.
Diese Story wurde von den Drachental-Besuchern
zur zweitbesten deutschen Fantasy-Story 2001 im Drachental gewählt!

Drachenwirklichkeiten von Marc Kuhn

In einem tiefen, satten Grün zogen die Wälder unter ihm dahin. Unterbrochen von tiefen Schluchten mit reißenden, klaren Flüssen. Wild stob durch das Unterholz und fügte braune, graue und viele andere Farbtöne dem Bild hinzu.
Doch all dies nahm der goldene Drache nicht wahr, der mit kraftvollen Flügelschlägen Meile um Meile hinter sich zurückließ auf der Suche nach seiner Erfüllung.
Blass erschienen ihm diese Farben, verglichen mit der Mischung aus Silber und Gold, die ihm im Traum geschenkt worden war. Unbedeutend und unwirklich.
Suchend glitt sein Blick über den Horizont, in der Hoffnung, das zu finden, was ihm diesen Traum wiederbringen würde. Unermüdlich arbeitet er sich vorwärts. Unerschöpflich in seiner Gewissheit seinem Glück auf der Spur zu sein.
Nur vage war seine Vorstellung wohin er ziehen musste. Lediglich sein Instinkt und ein fast unbewusster Drang führten ihn. Und doch war er sich sicher immer näher an sein Ziel zu kommen.

Er gewann an Höhe, als ein kleines Gebirgsmassiv vor ihm aus dem Dunst, der die untergehende Sonne einzuhüllen schien, auftauchte. Getragen von warmen Aufwinden kreiste er über den sich unter ihm ausbreitenden Bergen, sich nur zu deutlich der Tatsache bewusst, daß gerade ein solcher Ort von seiner Art als Wohnstätte bevorzugt wurde.
Seine scharfen Augen glitten über die von den Jahrhunderten gezeichneten, schroffen Hänge, an denen sich hartnäckige Pflanzen verbissen festgesetzt hatten.
Das eine oder andere Mal merkte er auf, als ein tiefschwarzer Schatten Hinweis auf eine sich dahinter verbergende Höhle zu geben schien. Doch immer wieder wurde er enttäuscht als sich dahinter nur unbedeutende Löcher offenbarten.
Stunde um Stunde dauerte seine Suche und auch die hereinbrechende Nacht ließ ihn nicht innehalten. Der silberne Schein des Mondes genügte seinen scharfen Sinnen völlig, auch wenn es nur ein fahler Abklatsch das Lichtes war, nach dem er suchte. 
Aufgeben wollte er nicht, konnte er nicht. Zu tief verwurzelt war seine Sehnsucht. Zu klein schienen die Mühen, die er auf sich nehmen musste. Weder seine schmerzende Schultern noch sein Hunger berührten ihn. Er spürte, daß dieser Ort der richtige war.

"Schon einmal an die Möglichkeit gedacht nach oben zu schauen?" riß ihn eine Stimme aus seiner Konzentration.
Flink warf er sich herum. Sein Atem stockte und fast vergaß er seine Flügel weiterschlagen zu lassen als sein Blick auf das fiel, was er so lange gesucht hatte.
Gebadet im Licht des hochstehenden Mondes schwebte sie über ihm. Umschmeichelt vom Licht der Natur schien sie ihm jedoch aus ihrem Innersten heraus zu glühen. 
Sanft schlugen ihre Flügel und ihr Körper bewegte sich geschmeidig in deren Rhythmus auf und ab. Ein Lächeln umspielte ihre Schnauze, als sie ihn mit einem wissenden und von tiefem Humor zeugenden Blick musterte.
"Bin ich all diese Mühe wert?" fragte sie ihn, obwohl sie innerlich die Antwort wusste. Schließlich stand ihr Sehnen dem seinen in nichts nach. Hatte sie doch seinen Traum geteilt und sich im selben Licht verloren wie er.

Er schenkte ihr auch keine Antwort, sondern erwiderte nur ihr Lächeln, als ein schneller Schlag seiner Schwingen sie auf gleiche Höhe brachte. Ihre Blicke trafen sich, verloren sich ineinander und lösten sich wieder, als sie sich herumwarf und mit einem Blick über ihre Schulter, ob er ihr auch folge, im schnellen Flug davoneilte.
Ein freudiges Brüllen hinter ihr ließ sie auflachen und vermischte sich mit dem Pfeifen des Windes und dem Klirren ihrer Schuppen. Sie beschleunigte ihren Flug, fest entschlossen dieses Katz- und Mausspiel zu genießen.

Bewundern folgte der Goldene ihrer Bahn. Gebannt von der Energie, die in ihren Bewegungen zum Ausdruck kam und dem Spiel des Mondlichtes auf ihrem Körper. Jeder Flügelschlag, jedes Lachen, jedes Klirren ihres Schuppenkleides vermischte sich für ihn zu einem unwiderstehlichen Sirenengesang, dem er begeistert folgte.
Er wusste, er konnte sie einholen, wenn er nur wollte. Doch auch er fand Gefallen an diesem Spiel und hatte es nicht eilig, es zu beenden.

So jagten sie einander im silbernen Schein des Mondes. Umkreisten und neckten sich. Spielten ausgelassen und genossen ihr Glück, sich gefunden zu haben. Genossen das Wahrwerden eines Traumes und fanden in der Wirklichkeit das selbe Glühen in ihren Herzen, die selbe Mischung aus Silber und Gold.

Lange währte ihr gemeinsamer Flug, als ob sie Angst hätten auch diesmal wieder ohne den anderen zu erwachen. Immer und immer wieder schwangen sie sich zu neuen Höhen auf, ohne auch nur einen Augenblick die Freude an ihrem gemeinsamen Tun zu verlieren.
Sanft und liebkosend berührten sich immer wieder ihre Körper im Flug, fast fordernd in ihrem Bestreben, die Wirklichkeit des Anderen zu erfühlen.
Langsam, sehr langsam begannen sie so den Gedanken anzunehmen, daß sie einander nahe waren, und nichts zwischen sie treten konnte. Denn was konnte schon zwei Drachen trennen?

Als sie diese simple Wahrheit endlich erkannt hatten, brach bereits der neue Morgen an und die ersten goldenen Strahlen der Sonne brachen sich auf den Schuppen der beiden Drachen und taten das ihre, zu ihrem Glanz beizutragen.
Behutsam ließen sie sich auf dem Gipfel eines Berges nieder, ihre Körper dem Glanz der Morgensonne zugewandt. Sanft drängten sie sich aneinander und genossen die Wärme, die sie einander spendeten. 
Ein mächtiger goldener Flügel legte sich über silberne Schwingen als er ihr endlich antwortete: "Du fragst, ob du all diese Mühen wert bist? Das und noch viel mehr. Viel mehr..."

.
Fortsetzung folgt? :-)
 

(Noch?) keine Fortsetzung,
aber hier wartet eine weitere schöne Drachen-Geschichte auf Euch:
Ein Weihnachtsdrachenmärchen! :-)

.