Dorra von Veronika Keller
I - Die Steinwüste
4: Welterschaffung

Ihre Reise durch die Steinwüste dauerte nun bereits fast zehn Sonnenläufe. Und noch immer wussten sie nicht genau, wohin sie gehen mussten. Sie waren einfach nur immer in die Entgegengesetzte Richtung ihres Dorfes gegangen. Doch es schien, als wären sie bis jetzt noch keinen Schritt vorwärtsgekommen. Seit Tagen nur noch Sonne und Steinwüste. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Es war kurz vor dem Zeitpunkt, an dem die Sonne den Horizont berührte. Die drei Geschwister hatten ein wenig zu Essen gefunden, doch es war kaum genug, ihren Hunger zu stillen. Aber sie hatten sich in der letzten Zeit an das ständig präsente Hungergefühl in ihrem Bauch schon so gewöhnt, dass sie ihn nur noch spürten, wenn er unerträglich wurde.
"Heute wird die Sonne untergehen." 
Darnja sah Ryg erstaunt an. Doch sie zweifelte keine Sekunde an seinen Worten. So wie sie alles wusste, was in und auf der Erde geschah, kannte Ryg jede Bewegung am Himmel. Das meiste hatte er von Parón, dem Schamanen ihres Stammes gelernt. Doch es gab auch einiges, was er von sich aus wusste. Dazu gehörte auch, dass er immer vorausahnte, wann wieder eine Dunkelperiode beginnen würde.
"Das ist nicht gut! Wenn jetzt eine Dunkelperiode anbricht, werden wir jeden Tag nur eine sehr kurze Zeit weiter sehen können als ein paar Schritte. Und diese Zeit werden wir brauchen, um Nahrung zu suchen. Also müssen wir hier bleiben, bis die Sey wieder gewonnen haben." Wyno schlug sich wütend mit der Faust auf den Oberschenkel.
Auch Danja wollte zuerst seinem ersten Impuls folgen und sprang wütend auf. Doch dann begann sie zu lächeln.
"Ryg konnte in der Dunkelperiode schon immer besser in die Geister- und Traumwelt einsteigen, als bei Licht. Vielleicht werden wir uns ja nicht fortbewegen können. Aber hoffentlich werden wir endlich erfahren, wohin wir eigentlich müssen."
Sofort war Ryg voller Begeisterung. 
"Wir müssen ein Beschwörungsritual für die Maley herrichten." 
Doch sofort wurde seine Freude wieder gedämpft. 
"Aber ich habe noch nie ein solches Ritual alleine durchgeführt. Und hier haben wir weder alle Kräuter für den Trank, noch genug Thari, um das Ritual überhaupt durchzuführen."
Darnja schüttelte den Kopf. 
"Ich habe an kein Ritual gedacht. Du musst nur einfach einschlafen. Mehr nicht. Dann werden sich hoffentlich die Maley mit dir in Verbindung setzen."
"Die Maley? Warum sie? Die Herren der Dunkelheit haben uns noch nie geholfen, und bis jetzt nur einmal zu Ryg gesprochen."
"Aber wenn die Sey uns helfen könnten, hätten sie schon längst Kontakt zu dir aufgenommen, Wyno. Genug Zeit hätten sie ja gehabt. Nein. Die Maley sind unsere letzte Hoffnung."
Wyno glaubte noch immer nicht recht an die Worte seiner Schwester. Doch er schwieg, als er das sorgenvolle Gesicht seines Bruders sah.
"Ich kann doch nicht in die Geisterwelt ohne Ritual eindringen. Ich bin zu schwach. Schon als ich in meinem Traum dem Maley gegenüber stand, wäre ich fast verloren gewesen, wenn er mich nicht entlassen hätte. Bitte, Darnja. Ich sollte niemals eure letzte Hoffnung sein."
Darnja schwieg lange Zeit. Dann streckte sie ihre Arme aus und zog Rygs Kopf auf ihren Schoß. 
"Du wirst nicht alleine gehen müssen. Ich werde dich begleiten, so gut ich kann." 
Sie legte eine Hand auf Rygs Stirn, richtete sich gerade auf und begann dann leise zu Summen. Ryg lächelte. Er hatte das Lied erkannt. Und auch Wyno legte sich auf den Rücken, um dem zu lauschen, was nun kam. Das war die älteste und großartigste Geschichte aller Thari. Es war die Mutter aller Geschichten. Es war der Gesang der Schöpfung.
Darnja schloss die Augen, legte den Kopf ein wenig zurück, und begann die langgezogenen Worte des Ursprungs zu singen.
"Die Geschichte beginnt in einer Zeit, da die Welt noch wild und ungezähmt war. Raubtiere schlugen jedes Tier, dessen sie habhaft werden konnten, selbst wenn sie schon lange satt waren. Steine rollten aus reinem Übermut die Berge hinab und begruben an dessen Fuß alles Lebende. Die Gewässer traten über ihre Ufer hinaus und ertränkten alle, die an ihren Ufern Wasser gesucht hatten. Die Pflanzen wuchsen wild und stahlen sich gegenseitig Licht und Wasser. Berge spieen  hohe Lavafontänen aus, die sich dann in rasendem Tempo ins Tal hinabwälzten und jeden, der nicht schnell genug war, mit sich rissen. Sogar die große Erde selbst hatte Spaß daran, sich plötzlich zu öffnen und alles zu verschlingen. Sonne und Mond kamen und gingen, wann immer sie wollten. Täglich kämpften sie um das Anrecht, am Himmel stehen zu dürfen. So lebte jeder im ständigen Kampf mit jedem. Das Helle mit dem Dunklen, das Schwere mit dem Leichten, das Trockene mit dem Feuchten, das Weiche mit dem Harten, das Warme mit dem Kalten. 
Dies alles sah Aramo, der Herrscher des Weltalls. Und es gefiel ihm nicht. So stieg er von seinem Himmelsschloss hinab auf den Planeten und wies allem einen Platz zu. Er zeigte den Gewässern ihre Ufer und den Steinen ihren Platz auf den riesigen Bergen. Er befahl der Erde, sich nie zu öffnen und den Bergen kein Feuer mehr zu speien. Er gab den Pflanzen eine Größe, bis zu der sie wachsen durften und den Raubtieren sagte er, sie dürften nur aus Hunger jagen. Er wies den Vögeln den Himmel, den Fischen die Gewässer und den Säugetieren das Land zu. Zuletzt stieg er hinauf in die Lüfte zu Sonne und Mond und zeigte ihnen die Bahnen, in denen sie von nun an die Erde umrunden sollten. Zufrieden sah er auf sein Werk hinab. 
Bald jedoch bemerkte er, dass er nicht alleine darauf achten konnte, dass seine Regeln eingehalten wurden. Und so beschloss er für jeden seiner Sterne ein Volk zu schaffen. Das Volk der Erde sollte von der Zahl her am größten werden, da sie vom größten der drei Sterne abstammten. Doch wie Dorra von Sonne und Mond abhängig ist, sollte auch das Erdenvolk von den anderen beiden Völkern abhängen. 
So nahm er etwas von dem heißen Gestein der Sonne, etwas von dem goldenen Gestein der Erde, drei Tropfen seines Blutes und vom Feuer der Sonne. Daraus formte er zwei Gestalten. Sie hatten helles Haar, goldene Augen und ihre Haut war von einem herrlichen bronzenen Ton. Aramo nannte sie Sey, das Sonnenvolk. Ihnen gab er auf, über die Sonne und alle Lebewesen, die das Licht liebten, zu herrschen.
Als dies geschehen war nahm er etwas von dem kalten Mondgestein, etwas von dem silbernen Berggestein der Erde, drei seiner Tränen und von der Dunkelheit des Weltalls. Wieder formte er zwei Gestalten. Sie hatten schwarzes Haar, tiefschwarze Augen und eine schneeweiße Haut. Aramo nannte sie Maley, das Mondvolk. Ihnen trug er auf, über den Mond und die Tiere der Dunkelheit zu herrschen. 
Zuletzt nahm er etwas Erde und Wasser und formte daraus wieder zwei Gestalten. Ihnen hauchte er seinen Atem ein und gab ihnen den Namen Thari, das Menschenvolk. Sie sollten sich vermehren und im Namen des Sonnenvolkes und des Mondvolkes über die Erde herrschen.
Danach verschwand Aramo für immer. In der Welt jedoch, die er geformt hatte, brach ein goldenes Zeitalter an.
Alle Geschöpfe der Erde lebten friedvoll miteinander. Jeder besaß alles, was er zum Leben benötigte. Und deshalb gab auch jeder gerne etwas von seinem Besitz ab. So musste man nur um etwas Wärme bitten, und die Sey gab sie. Ebenso hüllten die Maley jeden in wohltuendes Schwarz, wenn sein Körper nach Ruhe verlangte."
Langsam ließ sie den Gesang ausklingen und öffnete die Augen. Inzwischen war die Sonne tatsächlich völlig untergegangen, und nur noch der halbe Mond und einige wenige Sterne leuchteten sanft auf die drei hinunter. Ryg war eingeschlafen, und auch Wyno schnarchte leise vor sich hin. Darnja hob sanft den Kopf ihres Bruders aus dem Schoß und ließ ihn zu Boden sinken. Dann stand sie leise auf und verließ das Lager.
 
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Und weiter zum nächsten Kapitel: Die Steinwüste 5: Darnjas Verbundenheit zur Erde

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