Drachenträume von Marc Kuhn

Immer langsamer und ruhiger bewegten sich die Flanken des mächtigen, golden schimmernden Drachens. Immer leiser wurde das sanfte, melodische Klirren seiner übereinander gleitenden Schuppen. Sein langer, geschwungener Hals rollte sich enger um seinen Körper und fast unbewusst nahm er unter seiner langgezogenen Schnauze die in ihm lodernde Hitze wahr. Seine Klauen zuckten leicht, als sich die ersten Traumbilder in seine Gedanken schlichen. Er begrüßte sie freudig. Schlaf senkte sich über ihn.

Wärme und Geborgenheit begrüßten ihn auf seinem Weg in das Traumland der Drachen. Die Gewissheit seiner eigenen Existenz und die große Hoffnung diese mit jemandem teilen zu können, trieben ihn wie schon so oft immer weiter. Gaben den kraftvollen Schwingen seines Traumselbst den nötigen Auftrieb und ließen ihn immer weiter und höher kreisen auf der Suche nach einem gleichgesinnten Wesen, dessen Freude und Glück sich mit der seinen verbinden solle.
Ein goldenes Strahlen aus seinem innersten Selbst, wie es in der Realität nie möglich wäre, zeichnete seinen Weg. Das Geräusch, das seine Schwingen hervorbrachten, als sie die Luft dieses Reiches durchschnitten, erinnerte in seiner beharrlichen Kraft an die, die Ewigkeit überbrückende, Brandung des Meeres.
Langsam, fast träge bewegten sich seine Muskeln unter seiner Haut. Gerade so sehr, wie es nötig war, um seinen suchenden Flug zu ermöglichen. Gerade so stark, daß seine Schuppen ihr ewiges Lied, in kristallener Harmonie, sangen.
Hier war der Drache ein Abbild seiner Seele. Nichts war verborgen. Sein ganzes Wesen spiegelte sich in seinem Traum. Sein ganzes Sehnen, seine Wünsche, sein Verlangen.
Weithin strahlte er so und leuchtete in dieser Welt, die allen Drachen offen ist.

Doch nicht sein eigener Glanz war es, der seine Aufmerksamkeit fesselte.
Ein silberner Schimmer fesselte seine Sinne und ließ ihn sich ihm zuwenden, auch wenn Ort und Raum hier nur eine Illusion war und nur das Gefühl die einzig bestimmende Konstante.
So war dieser Schimmer auch der Ausdruck eines anderen Drachen. Eines Weibchens seiner Rasse. Das Leuchten ihres Seelenbildes.
Hingerissen nahm der Drache sie wahr. Erfreut über die sanfte, umschmeichelnde Stärke ihres Lichtes, über die strahlend, silbrigen Bänder, die ihren anmutigen Körper umtanzten. Seinen Blick in ihren Bann zogen und ihn in einem Moment reiner, bewundernder Verzückung gefangen setzten.
Nicht kalt und abweisend war ihr Strahlen, sondern warm und einladend in seiner Reinheit, der darin zum Ausdruck kommende Güte und Freundlichkeit.

Beglückt nahm er wahr, daß ihr Leuchten dem seinen in nichts nachstand, auch wenn ihre Gestalt ein wenig kleiner als die seine war. Doch eben auf diese elegante, bezaubernde Weise, die sie neben seiner eigenen kraftvollen, ja im Vergleich groben Gestalt, zu einem Wesen der Anmut und Schönheit werden ließ. 
Der Schlag ihrer Flügel vermischte sich mit dem Klirren ihrer Schuppen zu einem Lied von eindringlicher Harmonie, das sein Innerstes berührte und mit den Geräuschen seines eigenen Fluges begann einen Traumgesang zu weben, der sie beide umhüllte.

Behutsam umkreisten die beiden einander in dieser Welt, in der außer ihnen nichts existierte, aber auch nichts anderes nötig war.
Silbernes und goldenes Licht berührte sich, umtanzte einander, schrak bisweilen in seiner Unsicherheit zurück, nur um sich dann wieder heranzutasten um die Liebkosung des anderen zu spüren.
Strahlende Bänder wanden sich zwischen den beiden Drachen, als sie einander umkreisten doch nie nahe genug aneinander herankamen, um sich wirklich zu berühren. Auch wenn sie beide die Nähe des anderen immer deutlicher spürten.
Die schimmernden Bänder umschlangen einander behutsam, verflochten sich zu immer neuen Mustern, spielten miteinander und erkannten so auf die behutsamste, aber auch eindringlichste Weise das Wesen und das Sehnen des Anderen.

Lange währte dieser Tanz der Drachen. Immer mehr verwob sich ihr Licht und immer enger wurden ihre Kreise bis nur noch der Wunsch nach einer Berührung zwischen ihnen stand. Eine Barriere, die sich mit spielerischer Leichtigkeit überwinden ließ.
So streiften sich ihre Flügelspitzen und ein Schauer durchfuhr ihre Traumbilder. Eine Erinnerung an eine reale Berührung, die hier, in dieser Welt, ihren Ausdruck in einem Aufblitzen ihres Strahlens und einem Anschwellen ihrer gemeinsamen Musik fand. 

Beide genossen dieses Gefühl gemeinsam und waren sich der einfachen Wahrheit bewusst, daß nur die Anwesenheit des anderen ihnen dieses Glück schenkte. Sie in ihrem Inneren mit Frieden und Freude erfüllte und sie so in einem perfekten Moment miteinander verband.

Als sich ihre langen Drachenhälse umeinander wanden, ihre Schnauzen sich aneinander legten, war beiden klar, daß sie sich im Anderen verlieren würden, nur um sich immer wieder selbst zu finden, neu geschaffen in ihrer Zweisamkeit.
Ihr Leuchten war zu einem neuen Farbton verschmolzen, der sich in seiner Einzigartigkeit beiden auf ewig einprägte und heller leuchtete, als Gold und Silber alleine.

Dieser Farbton war es, den der Drache vor seinem inneren Auge tanzen sah, als er letztendlich aus seinem tiefen Schlafe erwachte.
Dieser Farbton war es, der ihn sich erheben und seine machtvollen Schwingen ausbreiten ließ, bevor er sich mit einem tiefen, melodiösen Brüllen der Freude in die Luft erhob, um die zu finden, deren Welt gleich seiner um ein Leuchten reicher geworden war.
 

Enttäuscht, daß die Geschichte schon aus ist?
Keine Angst, hier geht's weiter: Drachenwirklichkeiten! :-)

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