Dorra
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I - Die Steinwüste |
2: Vision |
"Darnja! Darnja, mein Kind!" Es war völlig dunkel, doch irgendwo, weit weg, konnte sie einen schwachen Lichtstrahl erkennen. "Mutter?" "Nein. Auf jeden Fall nicht die, die du bisher 'Mutter' genannt hast." Weiter blieb es dunkel, doch langsam gewöhnten sich Darnjas Augen an die Dunkelheit und sie konnte vor sich schemenhaft die Gestalt einer alten Frau vor sich sehen. "Wer bist du?" "Das ist jetzt und hier nicht die Frage. Sie wird dir später beantwortet. Etwas anderes soll dir heute beantwortet werden, was du dich schon fragst, seit dem du auf der Welt bist." Darnja sah die Frau fragend an. Was meinte sie nur damit? Was wollte sie wissen? "Wer bin ich? Zu welchem Stamm gehöre ich?" Obwohl sie noch immer nicht viel sehen konnte, meinte sie die Frau lächeln zu sehen. "Das ist ein Teil der richtigen Frage. Er wird dir aber heute noch nicht beantwortet werden. Du kennst die Frage. Du trägst sie schon 17 Regenzeiten mit dir. Nun folge mir. Habe keine Angst." Lange Zeit ging Darnja hinter der alten Frau durch die Dunkelheit. Irgendwo, weit entfernt, musste es eine Lichtquelle geben, die ihren Weg ein wenig beleuchtete. Und sie strebten genau darauf zu. Fast unmerklich wurde es immer heller. Trotzdem konnte Darnja die Frau vor sich nicht genauer erkennen. Es war, als hätte sie sich in einen schwarzen Nebel gehüllt. Schwarzer Nebel. Gehörte sie zu den Maley-Thar? "Auch diese Frage soll dir heute noch nicht beantwortet werden." Darnja schrak zusammen. Konnte die Alte etwa ihre Gedanken lesen? "Keine Angst. Deine Gedanken sind bei mir sicher." Wieder legte sich Schweigen um die beiden. Darnja versuchte, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie kannte ihre Führerin nicht. Und selbst wenn es ihre Mutter gewesen wäre, hätte sie niemals gewollt, dass die all ihre Gedanken liest. So konzentrierte sie sich völlig auf die glatten, schwarzen Wände an ihren Seiten. Auf das Wasser, das sie irgendwoher glucksen hörte. Und das Licht, das inzwischen schon so stark geworden war, dass sie ihre Kleidung erkennen konnte. Doch sie kannte nicht, was sie trug. Das war nicht ihre übliche Kleidung aus der selbstgegerbten Haut einer Weißbauchantilope und die Stiefel aus Gazellen-Leder. Aber es war auch nicht ihr Festtagskleid aus weichstem Rotrückenechsen-Leder, das mit kleinen Perlen und Federn bestickt war. Diese Kleidung hier war überhaupt nicht aus Leder. Es ähnelte in keiner Weise etwas, das sie bisher schon einmal gesehen hatte. "Das ist der Stoff, aus dem die Kleider der Beiden Völker gemacht werden." Wieder hatte die Fremde ihre Gedanken gelesen. Langsam wurde Darnja wütend. "Sei ganz ruhig, meine Tochter. Es ist wichtig, dass du dir merkst, was für ein Gefühl es ist, Kleidung der Sey und Maley zu tragen. Du wirst dich dann im nötigen Augenblick daran erinnern." So viele Fragen brannten Darnja auf der Zunge. Doch sie traute sich nicht, ihre Führerin direkt anzusprechen. Und diesmal antwortete die nicht auf ihre Gedanken. Die Alte sollte ihr doch einige Fragen beantworten, und sie nicht noch mehr verwirren. Sie war ohnehin so durcheinander wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Träumte sie, oder war sie wach? Wo war sie? Und – warum war sie hier? "Du stellst immer die falschen Fragen. All das ist völlig unwichtig für dich. Ich könnte dir Antworten darauf geben. Aber du würdest danach auch nicht mehr wissen als jetzt. Übe dich in Geduld. Du wirst die richtige Frage noch finden, bevor wir die Lichtquelle erreicht haben. Das verspreche ich dir." Was nur wollte sie sonst wissen? Wer bin ich? Wo bin ich? Warum bin ich? Plötzlich standen sie in einer riesigen Höhle, die von weichem Licht hell erstrahlt wurde. Die Decke jedoch war so hoch, dass sie sich bereits wieder in Dunkelheit verlor, und so unendlich schien. Doch Darnja spürte nicht den kleinsten Luftzug. Es musste sich um einen geschlossenen Raum handeln. Ihre Führerin war verschwunden. Dafür standen auf der anderen Seite der Höhle zwei Gestalten. Die eine ganz in Weiß, die andere ganz in Schwarz gekleidet. "Komm näher." Darnja sah erschrocken um sich. Sie wusste, dass kein Ton ihre Ohren erreicht hatte, und trotzdem hörte sie Worte. Sehr deutlich sogar. Als würde die sprechende Person direkt neben ihr stehen. "Hab keine Angst." Wieder das gleiche. Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie bildete sich das sicher nur ein. Vielleicht war sie bei dem Beben ja einmal auf den Kopf gefallen. Oder Ryg hatte ihr einen seiner Tränke eingeflößt, die neben einer heilenden Wirkung auch Halluzinationen hervorriefen. "Es ist alles in Ordnung mit dir, Darnja. Wir sprechen zu dir, wie wir es schon immer mit Thari getan haben." Darnja sah zu den beiden Gestalten. Hatten wirklich die beiden gesprochen? Aber warum erschreckte sie das so? Sie war doch sonst nicht so ängstlich! So nahm sie all ihren Mut zusammen, umrundete die Lichtquelle, die sie nur als einen gleißenden Feuerball erkennen konnte, und trat dann auf die beiden Gestalten zu. Deren Anblick war überwältigend. Solch eine makellose Schönheit hatte sie noch niemals zuvor gesehen. Die Sey, wenn sie wirklich ein Mitglied des Volkes war, hatte langes, silbernes Haar, das sie kunstvoll geflochten und hochgesteckt hatte. Daneben sah jede Hochzeitsfrisur der Sey-Kar nur wie ein ärmlicher Zopf aus. Auch ihre Augenbrauen, die geschwungen waren wie die Flügel eines Vogels, und die langen, gebogenen Wimpern waren silbern. Doch ihre Augen selber waren golden. Von solch einem heißen Gold, dass Darnja dachte, ihr Blick könnte sie verbrennen. Wie magisch angezogen musste sie immer weiter in diese Augen blicken, die völlig ausdruckslos auf sie herab sahen. Da schloss die Sey ihre Augen, und sofort war Darnja befreit. Schnell wand sie ihren Blick ab und betrachtete die Maley. Sie strahlte nur Kälte aus. Schwarze Haare, Augenbrauen und Wimpern. Sogar ihre Augen waren von tiefstem Schwarz. Doch nun war sie auf die besondere Kraft der Augen vorbereitet, und wendete sofort ihren Blick ab, ehe die Maley sie gefangen nehmen konnte. So standen die drei sich schweigend gegenüber. Darnja mit gesenkten Augen, so dass sie nur den Saum der beiden Kleider vor sich sehen konnte, die so leicht wie Spinnweben auf dem rauen Höhlenboden lagen. Diese Stoffe waren wirklich wundervoll. Der eine weiß, mit feinsten silbernen und goldenen Fäden durchzogen. Der andere wie ein Nachthimmel, bei dem die Farben undefinierbar zwischen Schwarz und Tiefblau huschten. Darnja atmete tief ein. Dann umschloss sie fest ihren Talisman und hob wieder ihren Kopf, immer direkten Blickkontakt vermeidend. "Warum bin ich auf dieser Welt?" Da streckten die beiden plötzlich ihre Arme aus und griffen je eine von Darnjas Händen. Die eine Berührung war warm, die andere eiskalt. Und trotzdem waren beide angenehm. Mit einem Mal verschwommen die Höhlenwände, und eine weite, grüne Ebene wurde statt dessen sichtbar. So etwas wundervolles hatte Darnja vorher noch nie gesehen. Das Gras war von einem tiefen Grün. Es musste sehr nahrhaft sein. Dahinter gab es Wasseransammlungen, weiter, als das Auge sehen konnte und so tief, dass wohl nicht einmal Wyno darin stehen könnte. Und überall weideten große, fette Tiere. Diese Tiere sahen völlig anderes aus als die, die sie kannte. Die meisten waren größer und behäbiger. Manche hatten Hörner wie Antilopen, doch verzweigten sie sich oft und mussten wohl sehr schwer sein. Es müsste ein leichtes sein, sie zu jagen. Hier war jedoch Fleisch in solchem Überfluss vorhanden, dass es nicht schlimm war, wenn eine Jagd erfolglos war. Sicher dauerte es nicht mehrere Tage, bis man auf Wild stieß. Welch wundervolles Land. Und wie glücklich mussten die Menschen hier sein. "Das ist Dorra, nachdem Aramo, der große Weltenbilder, ihr Gesetze gegeben hatte. Bevor Nepora sie zerstörte." Darnja sah wie gebannt auf das Bild, das sich ihr bot. Das also war die Welt, wie sie sein sollte. Obwohl es ja nur ein Trugbild war, heraufbeschworen von den beiden Frauen vor ihr, spürte sie die Kraft, die von der Natur ausging. Noch niemals zuvor hatte sie so etwas Kräftiges gespürt. Es ging nicht nur um das nackte Überleben, um Arterhaltung. Hier versuchte jedes Lebewesen so gut wie nur möglich zu leben. Keine Streitereien um Wasserplätze oder Futter. Man konnte seine Kraft für anderes verwenden. Wenn Darnja daran dachte, wie viel Zeit die Nahrungsbeschaffung in der Steinwüste verbrauchte. An den meisten Tagen im Jahr konnte man nichts tun außer Schlafen, Essen und Jagen. In der alten Welt hätte man jedoch auch noch neue Gerätschaften erfinden, oder alte verbessern können. Vielleicht hätten die Thari inzwischen schon das bearbeiten dieser Metalle der Beiden Völker gelernt, und wären nicht mehr abhängig von ihnen. Wer weiß? Vielleicht war Nepora ja gar nicht der wahre Grund für die gegenwärtigen Zustände. Vielleicht wollten die Beiden Völker ihre Untertanen, die Thari, nur in Abhängigkeit halten? "Du tust uns Unrecht, Darnja. Denn wir wollen genau so wie ihr eine bessere Welt. Die meisten von uns." Das letzte sprach die Sey nur leise aus. Und das verstärkte nur Darnjas Misstrauen. Wenn so viele eine bessere Welt wollten – warum taten sie dann nichts dafür? Sie hatten Dorra in die Verwüstung geschickt. Sie konnten sie auch wieder herausholen. "Das ist nicht so einfach. Kennst du die Prophezeiung, wie Dorra errettet wird?" Natürlich kannte sie die. Die Ältesten ihres Dorfes hatten sie oft genug erzählt: Drei Thari sind es, die Dorra erretten. Durch den Kristall der vier Herrlichkeiten. Wenn Licht und Dunkelheit herrschen Wenn die Erde sich zur Heilung erhebt Wenn eine drei ist "Und was habe ich nun mit dieser Prophezeiung zu tun?" "Sieh selbst." Das Bild der weiten, fruchtbaren Ebenen löste sich vor ihren Augen auf. Statt dessen konnte Darnja ihre hochschwangere Mutter sehen. "Wir warteten auf die drei Thari, doch sie kamen nicht. 1000 Menschenjahre lang. Und so beschlossen wir, die Prophezeiung selbst zu erfüllen. Wir suchten unter den Thari eine starke und reine junge Frau aus. Wir erschufen drei Kinder und ließen sie von dieser Frau austragen." Wieder änderte sich das Bild. Nun sah Darnja sich und ihre Brüder, etwa im alter von fünf Regenzeiten. "Wir versuchten die drei so gut wie möglich vor Neporas Wut zu schützen. So konnten sie unbehelligt aufwachsen, bis sie stark genug wären, um sich auf die Suche zu machen. Doch unser Schutz war nicht stark genug. Nepora fand die drei und versuchte sie umzubringen." Nun sah Darnja wieder das Erdbeben. Diesmal jedoch von oben, wie ein Vogel. Entsetzt sah sie den Spalt mitten im Dorf, der alles verschlang und sich dann wieder schloss. Wie schnell das jetzt alles geschah. Als sie es erlebte, hatte es doch viel länger gedauert. "Wir können euch jetzt nicht mehr beschützen. Nepora hat euch einmal gefunden, und wird euch von nun an immer finden. So müsst ihr euch gleich auf die Suche machen. Es ist nun euere Aufgabe, den Kristall zu finden." Darnja sah die beiden erschrocken an. Dann schüttelte sie entsetzt den Kopf. "Nein. Das kann nicht sein!" Die Sey versuchte sie zu beruhigen. "Ihr seid den Gefahren vor euch gewachsen. Außerdem werden wir euch Helfer zur Seite stellen." "Das ist es nicht!" In Darnjas Stimme schwang große Wut mit. "Ihr habt uns einfach so erschaffen? Nur damit wir etwas tun, wozu ihr unfähig seid? Und wenn wir es geschafft haben – tötet ihr uns, wie es wohl das vermeintliche Recht eines Erschaffers ist?" Die beiden sahen das junge Mädchen erstaunt an. Warum gehorchte sie nicht? Warum stellte sie die Beiden Völker in Frage? Das hatte bisher noch kein Thari gewagt. Die Sey wollte sie schon bestrafen, aber die Maley hielt sie mit einer kurzen Geste davon ab. "Ich verstehe deine Wut nicht. Auch nicht deine Furcht. Niemand unter uns ist von Grund auf so böse wie Nepora. Wenn ihr den Kristall habt, bringt ihr ihn zu uns. Und als Belohnung werdet ihr ein erfülltes Leben erleben dürfen. Und wenn es an der Zeit ist, werdet ihr sterben wie jeder andere Thari, und euer Geist wird zu Aramo gelangen. Ihr drei seid Thari wie alle anderen. Nur für eine besondere Aufgabe in einer besonderen Art geschaffen." Darnja wollte noch etwas erwidern, schwieg dann jedoch. Auch wenn sie nicht an die Unfehlbarkeit der Beiden Völker glaubte, taten das noch viele andere. Und an denen könnten sie die Beiden Völker für jedes weitere böse Wort rächen. Sie nickte nur stumm. "Ich werde mich mit meinen Brüdern beraten. Wenn sie zustimmen, werden wir uns auf die Suche machen. Und nun - lasst mich gehen." Die beiden nickten, und sofort waren sie und die riesige Höhle mit der Lichtquelle verschwunden. Darnja stand wieder in völliger Dunkelheit. |
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