Die Schattenstadt von Hyphistos
1: Die Übernahme

Tarka fluchte. Wie hatte er sich auch nur auf so eine wahnwitzige Idee einlassen können? Vier Leute, die einen Wachtposten im Alleingang stürmen wollten. Verrückt. Aber gut, sie waren eine Gruppe, auch wenn sie nicht die besten Freunde waren, in Zeiten wie diesen hieß es zusammenhalten. Tarka fluchte kurz und kauerte sich dann im hohen Gras wieder zusammen. Er blickte nach rechts, sah genau in das Gesicht von Lydia und zuckte zusammen. Sie musste ihn die ganze Zeit beobachtet haben. Tarka war sich noch immer nicht sicher, ob sie Gedanken lesen konnte oder nicht. Bei Magiern konnte man nie wissen.

Während die vier Gestalten im Hochgras lagen, gingen die beiden Wachen vorm Wachturm gelangweilt ihre Runden.  In Cleos war eben nicht viel los. Bis zu diesem Zeitpunkt. 
Tarka konnte sie nur schlecht im Licht der Fackeln erkennen, doch die "Rote Hand" hatte den Vorteil der Dunkelheit mit sich. "Wenigstens etwas Gutes an der ewigen Finsterns dieses verdammten Hyphistos", fluchte Tarka in sich hinein.
Arargh gab mit der Hand das Zeichen. Während er und Tarka bis zum Rand des Hochgrases robbten, um für den Nahkampf bereit zu sein, zog Pyra einen Pfeil aus ihrem Köcher, spannte ihn ein, visierte an und schoss der Wache genau in den Kopf. Sie sackte lautlos zu Boden. Nur sich immer mehr am Boden verteilendes Blut zeugte von einem Mord. Die andere Wache war ein Ork. Orken waren ziemlich dumme Lebewesen, doch sie waren in Sachen reiner Muskelkraft einem Menschen überlegen und sie hatten einen außerordentlich guten Geruchssinn. So war es nicht verwunderlich, dass er das Blut riechen konnte. Er rannte zur Leiche, sah, was geschehen war und blickte sich hektisch und zitternd um. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Gerade als er aufschrak, da er eine Gestalt im Gras sah, sprang Lydia auf. Sie murmelte etwas von Eis und in der nächsten Sekunde verfärbte sich der Ork seltsam blau. Ehe er mitbekam, was mit ihm geschah, fiel er reglos und steif zu Boden. Als er auf der Erde aufprallte, zerfiel er in tausend kleine Stücke. Arargh zuckte bei dem Geklirr zusammen. Lydia überraschte ihn immer wieder aufs neue. Doch sie hatten keine Zeit, um sich über so etwas Gedanken zu machen, erinnerte er sich selbst und so gab er ein weiteres Zeichen. Gerade als die Vier in das Gebäude stürmen wollten, drängten sich schon zwei weitere Wachen aus der engen Tür heraus. Dem einen stieß Arargh einen Dolch in die Brust, so dass dieser röchelnd niedersank, und den anderen erledigte Tarka mit einem Schwerthieb, bei dem das Schwert hindurchglitt wie durch Papier. Tarka grinste hämisch. Langsam kam ihm der Gedanke, dass sie das hier vielleicht doch überleben konnten.

Sie rannten in das Gebäude und sahen sich um. Es war erstaunlicherweise ziemlich gut beleuchtet. Pyra schmunzelte. "Sieh an, sieh an. Selbst Anhänger der Finsternis brauchen also Licht. Welch ermutigender Gedanke", dachte sie sich. Der Raum war nur spärlich eingerichtet, da außer Betten und Waffenhaltern von den Wachen nichts benötigt wurde. Die Wand war an manchen Stellen seltsam rot und Pyra wollte gar nicht wissen, ob es Farbe war oder etwas andres. Sie konnte es sich ohnehin denken. Pyra zählte. Es waren fünf Wachen. Ein Kinderspiel also. Doch als sie in das Gesicht einer der Wachen blickte, spiegelte sich in ihrem Gesicht Entsetzen. Eine Dunkelelfe! Was, verdammt, tat eine Drow hier? Auch die anderen schienen die Drow entdeckt zu haben, da auch sie erschrocken blickten. Damit hatten sie in ihrem Plan nicht gerechnet. Drows waren heimtückische Killer. Es waren verstoßene Elfen, die sich der Dunkelheit zugewandt hatten. Eigentlich hassten sie alle anderen Rassen, aber Hyphistos hatte sogar dies schreckliche Wunder vollbracht und alle dunklen Rassen zusammen geführt. Die Drow musste neu in Cleos sein, da sie sie zuvor noch nie auf irgendeinem Wachrundgang gesehen hatten. Als die Dunkelelfe ihre bleichen Gesichter sah, grinste sie diabolisch. Tarka, der nicht tatenlos sterben wollte, hob sein Schwert in die Höhe, ließ einen markerschütternden Schrei los, und rannte blindlings auf einen der Wachen zu. Im Vorteil der Überraschung hieb Tarka ihn mühelos nieder, und wollte zum nächsten übergehen, doch dieser hatte schon sein Schwert gezogen. Als er gerade zum Hieb ansetzte, wurde seine Hand von einem Dolch an die Wand genagelt. "Gott sei Dank", dachte Tarka, "auf Arargh ist Verlass." Während die Drow nur amüsiert zusah, standen die andren beiden Wachen mit gezückten Schwertern zum Kampf bereit. Sie gingen langsam auf Tarka zu. Dieser rannte blitzschnell zu einem der beiden, brach ihm das Handgelenk der Schwerthand und erstach in der selben Bewegung mit dem Schwert, das noch immer in der gebrochenen Hand der Wache lag, die zweiten Wache. Danach schlug er dem ersten mit der geballten Faust ins Gesicht, so dass dieser mit gebrochenen Nase niederfiel und am Boden liegen blieb.

Nun trat die Drow aus einer Nische, in der sie sich bis jetzt zurückgehalten hatte, in den Raum. Sie schien nicht mehr ganz so siegessicher zu sein, doch versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. "Für Hyphistos, den ewigen Herrscher der Dunkelheit", rief sie, öffnete dann die Faust und ein mächtiger Feuerball flog unter lautem Zischen genau auf Tarka. Dieser war mit dem Rücken zu ihr gewandt, blickte nach hinten und weitete die Augen. Er setzte zum Sprung an, um auszuweichen, doch in dem Moment, als seine Füße den Boden verließen, schlug der Feuerball auf seiner porösen Lederrüstung auf und schleuderte ihn gegen die Wand, so dass von ihr ein paar Steinbrocken abbrachen, und Tarkas Wirbelsäule laut knackste. Er sank mit schmerzverzerrtem Gesicht nieder. Ein leises "haut so schnell wir möglich ab" verließ noch seine Lippen, ehe er entgültig zusammenbrach.
Die Drow grinste breit, doch nur für einen Augenblick, denn schon im nächsten zischte ein Pfeil genau durch ihre Schläfe. "Zu früh gefreut", sagte Pyra kühl.

Doch ihr Triumph blieb nur von kurzer Dauer, denn einerseits hörten sie schon das dumpfe Klopfen von Schuhen, die sich langsam die Treppe des Turmes hinabbewegten, und andererseits hustete und spuckte Tarka immer schlimmer.
Die beiden Wachen, die den Lärm von unten mitbekommen hatten, gingen die Wendeltreppe hinab, und das erste, was sie sahen, war der röchelnde Tarka. Sie grinsten beide zufrieden, und wollte schon zu einem "Gute Arbeit" ansetzen, als sie den Raum betraten, doch sprachen sie nie fertig, da jeder von ihnen einen Schlag auf den Hinterkopf bekam und bewusstlos umfiel. Die drei der "Roten Hand" hatten sich in einer Nische versteckt und nur auf ihre Ankunft gewartet.
Während Arargh und Pyra im Obergeschoss des Turmes nachsahen, ob sich noch jemand hier aufhielt, kümmerte sich Lydia um Tarka. Sie murmelte einen Singsang und legte ihre Hände auf Tarkas Wunden. Ihr Zauber beschleunigte den Heilungsprozess von ein paar Wochen auf wenige Sekunden. Auch um die Wirbelsäule kümmerte sie sich und man konnte direkt hören wie sie wieder zusammenwuchs. Tarka richtete sich staunend auf und betastete seine geheilten Wunden. Lydia lächelte als sie sein erstauntes Gesicht sah und wandte sich dann um, um ebenfalls hinaufzugehen.
"Hier oben ist alles sauber", rief Arargh hinunter. Als Tarka als letztes das obere Stockwerk betrat, staunten auch die anderen nicht schlecht und das Bild des zusammengekauerten und röchelnden Tarkas vor noch ein paar Minuten tauchte in ihren Köpfen auf. Pyra klopfte der Magierin wortlos auf die Schulter.

"Seht euch nur diese Waffen und Rüstungen an!" frohlockte Tarka und brach das Schweigen. Tatsächlich war es wie ein Segen für die "Rote Hand", die bisher nur Lederrüstungen und primitive Eisenwaffen zur Verfügung hatte.
Jeder schnappte sich, was er konnte, darunter ganze Eisenrüstungen und allerlei Waffen. Sie gingen wieder den Turm hinab und als sie bei der Tür herausstolperten, trauten sie ihren Augen nicht.

Es schien ihnen als hätte sich halb Cleos um den Turm versammelt. Auch wenn es nicht halb Cleos war, so waren es doch Hunderte von Menschen, die vom Lärm angelockt wurden und die sie zuerst misstrauisch ansahen, doch als Arargh dann das Banner Hyphistos' vom Eingang herunterriss, und das Banner der roten Hand und das des alten Königreiches vor Hyphistos aufhing, jubelten sie stürmisch.
Viele Leute berichten aus dieser Zeit, dass sich sogar der Himmel über Cleos erhellt haben soll, andere meinen, das sei übertrieben. 
Wie auch immer, es gab ein riesiges Fest. Der Bürgermeister übernahm wieder sein Amt und hatte eine Überraschung für die "Rote Hand" parat. Feierlich verkündete er: "Der Wachturm soll seinen Befreiern gehören. Hoch lebe die "Rote Hand"! Hoch!". Die Menge grölte und jubelte und die vier Mitglieder der Gruppe waren sprachlos. Danach fielen auch sie in den Jubel ein.
Das Fest dauerte bis in die Nacht hinein und als es schon fast zu Ende war, fragte der Bürgermeister, warum sie denn gerade "Rote Hand" hießen. Darauf antwortete Arargh: "Um ehrlich zu sein, wissen wir es selbst nicht so genau, wir brauchten eben einen Namen. Ich denke, man kann es so verstehen, dass die Hand das Zeichen für Zusammenhalt ist, eben für die Gruppe. Rot steht für das Blut derer, die unsere Feinde sind." Der Bürgermeister lachte und auch die Vier begannen zu lachen. Obwohl sie wussten, dass noch Zeiten kommen würden, in denen sie nichts zu lachen haben würden.
 

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