Dorra von Veronika Keller
I - Die Steinwüste
1: Jagd und Erdbeben

Die Weißbauchantilope am Wasserloch äugte vorsichtig um sich. Eine leichte Bewegung im hohen, ausgedörrten Gras hatte seine Aufmerksamkeit vom Saufen abgelenkt. Es blähte die Nüstern und atmete tief ein. Jeden Luftzug schien das Tier nach Gefahr zu überprüfen. Doch es witterte nichts Gefährliches und beugte sorglos seinen Kopf wieder hinunter, um aus einem der letzten Wasserlöcher der Gegend zu saufen. Plötzlich schwirrte ein Pfeil aus dem Dornendickicht und traf das Tier direkt in den Hals. Sekunden stand die Antilope zitternd auf den Beinen, dann fiel es tot um. 
Zufrieden lächelnd erhob sich ein junges Mädchen, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, aus dem Dickicht. 
"Es ist zwar nicht besonders fett, aber nach der langen Dürrezeit ist Frischfleisch wirklich sehr willkommen." 
Sie trat an das Tier heran, das reglos halb im Wasser, halb auf dem mit kurzen Gras bewachsenen Ufer lag. Dann kniete sie sich auf den Boden und begann direkt neben der Jagdbeute mit ihrem Messer ein Loch zu graben. Als es etwa zwei handbreit tief war, schnitt sie dem Tier ein Handteller großes Stück Fleisch aus der Lende und legte es mit einigen Dankesworten an die Antilope in das Loch. 
"Was der Erde genommen wird, muss ihr wieder zurückgegeben werden. So nehme dieses Opfer an, auf dass auch in Zukunft das Jagdglück mich nicht verlässt." 
Mit diesen Worten füllte sie das Loch wieder, verbeugte sich kurz vor ihrem Jagdopfer und winkte dann nach ihren beiden Begleitern, die während des Rituals im Dickicht verborgen geblieben waren. 
Der größere, ein muskulöser, blonder Mann, sah die Jägerin wütend an. "Dein Jagdaberglaube wird uns noch einmal in große Schwierigkeiten bringen, Darnja. Du weißt, dass unser Schamane deine Rituale verboten hat. Und wenn er es erfährt, dass du sie weiter praktizierst, wird er dir die Jagderlaubnis nehmen, und..." 
Die junge Frau winkte ab. "Woher sollte er es denn erfahren? Ihr werdet es ihm sicherlich nicht erzählen. Und solange ich erfolgreich bin, werde ich meine Riten beibehalten." Sie sah die beiden jungen Männer fest an. Die zuckten nur mit den Schultern. Sie kannten ihre Schwester und deren besondere Beziehung zur Natur. Was konnte man schon dagegen tun? So hob der blonde Mann den Kadaver auf die Schultern, trug ihn aus dem Wasser und ließ ihn auf den ausgetrockneten Boden fallen. Die junge Frau kniete sich neben das Tier und schlitzte mit ihrem Messer ein Stück der Halsschlagader auf. Sofort sprudelte das Blut aus der Antilope hervor und tränkte den Boden. Sie hielt ihre Hände darunter und trank von dem Blut. Dann stand sie auf, und ihre beiden Brüder folgten ihrem Beispiel. 
"Möge durch das Blut dieses Tieres seine Schnelligkeit und Wendigkeit auf uns übergehen." 
Noch einmal verbeugte sie sich vor der Antilope und begann dann damit, sie zu zerlegen. Vorsichtig schlitzte sie den Leib des Tieres auf und zog das Fell ab, das sie an ihre Brüder weitergab. Während sie dem Tier die Eingeweide entfernte, schabten die beiden jungen Männer das Fett vom Leder und sammelten es in einer großen Pferdeblase. Später würde das Fett erhitzt und in kleine Lampen gefüllt werden. Auch sonst würde alles von dieser Antilope verbraucht werden. Das Tier war wirklich ein Geschenk der Sey. Die Sonnenperiode in diesem Gebiet dauerte nun bereits 14 Sonnenläufe an, und Regen war schon viel länger nicht mehr gefallen. Viele der Tiere, die der Stamm der gefiederten Schlange sonst jagte, waren verendet. Eine Hungersnot drohte. Diese Antilope würde sicherlich nicht einmal für einen Tag den ganzen Stamm satt machen, doch gab sie wieder Grund zur Hoffnung, die viele der Stammesmitglieder bereits verloren hatten. Nur Darnja hatte nicht aufgegeben und war jeden Tag auf die Jagd gegangen. 
"Darnja! Wir sollten uns beeilen. Es wird bald dunkel, und wir haben uns sehr weit von unserem Dorf entfernt." 
Die junge Frau nickte kurz. Sie band die Eingeweide in ein weich gegerbtes Leder und schwang das Bündel über ihre Schulter. Ihr größerer Bruder Wyno nahm den Kadaver der Antilope auf die Schultern und drehte sich dann zu seinem Bruder um. Der war schmächtiger als seine Geschwister und hatte schwarzes Haar. 
"Nimm’ du das Fett, Ryg, und lasst uns endlich nach Hause gehen." 
Kurz blitzte Ärger in Rygs Augen auf. Er hasste es, von seinem Bruder herumkommandiert zu werden. Doch als Darnja ihm kurz über den Arm striff und sich dann ebenfalls in Richtung des Hügels, auf dem ihr Dorf errichtet war, machte, schloss er sich, wenn auch etwas verstimmt, seinen Geschwistern an. 
Vor ihnen erstreckte sich weit ihre heimatliche Steinwüste. Weit hinter dem Hügel, im Norden, sollte es Wälder geben. Riesige Seen, Flüsse und Grasebenen. Aber unter all diesen Begriffen konnten sich die drei nichts vorstellen. Niemals hatten sie die Steinwüste verlassen, und würden es wohl auch nie tun. Hier war ihr Stamm, ihre Familie. Wyno hatte eben eine Braut gefunden und wollte beim nächsten Vollmond heiraten. Ryg würde der Nachfolger des alten Schamanen werden und Darnjas Schönheit hatte schon viele Verehrer zu dem abgelegenen Dorf geführt. Aber noch hatte sie alle abgewiesen. Keiner hatte sie verstanden oder akzeptiert, wer sie war: die beste Jägerin des Stammes. Viele junge Männer hatten an ihr das Interesse verloren, wenn sie von Darnja erst einmal im Bogenschießen besiegt worden waren. In diesen Momenten beneidete Darnja manchmal die Frauen der Maley-Thar. Ihnen war alles gestattet, was auch die Männer taten, und umgekehrt. Dort hätte es jeder Mann als Ehre angesehen, mit einer so guten Jägerin verheiratet zu sein. Bei ihrem Volk, den Sey-Thar, aber war sie die einzige Jägerin, wenn auch von den Sey selbst dazu bestimmt. Und nun musste sie die Folgen dieses Privilegs ertragen. Aber irgendwann einmal würde sie einen jungen Mann treffen, der sie so annahm, wie sie war. 
Plötzlich wurde Darnja durch eine kurze Erschütterung der Erde unter ihren Füßen aus den Gedanken gerissen. Sie blieb stehen und lauschte in die Erde hinein. 
"Was ist los mit dir, Schwesterchen? Du weißt doch, wie schnell Mutter sich Sorgen macht."
Darnja schüttelte kurz den Kopf. Sie hörte nichts weiter. Hatte sie sich etwa geirrt? Die Natur hatte weder in den letzten Tagen noch heute Anzeichen eines Erdbebens geschickt. 
"Habt ihr das eben auch gespürt?" 
Sie sah ihre Brüder fragend an. Die schienen jedoch  nicht verstanden zu haben. "Eben hat die Erde gebebt." 
Wyno lachte auf. "Du phantasierst ja. Deine Verbundenheit mit der Natur scheint dich langsam Gespenster sehen zu lassen. Hier in der Gegend gab es noch nie Erdbeben, und wird es auch nie welche geben. Komm jetzt endlich weiter. Du hältst uns nur unnötig auf. Das Fleisch ist nicht eben leicht." 
Zögernd setzte sich Darnja wieder in Bewegung. Alle ihre Sinne waren auf das äußerste angespannt und warteten auf eine neuerliche Erschütterung der Erde. Oder hatte sie sich tatsächlich getäuscht? Nein. Da – schon wieder. Diesmal war es Ryg, der stehen blieb. "Jetzt habe ich auch etwas gespürt." 
"Ach, ihr seid doch beide verrückt." Wyno sah seine Geschwister verächtlich an. Trotzdem konnte Darnja sehen, dass auch er sich langsam Sorgen machte. Aber wie zum Trotz pfiff er ein fröhliches Sommerlied und ging scheinbar sorglos weiter. Da bebte es wieder. Diesmal so heftig, dass die Steine auf dem Wüstenboden klappernd auf und ab sprangen. 
"Aber das kann doch nicht sein. Wir..." Wyno brach ab, als das Beben immer stärker wurde. 
"Und, wo ist nun deine Erdverbundenheit geblieben, Darnja? Du hättest doch schon viel eher Anzeichen spüren müssen." 
Seine Schwester schüttelte verzweifelt den Kopf. "Ich weiß nicht. Aber es ist irgendwie beängstigend. Das Beben scheint nicht aus der Erde zu kommen. Alles wehrt sich dagegen, aber wer oder was es auch immer auslöst – es ist stärker." 
Langsam kroch die Angst in den dreien hoch, ließ den Magen flattern und die Knie weich werden. Und schließlich brach die blanke Panik hervor und erfüllte ihre Herzen. Hastig ließen sie ihre Lasten fallen und rannten los. Immer wieder stürzten sie unter den heftigen Wellen des Bebens, doch immer wieder standen sie auf. 
Da endlich kam das Dorf in Sicht. Immer schneller liefen sie über den steinigen, harten Boden. Sie spürten nicht, wie bei jedem Sturz Steine durch ihre Kleidung in ihr Fleisch drangen. Sie wollten nur nach Hause. 
Eine weitere Welle des Bebens ließ sie auf den Boden stürzen. Als sie sich wieder aufrichteten, starrten sie entsetzt auf ihr Dorf. Die Lehmhütten bebten unter jeder Welle der Erde. Einige schienen bereits eingestürzt zu sein. Und plötzlich sanken die Häuser langsam vor ihren Augen immer tiefer, bis sie völlig verschwunden waren. An dem Platz, wo vor Sekunden noch die Lehmhütten ihres Dorfes gestanden hatte, gähnte jetzt schreckliche, unfassbare Leere vor ihnen. Darnja starrte wie versteinert auf den Hügel vor ihnen. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, doch wollte sie das nicht zulassen. Alles war weg. Ihr ganzes Dorf. Nichts hob sich mehr gegen den gelblichen Horizont ab. Kein Haus, keine Mauer, kein Mensch. Sie schluckte schwer, holte dann tief Luft und fasste ihre Brüder an den Händen.
"Wir sollten gehen. Alle meine Sinne sagen mir, dass es hier nicht mehr sicher ist."
Sie wartete auf keine Antwort. Statt dessen kehrte sie dem Schrecken den Rücken zu und zog dann ihre Brüder mit sich.
Wyno und Ryg selbst waren kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Fast willenlos stolperten sie hinter Darnja her. Wie ihre Schwester waren beide zu keiner Träne fähig. Trotzdem verstanden sie die Kälte in Darnjas Stimme nicht. Es schien, als hätte sie das Unglück überhaupt nicht berührt. Sie lief nur immer weiter. Kopflos, blindlings. Ohne sich auch nur einmal umzusehen. Ohne auch nur einmal zu hoffen, dass jemand überlebt haben könnte, und ihnen nun folgte. Sie lief nur immer weiter. 
Bald fiel Ryg immer weiter zurück, und auch Wyno war kein so ausdauernder Läufer wie seine Schwester. Schließlich blieb er schwer atmend stehen.
"Darnja. Lass uns endlich lagern. Nur ziellos durch die Wüste zu laufen bringt uns nicht weiter." 
Ryg stimmte seinem Bruder keuchend zu. Doch Darnja schien gar nicht zu hören. Sie ging nur stur weiter geradeaus. Erst ein weiterer Ruf ihrer Brüder ließ sie stoppen. Sofort ließen sich Ryg und Wyno auf den Boden sinken, legten ihre Köpfe auf die Knie. Ryg begann langsam vor und zurück zu wippen. Wyno hörte, dass er leise ein altes Wiegenlied vor sich hinsummte. Wyno fiel in den Gesang ein, versuchte so seine schmerzenden Gedanken an den Verlust zu betäuben. 
Nach einiger Zeit wurden ihre Stimmen immer leiser, bis sie schließlich in unruhige Träume versanken.
Darnja stand noch lange vor ihren Brüdern und beobachtete sie. Immer wieder kam der Schmerz des Verlustes in ihr hoch, doch bis jetzt hatte sie ihn immer wieder erfolgreich unterdrücken können. Sie wollte das alles nicht an sich heran lassen. Die Angst davor, dass die Trauer ihr ganzes Denken übernehmen würde, war zu stark. Außerdem bemitleideten sich die Menschen mit Tränen sowieso nur selbst. Schließlich war für die Verstorbenen der Tod ein Schritt in ein schöneres Leben. Keine Kämpfe mehr zwischen Sey und Maley. Kein Hunger, kein Durst. 
Langsam ließ Darnja sich auf den Steinboden sinken. Sie war müde geworden. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Immer wieder drängte sich das Bild des versinkenden Dorfes in ihre Gedanken. Sie versuchte es mit anderen Gedanken zu überdecken, doch schließlich gab sie es auf. Sie legte ihren Kopf in ihre Armbeuge und umschloss mit dem anderen Arm ihren Kopf. Doch was ihr früher in einsamen Stunden Geborgenheit gab, verdeutlichte ihr jetzt nur ihre Einsamkeit. So richtete sie sich wieder auf und starrte auf ihre Hände, die zu zittern begonnen hatten. Sie wusste nicht, wie lange schon. Es fiel ihr erst jetzt auf. Und nun breitete sich das Zittern langsam in ihrem ganzen Körper aus. Ihr Herz raste, ihr Atem, der selbst nach dem langen Lauf ruhig und gleichmäßig geblieben war begann sich immer mehr zu beschleunigen. Schließlich hörte sie sogar, wie ihre Zähne laut aufeinanderklapperten.
Durch einige Atemübungen, die ihr Bruder ihr beigebracht hatte, versuchte sie das Zittern zu unterdrücken. Sie kam sich so hilflos vor. Noch nie zuvor hatte ihr Körper sie so im Stich gelassen. Mit ihren Armen umklammerte sie ihre Knie und spannte jeden ihre Muskeln an. Doch nichts schien zu helfen. Erst als sie sich flach auf die Erde legte und in sie hineinhörte, wurde sie immer ruhiger, bis das Zittern endlich überwunden war.
Die Erde. Immer schon hatte sie sich zu ihr hingezogen gefühlt, hatte in ihr stets Trost gefunden. Aber diesmal war es etwas anderes. Denn es war die Erde gewesen, die ihr diesen Schmerz zugefügt hatte. Das konnte doch nicht sein! Nichts, was aus der Erde kam, war von Grund auf Böse, oder wollte den Thari oder anderen Lebewesen schaden. Nichts. Warum nur war genau in diesem Moment, an diesem Ort, das Böse ausgebrochen? Warum war sie nicht zur Zeit des Unglücks im Dorf gewesen? Vielleicht hätte sie das aufziehende Unglück erkannt, wenn sie sich nicht so sehr auf die Jagd konzentriert hätte. Vielleicht...
Ein Schluchzen quälte sich ihre Kehle hinauf. Und diesmal konnte sie es nicht mehr unterdrücken. Sie hatte ihre Mutter verloren. Ihre Mutter, die einzige, die Darnja wirklich um ihrer selbst geliebt hatte. Die einzige, der sich Darnja anvertrauen konnte. Sie schluchzte noch einmal auf. Dann schlug sie verzweifelt ihre Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. 
Sie weinte und weinte, bis sie schließlich erschöpft und mit dem beklemmenden Gefühl der Einsamkeit im Herzen einschlief.
 
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Und schon geht's hier zum nächsten Kapitel: Die Steinwüste 2: Vision

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