch nichts aus. Dennoch spürte er jeden Hüpfer, als würde die Faust eines Gottes unablässig auf ihn einprügeln.
"Wenn du weitermachst, erzähl ich das deiner Mutter!", sagte er, doch es half nichts.
"Na und?", antwortete das Kind und machte fröhlich weiter.
Kalessan richtete sich auf und bellte in bedrohlichem Tonfall:
"Wenn du nicht sofort aufhörst, werde ich dich fressen!"
Dies bewirkte, dass Ninnel zumindest ein paar Sekunden aufhörte, bis er schließlich "Nein, wirst du nicht", sagte und einfach weitermachte.
Auf der einen Seite wirkte da die folgende Erscheinung fast erlösend, doch Kalessan hatte sich bereits damit abgefunden, dass jeder Eindringling wirklich nur im allerersten Moment eine willkommene Abwechslung darstellte.
"Ähm... Herr... Herr Kalessan?", ertönte eine fiepsige Stimme, die Ninnel dazu veranlasste, mit seinem Gehopse aufzuhören und Kalessan, in die entsprechende Richtung zu sehen.
Ein kleines Wesen mit Augenbrauen, die Finanzminister aller Welten vor Neid erblassen lassen würden, mit einer Nase, die vom Gurkentisch des nächst besten Gemüsehändlers geklaut zu sein schien, mit Ohren, die es wahrscheinlich zum Segelfliegen benutzte, und Augen, die größer waren als die von Spezies, die mehrere Kilometer tief unter der Meeresoberfläche leben, war zunächst mal sein Gesicht eine absolute Katastrophe. Das Wesen war zudem vier Fuß groß, hatte eine kränklich-braune Hautfarbe, eine ranzige Tunika um den Leib gebunden und war so potthässlich, dass jedes Krebsgeschwür demgegenüber einen Schönheitswettbewerb gewinnen könnte.
Kalessan kannte dieses Wesen nur zu gut - es handelte sich um Deppy, den persönlichen Hauswürger von Smahug. Würger hießen diese Wesen, weil dies die erste Reaktion sehr treffend umschrieb, die man beim Kontakt mit ihnen hatte.
"Bitte, Deppy, sage mir nicht, dass ich das tun soll, was ich jetzt denke, das könnte böse Folgen für dich haben!", knurrte Kalessan und unterdrückte den Würgereiz.
Ninnel schien angesichts dieser Erscheinung zwischen Interesse und Abscheu sehr hin- und her gerissen... wenigstens hielt er die Klappe.
"Aber Meister hat mir gesagen tut, ich sollen euch sagen tun machen!" - Hatte ich schon erwähnt, dass die Grammatik der Würger ebenfalls zum Kotzen ist? - "Meister Smahug hat gesagt gemacht, dass ich machen sollen tun machen muss, dass..."
"SAG es nicht, Deppy, ich warne dich!"
"Aber dann muss armes Deppy sich wieder selbst machen foltern tun, macht armes Deppy keinen Spaß, nichts nein."
"Das ist doch nichts im Gegensatz zu dem, was ich dir antun könnte...", drohte der Drache.
"Oh, ihr sein nie nicht nett zu nettes Deppy, Deppy machen tun tut nur seine Aufgabe erfüllen machen. 'Deppy machen gehen ganz brav zu Herr Kalessan!', sagen Meister Smahug, 'Und machen sagen Herr Kalessan, dass sofort kommen er machen tun soll, jetzt gleich, weil wichtiges Treffen sein tut auf dem Berg und'..."
Seinen Satz sollte er nie fertig sprechen, da er in einem Feuerstrahl aus Kalessans Maul verglühte.
Eine mehrere Sekunden lange Stille entstand, bis sich Ninnel dazu durchringen konnte, als erster wieder etwas zu sagen:
"Danke... aber musstest du es gleich umbringen?"
Der Drache schnaubte:
"Würger kann man nicht umbringen, das ist ja das Brutale an diesen Mistkerlen. Der kehrt jetzt zu seinem Herrn zurück und nimmt erneut diese widerwärtige Gestalt an. Dagegen bist selbst du eine Schönheit."
"Und was wollte er von dir?"
"Nichts gutes..."
Smahug hatte also eine Versammlung einberufen.
Kalessan hasste diese Versammlungen! Die anderen neun Drachenarten verhielten sich auf diesen Treffen immer wie die letzten Idioten, führten kindische Debatten aus und verhielten sich generell nicht so, wie es wahre Drachen - Drachen wie Kalessan – tun sollten. Lediglich Morkulebus war ähnlicher Auffassung und daher noch das von Kalessan am meisten respektierte Mitglied, wenn er sich auch aus der Sicht des roten Drachen zu passiv verhielt.
Schlimmer als das Verhalten der Drachen bei jenen Treffen waren jedoch die Anlässe, aus denen Smahug, der Oberhaupt des Rates, sie einberief. Erst beim letzten Mal hatte er den gesamten Rat beinahe in sein Verderben geführt, was zu Kalessans Bekanntschaft mit Karlmax und letztendlich auch zur momentanen Misere des roten Drachen geführt hatte.
Doch wenn man wie Kalessan ältestes Exemplar der eigenen Spezies war, konnte man sich vor diesen Versammlungen leider nicht drücken, wollte man seine Position und damit ein ernsthaftes Mitspracherecht bei den Entscheidungen über die Geschicke der Welt, zu denen es auch ab und an kam, nicht riskieren.
Von ihm wurde nun erwartet, dass er sich sofort auf den Weg machte, um an der Versammlung teilzunehmen. Ninnel konnte er natürlich nicht in seiner Höhle lassen. Wer wusste schon, wie viele Ritter - möglichst noch Getreue dieser ominösen Lady Syrop - sich noch auf den Weg zu Kalessans Höhle machten und den Jungen dann mitnahmen.
Kalessans Optionen waren also nicht sehr zahlreich - auch wenn er es hasste, den Jungen in die Geheimnisse des Drachenvolkes einzuweihen und, was noch schlimmer war, ihn mit dem peinlichen Auftreten seiner Artgenossen konfrontieren zu müssen.
"Was wollte er denn nun genau?", unterbrach Ninnel Kalessans Gedankengänge.
"Er hat eine Versammlung einberufen, zu der ich gehen muss. Sieht so aus, als müsstest du mich begleiten..."
"Oh toll, dann darf ich endlich mit dir fliegen?"
So sehr Kalessan versucht hatte dies zu vermeiden, diesmal hieß die Antwort wohl oder übel:
"Ja..."
Ninnel klatschte freudig erregt in die Hände und bedrängte den Drachen, sogleich loszufliegen. Seufzend begann dieser mit den Vorbereitungen, nur damit dieses elende Gequengel endlich aufhören würde.

Währenddessen war ein junger Mann aus einer fremden Dimension damit beschäftigt, die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes zu finden, was sich als nicht besonders einfach herausstellen sollte.
Viele Wochen lang zog er alleine durch die Dörfer und Wälder, doch keiner schien den richtigen Weg zu wissen, und böse Menschen hatten die Hinweisschilder umgedreht oder mit obszönen Zeichnungen unleserlich gemacht.
Die Wälder waren auch nicht ungefährlich, denn überall streunten gefährliche, wilde Tiere umher. Der Mann aus der fremden Dimension sorgte sich aber nicht darum, denn schließlich war er ja auserwählt, diese Welt zu retten, deswegen konnte ihm natürlich nichts passieren. Eine große Anzahl von Zufällen, namentlich zwei Wölfe, die sich im Streit um ihn als Beute selbst zerfleischten, ein Bär, der kurz vor seinem Angriff unglücklich stolperte und sich an einem Baum das Genick brach und ein Löwe, der sich gerade auf den Reisenden stürzen wollte, dem dann aber einfiel, dass es im Wald gar keine Löwen gab, worauf er in einer Rauchwolke verpuffte, sorgten dann auch wunderbarerweise dafür, dass ihm tatsächlich nichts passierte.
Einmal stieß der Reisende sogar auf eine Räuberbande, die ihn freundlich umzingelte. Diese Räuber entpuppten sich jedoch als hinterhältige Versicherungsvertreter, worauf selbst der Mann aus der fremden Dimension schleunigst die Flucht ergriff.
Schließlich kam er in eine weitere kleine Stadt und traf dort endlich auf einen Menschen, der den Weg in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes zu kennen schien. Es handelte sich um einen seltsamen, kleinen Kerl in einer knallbunten, ledrigen Rüstung, die aus so vielen Einzelteilen bestand, dass die gesamte Konstruktion bei der geringsten Bewegung laut klappernd hin und her wackelte. Am Bauch war offenbar eine Klappe, die man beliebig öffnen und schließen konnte. Die Klinge seines Schwertes wies eine leichte Kurve auf und schien die gesamte Biographie seines Besitzers zu erzählen, so vollgekritzelt mit fremdartigen Schriftzeichen wie sie war.
"Und du weißt, wo es zu den finsteren Sümpfen des Schwarzen Todes geht?", fragte der Reisende den Krieger.
"Ja, Nagersacki wissen wo ihr finden finstere Sümpfe, hai!"
"Wo?"
"Was?"
"Häh?"
"Nein - hai!", sagte der Krieger nochmals.
"Ach so... kannst du mich dort hinführen?"
"Warum sollte Nagersacki das tun? Wo ist die Ehre darin, fragt er den Fremden."
"Die Ehre?", erkundigte sich der Fremde verwirrt.
"Nagersacki kämpfen nur für die Ehre. Wenn Ehre von Nagersacki verletzt, Nagersacki bringen sich selbst um mit Kike-Riki!"
Nagersackie öffnete demonstrativ die Klappe an seiner Rüstung und zeigte dem Fremden seinen nackten Bauch.
"Sag mal, was genau bist du eigentlich?"
"Nagersacki sein ehrenhafter Sauriam!", antwortete der Krieger mit stolzgeschwellter Brust.
"Ich dachte, die Saurier wären alle ausgestorben!?"
"Wenn alle ausgestorben, warum stehen Nagersacki jetzt vor euch?"
"Verstehe... Meinst du, dass es ehrenvoll wäre, wenn du mir bei der Rettung der Welt hilfst?"
"Rettung der Welt? Ist große Ehre für Nagersacki! Es wird mir Freude sein, den Fremden zu begleiten und ehrenhaft zu sterben, hai!"
"Wo?"
"Was?"
"Ach, vergiss es..."
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Und schon geht's weiter zum 10. Kapitel...

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