Calvin und Clymore von Sue Falkenkralle
Kapitel 1

Draußen war es bereits stockdunkel, als Clymore das Gasthaus Zum Geier betrat. Niemand kümmerte sich um sein Erscheinen. Es mussten gut siebzig Gäste an dem halben Dutzend einfacher Holztische sitzen, die Gnome, die überall herumwuselten, nicht mitgezählt. Der junge Mann erkannte, dass zwischen den Bauern und Dorfbewohnern auch viele in Reisekleidung saßen. Gut. So würde er wenigstens nicht auffallen.
Die Stimmung im Raum war gespannt und stand kurz vor einer Schlägerei. Mit Schlägereien hatte Clymore allerdings keine Probleme. Alle gingen ihm aus dem Weg, niemand fasste ihn an. Er selbst schrieb das seinem Aussehen zu.
Clymore war sehr groß, schlank, hatte pechschwarze Haare, tief liegende Augen in derselben Farbe und war bleich wie der Tod.
Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn er war der uneheliche Sohn des Todes.
Was er natürlich nicht wusste. Und es hätte ihm auch niemand sagen können, denn nur seine Eltern wussten von seiner Abstammung und die waren tot. Beziehungsweise Tod.

Neugierig sah Clymore sich um und fragte sich, trotz der Größe des Schankraums, wie er einen Platz finden sollte. Er hätte sich gern an den fast drei Meter großen Kamin gesetzt, denn sein viel zu dünnes Cape war vom peitschenden Regen völlig durchnässt.
Aber um den Kamin saßen ein paar Männer, die aussahen, als würden sie zur Wache gehören. Clymore mochte keine Soldaten und wollte sich wirklich nicht in deren Nähe setzten, also ging er zur Theke, bestellte sich ein Bier und fragte nach einem Zimmer.
"Zimma hamwa nich mehr!" nuschelte der Wirt, der nicht nur den dumpfen, nordischen Akzent der Gegend, sondern auch noch ein paar über den Durst getrunken hatte. "Noch nich ma ´ne Gnom‘höhle. Kannst aba im Stall schlaf’n. Wenn’s dir nischt ausmacht, mit 'nem Duzend Penner zu penn."
"Wenn’s sein muss. Wieviel...?"
Clymore wurde von einem ohrenbetäubenden Krachen unterbrochen. Im ganzen Wirtshaus war es auf einmal still. Alle sahen zur Tür. In den kleinen beleuchteten Vierecken, die das Licht durch die Tür und die Fenster warf, war nichts zu sehen. Clymore und die Soldaten waren zusammen mit ein paar Gnomen als erstes beim Ausgang und sahen sich um. Zuerst sahen sie nichts. Plötzlich blitzte es am Ende der Straße auf. Als sich Clymores Augen von dem blendenden Licht erholt hatten, sah er endlich, was passiert war. Die Kirche war eingestürzt und stand jetzt in Flammen.
Es war ein erschreckendes Bild. Seit dem Einsturz des großen Gebäudes waren erst wenige Sekunden vergangen, aber es standen nur noch die brennenden Grundmauern des Turms; vom Rest war nichts, absolut nichts mehr zu sehen. Und die Kirchenglocke - sie lag zerschmolzen auf der Straße, umrandet von Turmtrümmern. Wie heiß musste ein Feuer sein, um die schwere Metallglocke so schnell schmelzen zu lassen?
"Wo ist der Pfarrer?" rief jemand hinter ihm. "War er noch in der Kirche?"
"Ischbinhi-hier", lallte eine Stimme aus dem Gasthaus "Waschischdennlos?" Der betrunkene Pfarrer bahnte sich den Weg zwischen den Gnomen bis zur Tür, schaute auf die kümmerlichen, rauchenden Reste seiner Kirche hinab - und fiel in Ohnmacht. Clymore sprang schnell zur Seite, damit der dicke Kerl ihn nicht traf, und der Geistliche klatschte laut auf dem Holzboden auf. Ein paar der Gäste sahen ihn böse an und beugten sich zu dem Bewusstlosen herunter. Was hatte er jetzt schon wieder falsch gemacht? Hinter ihm lachte jemand und plötzlich fühlte Clymore eine schwere Hand, die sich auf seine Schulter legte. "Hast ihn gut aufgefangen, Junge!" Verwundert sah er den Mann hinter sich an. Es war einer der Soldaten.
"Aber ich hab ihn doch gar nicht..."fing er an und brach etwas verlegen ab. "Ich hätte ihn wohl auffangen sollen, nicht wahr?"
"Allerdings, das hättest du!"
Auf einmal fiel irgendeinem der Gäste ein, dass man die restlichen Feuer löschen sollte und es begann das hektische Gewusel, das immer begann, wenn es Arbeit gab und die eine Hälfte der Anwesenden sich aus den Staub machte, während die andere unbedingt alles organisieren wollte.
Der Soldat zog Clymore vom Wirtshaus fort zur nächsten Häuserecke und sah noch einmal zur Kirche: Als würde es da noch was zu löschen geben, murmelte er, sah den jungen Mann dann aber ernst an und fragte ihn, ob ihm noch irgendetwas aufgefallen war.
"Ich hab gesehen, dass du als erstes an der Tür warst."
"Tu mir leid." Der Kerl ging Clymore langsam auf die Nerven. "Da war nur ein helles Licht zu sehen. Wahrscheinlich ist ein Blitz in die Kirche eingeschlagen und deswegen ist sie eingestürzt."
"Ja, wahrscheinlich..." Der Ältere sah zweifelnd zu ihm auf. Clymore konnte nur allzu leicht erraten, was er dachte. Sie hatten erst gehört, wie die Kirche einstürzte und erst wenige Sekunden später den Blitz gesehen.
Einer der anderen Soldaten kam auf sie zu gerannt und salutierte kurz: "Hauptmann, diese Dorftrottel kriegen einfach keine vernünftige Eimerkette hin und das Feuer droht auf andere Häuser überzugreifen."
Der Hauptmann fluchte leise, wollte losgehen, drehte sich aber dann noch einmal zu Clymore um und fuhr ihn scharf an: "Du wartest hier, verstanden?"
Nachdem der scheinbar eingeschüchterte Junge zustimmend genickt hatte, begann der Kommandant Befehle zu schreien, während er mit dem Soldaten zurück zur Kirche lief.
Erst jetzt bemerkte Clymore, dass es aufgehört hatte zu regnen. Das erschwerte die Löscharbeiten natürlich, aber es passte ihm ganz gut. Müde war er nicht mehr und der Appetit war ihm auch vergangen. Und er würde bestimmt nicht auf diesen nervigen Soldaten warten. Etwas in dessen Stimme hatte ihn davor gewarnt, noch ein Gespräch mit ihm abzuwarten. Er hatte gelernt zu bemerken, wann jemand die Wahrheit und wann nur einen Schuldigen suchte.
Schnell schlich Clymore in das Wirtshaus, schultert das Bündel mit seinen wenigen Besitztümern und schlich sich davon.
Er hatte den Dorfrand schon erreicht als er Schritte hinter sich hörte.
"Du solltest doch warten, Bursche."
Verdammt!
Ohne sich umzusehen rannte er los. Er musste nur den Waldrand erreichen, dann würden sie ihn nicht mehr finden und er hätte seine Ruhe.
Doch schon nach wenigen Sekunden hörte er den Hufschlag von mindestens drei Pferden und blieb widerwillig stehen. Wenn er Pech hatte würde ihn die Befragung mehrere Tage kosten und er wollte weiter. Musste weiter. Und wahrscheinlich hatte er durch seinen Fluchtversuch alles nur noch schlimmer gemacht. Sich selbst, die Soldaten und die eingestürzte Kirche verfluchend drehte der große Junge sich langsam um und konnte gerade noch sehen wie ein Soldat seinen Speer hob und auf ihn einschlug.
Er spürte einen brennenden Schmerz in seinem ganzen Brustkorb, der sich rasend schnell über seinen ganzen Körper ausbreitete, um dann auf einmal abzubrechen. Er hörte ein leises röcheln, von dem er feststellen musste, dass es von ihm selbst kam, bevor sein Bewusstsein sich in der Schwärze verirrte.
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© Sue Falkenkralle
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