Das Babysitter von Der Doktor
10. Kapitel

Es war ein wahrhaft trauriger Punkt erreicht, wenn Kalessan nun schon selbst beim Fliegen keine Privatsphäre mehr hatte. Wenigstens hatte er Ninnel so stark in alle möglichen warm haltenden Kleidungsstücke verschnürt, dass dieser zwar noch atmen, aber keinen artikulierten Laut mehr hervorbringen konnte. Dass er ihn fest an seine Brust gepresst hielt, tat sein übriges, um ihn wenigstens den ganzen Flug über still und warm zu halten. Auf Kalessans Rücken hätte sich der Junge bei den ganzen Stacheln und Zacken die dort waren nur irgendwann selbst aufgespießt, auch wenn der Drache diesen Gedanken mittlerweile mit ungeahnter Genugtuung verfolgte.
Zum Versammlungsort war es ein halber Tag Flugzeit von Kalessans Behausung aus. Den Großteil der Zeit verbrachte der Drache damit, sich besonders blutige Todesarten für Ninnel auszudenken. Ansonsten fragte er sich, was Smahug wohl zu der Einberufung eines Treffens hätte bewegen können.
Wahrscheinlich wollte er seinen Artgenossen mal wieder einen neuen Ring in Drachengröße präsentieren, den Generationen tüchtiger Zwerge in Jahrhunderte langer Feinarbeit geschmiedet hatten. Oder ein wahnsinniger Mensch hatte mal wieder eine todbringende Maschine erfunden, die die Sonne in die Luft sprengen würde, wenn ihm nicht die Weltherrschaft zugesprochen würde.
Kalessan wusste nicht, was davon er mehr verachtete.
Er wusste ebenfalls nicht, dass er bei seinem Flug sehr aufmerksam beobachtet wurde.
Als er am Versammlungsort ankam, einer konzentrischen Ansammlung von Felsplateaus hoch in den Bergen, die vor langer Zeit genauso gut von Drachen- wie von Götter- oder Zufallshand hätte geschaffen worden sein können, waren alle anderen neun Mitglieder des Rates bereits anwesend.
Kalessan kreiste einmal über der Runde, die in den Farben Gold, Silber, Bronze, Kupfer, Messing, Grün, Schwarz, Blau und Weiß leuchtete, landete und mischte der Farbpalette einen aggressiven, roten Ton hinzu.
Die anderen Drachen waren sehr erstaunt, als sie ihn kommen sahen – normalerweise erschien er immer erst ein oder zwei Tage später als angekündigt.
"Oh, der werte Kalessan beehrt unsere illustre Runde ausnahmsweise einmal pünktlich. Gute Vorsätze fürs neue Jahrhundert stehen aber erst in ein paar Jahren an, mein bester!", spöttelte Smahug, der Älteste der Runde.
"Deine dämlichen Bemerkungen kannst du dir sonstwo hin stecken! Sag mir lieber, was so überaus wichtig war, damit ich mich hierher quälen musste, die letzten Male hat es schließlich nur Unglück gebracht", kam die gefauchte Antwort von Kalessan, der gerade auf seinem Plateau Platz genommen hatte.
"Oh, ich sehe, bei deinen Manieren hat sich wenig geändert... und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dir keinen Proviant zu den Treffen mitnehmen sollst?", merkte der goldene Drache an, als Kalessan das dicke Ninnel-Bündel ablud, welches sich in der fremdartigen Runde neugierig umsah.
"Und dann auch noch ein Kind!", fuhr er kopfschüttelnd fort. "Dann friss es wenigstens gleich, damit wir das hinter uns haben!"
"So sehr es mich anwidert das jetzt sagen zu müssen, aber dieses Kind wird nicht gefressen. Ich habe schon zu viel deswegen durchgemacht."
"Oh, Kalessan nimmt sich eines Menschenjungen an? Das kann einem ja fast Angst machen!", kam der gehässige Kommentar von Droca, dem Kupferdrachen. Droca glich seinem benachbarten Bronzedrachen, Neidhöcker, wie ein Ei dem anderen und war momentan nur deswegen als er selbst zu identifizieren, weil er ein großes Schild um den langen Hals trug, auf dem in großen, gut lesbaren Buchstaben sein Name stand. Neidhöcker trug ebenfalls so ein Schild mit seinem eigenem Namen.
"Wenigstens brauche ich nicht mehrere Millennien, um mir eine Methode auszudenken, mit der man mich einwandfrei identifizieren kann!", entgegnete der rote Drache, worauf Droca beschämt den Blick abwendete.
"Wer ist das überhaupt, dass du dich plötzlich mit Menschen abgibst?", kam eine weitere Frage von Adorelon, dem Silberdrachen.
"Dies ist Ninnel, Karlmax’ Sohn!", sagte Kalessan und versuchte, wenigstens ein bisschen feierlich zu klingen, erntete aber lediglich verständnislose Blicke.
"Wessen Sohn?"
"Ihr erinnert euch doch hoffentlich? Männlicher Mensch, viele Haare im Gesicht, rettete alle unsere Existenzen..."
"Nein!"
"Nein!"
"Nein?"
"Nein!"
"Nein!"
"Thric!"
"Nein!"
"Nein!"
"Ja... Moment, nein, doch nicht!"
"Dann weiß ich nicht, was peinlicher ist – dass ich mir als einziger in der Runde den Namen eines speziellen Menschen behalten konnte oder dass ihr alle den Namen dieses Menschen vergessen konntet, der euch alles bewahrt hat, was euch teuer war", brauste Kalessan auf.
"Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Woher der plötzliche Seitenwechsel, Kalessan?", fragte ihn Tjamat, der blaue Drache, der gerade mit einer überdimensionierten Nagelfeile seine Krallen schönte.
"Oh, du meinst den Menschen in dieser Saurudalf-Angelegenheit, nicht wahr?", merkte Droca an, "Von dem habe ich noch öfters gehört, der ist jetzt ein berühmter Theoretiker geworden oder so, hat großen Erfolg, zieht durch die Lande, gibt Vorlesungen undsoweiter - in meinen Augen ist unsere Schuld an diesen Menschen bezahlt."
Die anderen Drachen stimmten dem kollektiv zu.
"Dann habe ich in den letzten Wochen anscheinend die Schuld von uns allen zusammen bezahlt.", antwortete Kalessan mit einem düsteren Blick auf Ninnel, der gerade einen Stein über den Rand vom Plateau des roten Drachen fallen ließ, um zu hören, wie tief der Abgrund darunter sei.
"Und jetzt erzählt ihr mir besser, warum ich mit diesem Balg überhaupt herkommen musste - und lasst es bitte einen guten Grund sein, denn ich bin zu fertig mit den Nerven, um irgendeine idiotische Begründung für diese Zusammenkunft akzeptieren zu können!"
Kalessans letztes Fünkchen Hoffnung verschwand, als alle anderen Drachen auf einmal reges Interesse an Steinen, Wolken und intensiver Krallenmaniküre zeigten.
Smahug räusperte sich kurz und sagte dann:
"Nun, tja, ähm, weißt du, der Grund für dieses Treffen ist... wie soll ich es sagen, also es ist so... ähm... unsere liebe Schneeweißchen hier...", er deutete auf die weiße Drachin, die sich konsequent weigerte, auch nur ein Wort in der allgemeinen Sprache zu sprechen, "...nun, sie hat doch morgen ihren 2000. Geburtstag und da wollten wir eine kleine... Feier veranstalten... hast du meinen Hauswürger etwa wieder nicht aussprechen lassen?"
Aus dem Tal dröhnte das donnernde Echo einer Steinlawine hinauf, die durch Ninnels Steinwurf ausgelöst worden war.
Sie setzte sich in Kalessans Kopf in Form einer Lawine aus Wut fort.
Er brüllte laut auf, so laut, dass es selbst den restlichen Drachen in den Ohren schmerzte, und schlug mit der geballten Faust auf den Felsboden seines Plateaus.
Kalessans Schrei und das kleine Beben von seinem Schlag reichten aus, um Ninnel über den Rand der Klippe, an der er sich immer noch aufhielt, auf einen tiefen, tödlichen Fall zu schicken.
Kalessan und die anderen Drachen bemerkten es nicht.
Aufmerksame Augen beobachteten - und reagierten.
Der rote Drache tobte.
Die restlichen neun Mitglieder des Rates waren schon so einiges an Wutausbrüchen gewohnt, die Kalessan angesichts ihm weniger wichtig erscheinenden Themen der Versammlung losgelassen hatte, aber dies übertraf alles vorher dagewesene.
Wochenlang aufgestaute Wut entlud sich in unartikuliertem, lautem Gebrüll und zahlreichen Gewalttaten gegenüber dem Felsen, auf dem der rote Drache saß. Früher hatte er wenigstens noch den Anstand gehabt, ihnen einzeln Beleidigungen zuzuschreien. Hätte ihn diesmal nicht ein letzter Funken Vernunft davon abgehalten, er hätte sich wahrscheinlich auf Smahug gestürzt und versucht, ihn in der Luft zu zerfetzen.
So dauerte es auch mehrere Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte und auf dem großen Felsplateau nichts mehr außer der rauschende Wind zu hören war.
Die restlichen Drachen des Rates kauerten sich alle eingeschüchert auf ihren Plätzen zusammen und wagten es nicht, einen Laut zu machen, der die Aufmerksamkeit Kalessans auf sie ziehen könnte.
Smahug erholte sich als erster:
"Bist du jetzt fertig, Kalessan? Gut, dein Mensch ist nämlich verschwunden. Zufrieden?"
Kalessans wahnsinniger Blick klärte sich ein wenig auf, als er sich auf seinem Plateau umsah und bemerkte, dass Ninnel tatsächlich verschwunden war. Er warf einen Blick über die Felskante und suchte den Felsboden weit unter sich nach dem Jungen ab, aber da war nichts. Der Drache wandte sich wieder Smahug zu:
"Na und? Dann ist er endlich tot, und ich habe versagt. Es ist mir egal! Weißt du, was mir noch egal ist? Diese Versammlung hier! Wir sollten die Welt regieren, und was machen wir stattdessen? Wir feiern Geburtstage, suchen nach deinen Schätzen und legen uns mit mickrigen Magiern an. Wann haben wir für diese Welt in letzter Zeit wirklich etwas wichtiges getan? Nichts! Und dann sind wir sogar noch zu arrogant, um eine gute Tat anzuerkennen, die mal jemand für uns tut, ohne dass wir es verdient hätten. In dieser Hinsicht habe ich in den letzten Wochen mehr im Namen dieses Rates getan als wir alle zusammen in den letzten acht Jahren. Ich habe jemandem gezeigt, dass mir das, was er für mich getan hat, nicht völlig egal war. Ja, es war ein Mensch. Ja, ich habe dabei gelitten, und ja, ich habe versagt. Das beweist mir nur, wie inkompetent diese gesamte Versammlung hier ist - darum sollte mir mein Versagen wohl doch nicht so egal sein..."
"Versagen wobei, Onkel Kalessan?", ertönte eine leise Stimme über dem Rauschen des Windes.
Kalessan dreht sich um.
"Oh, Scheiße!"
Ninnel war offensichtlich am Leben. Die Tatsache, dass er sich in den Klauen eines fremden, roten Drachen befand, ließ jedoch nicht dafür sprechen, dass es noch lange so bleiben würde.
Gemessen an Kalessan war dieser Drache gerade mal halb so groß, aber immer noch groß genug, um bei den meisten Menschen ernsthafte Blasenschwäche zu bewirken. Weitaus eindrucksvoller als seine Größe war jedoch sein Blick. So ein Blick ließ nur auf einen Verstand hinter diesen Augen schließen, der vollkommen wahnsinnig und zu allem bereit war, dabei noch einen extremen Hang zum Sadismus hatte, jedoch alle Handlungen mit kalter Berechnung durchführen konnte. Kalessan hatte in seinen besseren Tagen auch nicht anders ausgesehen...
Er erholte sich von daher von diesem Anblick als erster.
"Wer bist du?", fragte er.
"Oh, wir sind wohl ein ganz stürmischer, nicht wahr?", sagte der Drache, der nach dessen Stimme zu urteilen unmissverständlich weiblich war und fügte dem bedrohlichen Blick ein ähnlich schockierendes Lächeln mit spöttischem Unterton hinzu, während er mit heftigen, schweren Flügelschlägen versuchte, einigermaßen seine Höhe zu halten.
"Ist euch eigentlich klar, dass jedem Drachen, der unaufgefordert diese Versammlung besucht, die Todesstrafe droht?", schaltete sich nun Smahug an die Drachin gewandt ein.
Diese riss ihren Blick von Kalessan los und funkelte den Vorstand des Rates an:
"Natürlich ist mir das klar - nur frage ich mich, warum das ganze? Damit wir anderen Drachen nicht herausbekommen, dass ihr nur Geburtstagspartys feiert und Nichtigkeiten besprecht, anstatt die Welt zu beherrschen? Eine hervorragende Begründung, wirklich!"
Die Stimme der Drachin troff vor Hohn und ließ Smahug sichtbar zusammenzucken. Sie blickte sich in der Runde um:
"Oh, ihr seid wirklich ein wahrer Haufen von Herrschern: verfressen, fett, herrschsüchtig, faul, arrogant und zu nichts nutze!"
Ihr Blick kam zu Kalessan zurück.
"Was ist mit dir? Du scheinst ähnlicher Meinung zu sein..."
"Gib mir den Jungen zurück und nenn mir deinen Namen!", bellte er.
Die Drachin sah Ninnel kurz an, der die gesamte Szenerie mit anscheinend sehr großem Interesse verfolgt hatte und seinen Blick kontinuierlich von Drache zu Drache wandern ließ, um auch ja nichts zu verpassen.
"Dir scheint dieser Junge ja sehr viel zu bedeuten... wenn das so ist, dann komm doch und hol ihn dir!", antwortete die rote Drachin lachend, drehte ab und begann, auf der nächst besten Luftströmung davon zu fliegen.
Smahug war außer sich:
"Das... das... das ist ein Skandal! Das ist mir vorher noch nie untergekommen. Selbst ihr roten Drachen wisst, dass diese Versammlung für euch untersagt ist!"
"Ich wusste doch, dass ich hier nie erwünscht war...", antwortete Kalessan abfällig.
"Du weißt genau, was ich damit meine. Dieser Verstoß muss geahndet werden! Dem Gesetz muss Folge getragen werden! Sie wird die Konsequenzen für diese Untat tragen müssen! Kalessan, da sie Mitglied deiner Rasse ist, wirst du das Urteil an ihr vollstrecken!"
"Du meinst sie umbringen?"
"Ganz genau!" Smahugs Stimme überschlug sich. "Ich befehle es dir!"
Die folgende Stille hätte kein Friedhof besser hinzaubern können.
Als Kalessan das nächste Mal sprach, lag seiner Stimme eine tödliche Ruhe inne:
"Du befiehlst mir gar nichts mehr, Smahug! Diese Zeiten sind vorbei. Ich werde diese Drachin verfolgen und töten - weil sie mich herausgefordert hat. Und wenn ich sie umbringe, dann wird das mein letzter Dienst für diesen Rat gewesen sein."
Er drehte sich um und breitete seine Flügel aus.
"Du kannst nicht austreten!", brüllte Smahug ihn an.
"Dann halte mich auf!", entgegnete der rote Drache, stieß sich ab und flog der Drachin hinterher, die ihn so frech herausgefordert hatte.
Schneeweißchen murmelte etwas auf Draconisch, das ungefähr mit "Wirklich, ein schöner Geburtstag!" übersetzt werden konnte.
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© Der Doktor
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Und schon geht's weiter zum 11. Kapitel...

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