Dorra von Veronika Keller
I - Die Steinwüste
5: Darnjas Verbundeheit zur Erde

Ryg wachte keuchend auf. Er fuhr auf und sah entsetzt um sich. Doch er konnte nichts sehen. Wolken hatten den dunklen Nachthimmel völlig verhangen. Kein Strahl des Mondes konnte die Erde erreichen.
Vorsichtig tastete er um sich. An seiner Rechten lag Wyno. Und zu seiner Linken – nur Steine. Entsetzt richtete er sich ein wenig auf und tastete weiter. Nichts. "Darnja?" Keine Antwort. "Darnja?" Diesmal hatte er ein wenig lauter gerufen, wovon auch Wyno erwachte. 
"Was schreist du, kleiner Bruder? Haben die Maley dir solche Angst eingejagt?"
"Wo ist Darnja? Sie ist nicht im Lager!" 
Sofort erstarb Wynos Lachen. "Sie würde in der Dunkelperiode niemals alleine fortgehen. Sie spielt uns sicher nur einen Streich."
"Nein. Wir würden ihre Anwesenheit spüren. Sie hat uns verlassen."
Die beiden richteten sich erschrocken auf. 
"Wieso? Sie war doch so überzeugt davon, dass ich erfahren werde, wie es weiter geht."
"Und, hast du es?" 
Ryg nickte. Sofort fiel ihm aber ein, dass Wyno das ja gar nicht sehen konnte und hängte noch ein kurzes "Ja" an. 
"Aber ohne sie kommen wir niemals an. Wir dürfen uns nie trennen. In der Prophezeiung heißt es, dass drei Thari Welt retten wird. Drei! Ich weiß jetzt endlich, wie wir den Kristall finden können, und jetzt... ." Seine Stimme erstarb. 
Wyno rückte etwas näher zu seinem Bruder und legte ihm den Arm um die Schultern. 
"Wir reden hier von Darnja. Die beste Jägerin unseres Stammes. Und unsere Schwester. Sie würde uns niemals verlassen. Sicherlich hat sie einen Grund für ihr Verschwinden gehabt. Also werden wir später in der Dämmerung ein wenig Nahrung suchen und warten, bis sie wieder kommt." 
Er drückte noch einmal kurz seinen Bruder an sich und legte sich dann wieder auf den Steinboden, um ein wenig zu schlafen.
Ryg hörte eine Zeit lang den Atemgeräuschen seines Bruders zu. Doch selbst konnte er nicht einschlafen. Er spürte, dass mit Darnja nicht alles in Ordnung war. Doch er konnte keine richtige Verbindung zu ihr herstellen, so dass er nicht ergründen konnte, ob es bloß der Schmerz über den Tod der Mutter war, oder ob sie in Lebensgefahr schwebte. Lange Zeit wälzte er sich hin und her. Er hatte Angst vor der Dunkelheit, obwohl ihn die Maley beschützten. Schon wollte er seinen Bruder wecken. Doch dann stand er alleine auf und ging in die Richtung, in der er seine Schwester vermutete. Vorsichtig setzte er einen Schritt nach dem anderen. Überall konnte es kleinere Felsen oder Löcher geben. 
Plötzlich hörte er ein leises Schluchzen. Er beschleunigte ein wenig seinen Lauf und folgte dem Geräusch. Nach nur wenigen Schritten stieß sein Fuß gegen etwas weiches. Langsam beugte er sich zu Boden und fuhr sanft über das Gesicht seiner Schwester. Die schreckte zusammen und schlang dann schluchzend ihre Arme um seinen Hals. Ryg setzte sich vorsichtig auf den Boden und presste Darnja eng an sich. 
Lange Zeit saßen die beiden so da. Darnja klammerte sich immer enger an ihren Bruder, als wäre er der einzige Halt, den sie noch auf der Welt hatte. Doch obwohl sie sich körperlich so nahe waren, schien ihr Geist so weit von seinem entfernt, wie noch nie vorher. Etwas in ihr schien gestorben zu sein. Etwas wichtiges. Etwas, was all ihr Leben zuvor ausgemacht hatte.
Schließlich versiegten ihre Tränen, doch die Kälte, die sie umgab, verschwand nicht. Sie verstärkte sich nur immer mehr, bis es Ryg kaum noch ertrug. Da schlug sie die Augen auf und sah ihn aus trüben Augen an. Er versuchte, sie zum Aufstehen zu bewegen, doch schüttelte sie nur müde den Kopf. 
"Lass mich. Ich kann nicht mehr." 
Ryg protestierte. "Ich weiß jetzt endlich, wohin wir gehen müssen. Wir werden bald aus der Wüste heraus sein. Du darfst jetzt nur nicht aufgeben." 
Doch Darnja schien ihm überhaupt nicht zugehört zu haben. Statt dessen nahm sie eine handvoll Kiesel und ließ sie durch ihre gespreizten Finger fallen.
"Wieso nur hat sie das zugelassen?" 
Ryg sah sie fragend an. Wen meinte seine Schwester mit "sie"?
"Ich habe ihr seit meiner Geburt gedient. Nie habe ich etwas getan, was sie verletzt hätte oder ihr gar missfallen hätte. Und trotzdem lässt sie mich in dem Moment im Stich, in dem ich sie am meisten gebraucht hätte."
"Von wem sprichst du. Doch nicht etwa von Mutter?"
Sie schüttelte langsam den Kopf. "Nicht unsere leibliche Mutter. Sie hätte uns niemals im Stich gelassen. Sie nicht. Aber die, die ich zu meiner zweiten Mutter, zu meiner Beschützerin gewählt habe. Sie hätte uns helfen können."
Ryg stand ruckartig auf und sah seine Schwester wütend an.
"Du weißt, dass ich dich immer für deinen Glauben bewundert habe. Und du hast so viele Anfeindungen deswegen erlitten. Doch nie hast du dich davon abgewandt. Nicht einmal, als unser Häuptling dich deswegen verbannen wollte. Und nun verlässt du diesen Weg, deinen Glauben, nur weil er nicht das getan hat, was du gewollt hast?"
"Nicht ich habe meinen Glauben verlassen. Er hat mich verlassen. Ich spüre die Erde nicht mehr. Es ist, als würde ich in der Luft schweben, ohne Verbindung zu meiner Beschützerin. Sie hat mich verlassen."
Ryg hörte deutlich die Verzweiflung in ihrer Stimme. Das war es also. Darnja hatte ihre Verbindung zur Natur verloren. 
"Als ich mit den Maley sprach, sagten sie mit oft, dass es unsere Bestimmung sei, den Kristall zu suchen und zu finden. Vielleicht war es ja Mutters Bestimmung zu sterben."
Darnja sah ihren Bruder wütend an. "Du willst also sagen, Mutter sollte uns gebären und uns großziehen. Und da wir jetzt alt genug sind, um uns auf die Suche zu machen, ist sie entbehrlich und kann einfach getötet werden? Dann würde dass ja bedeuten, dass auch wir drei sterben werden, wenn wir den Kristall gefunden haben."
Langsam fühlte Ryg sich unwohl. Denn was seine Schwester sagte, war logisch. Und wenn er weiter darüber nachdachte, würde er vielleicht irgendwann selbst daran glauben. 
"Ich meine nicht, dass sie den Beiden Völkern nicht mehr nützlich gewesen wäre, und deshalb sterben musste. Aber durch ihren Tod hat sie uns bei der Suche geholfen. Sie sogar erst ermöglicht. Oder hättest du ohne das Unglück freiwillig Mutter verlassen?" 
"Nein." 
"Dann führte es also dazu, dass wir mit unserer Suche beginnen konnten." 
"Nein. Wir sind darauf noch nicht richtig vorbereitet. Wir sind jetzt erst 17 Regenzeiten alt. Die Maley hat in meinem Traum außerdem angedeutet, dass es eigentlich zu früh ist. Nur wegen Nepora mussten wir so früh aufbrechen. So ist Mutters Tod und der damit verbundene zu frühe Aufbruch wahrscheinlich eher schlecht für unsere Suche. Also sage nie wieder, dass Mutters Tod uns irgendetwas nützen würde." 
Darnja war wirklich wütend auf ihren Bruder. Er ließ sich noch immer viel zu sehr von den Wünschen und Gedanken der Beiden Völker leiten. Wenn sie ihn nur endlich vom Gegenteil überzeugen könnte. Doch im Moment war sie viel zu aufgebracht, um mit ihm zu reden. So stand sie schnell auf und lief ein paar Schritte von ihm weg. Sie wollte alleine nachdenken. Aber erst, als sie hörte, dass Ryg wieder in Richtung Lager zurück ging, begann sie sich wieder etwas zu entspannen und setzte sich auf den Boden. Kaum aber berührte sie die Erde, durchflutete sie tiefe Müdigkeit, und sie schlief augenblicklich ein.
*
"Darnja!" Es war die Stimme der alten Frau, die sie zu den Beiden Völkern geführt hatte. Doch diesmal war es nicht mehr so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Zumindest war es hell genug, um das Gesicht der Frau erkennen zu können. Ihr Haar war weiß und kurzgeschnitten. Das war seltsam. Darnja kannte sonst niemanden, der sich die Haare schnitt. Nur Toten und Trauernden wurde vor der Beerdigung das Haar geschnitten. Denn Haare waren das Zeichen des Lebens.
"Bist du tot, Große Mutter?"
Die Alte schüttelte den Kopf. "Um tot zu sein, müsste ich erst einmal richtig gelebt haben. Aber das verstehst du nicht. So strenge deinen Kopf gar nicht erst an." 
Wütend starrte Darnja auf die Frau. 
"Nun willst auch du meine Gedanken unterdrücken! Genau so wie die Beiden Völker." 
Sie drehte sich um und wollte weglaufen. Doch sofort legte sich die dünne, faltige Hand der alten Frau auf ihre Schulter und hielt sie eisern fest.
"Du bist so voller Hass gegen die Beiden Völker. Vielleicht zu recht. Ich weiß es nicht. Aber bedenke, was du dir immer in deinem Dorf gewünscht hast. Anerkennung. Für dich und deinen Glauben. Und jetzt willst du einen anderen Glauben unterdrücken? Einen Glauben, der deinem Bruder die nötige Kraft gibt, all das zu überleben?" 
Darnja sah verlegen zu Boden. Das stimmte. Sie war ihrem Bruder gegenüber genau so intolerant gewesen, wie die Dorfbewohner ihr gegenüber. 
"Ich verstehe dich." Sie drehte sich zu der Alten um und sah direkt in die grauen Augen der Alten. "Ich verstehe, was du mir sagen willst. Aber versuche niemals, niemals wieder mir etwas zu verschweigen oder mir das Denken zu untersagen." 
Kaum hatte sie das ausgesprochen, verschwand die Alte wieder, und Dunkelheit umgab sie.
*
Als sie aufwachte, spürte sie unter ihrem Kopf etwas weiches. Sie bewegte sich ein wenig und bemerkte, dass es Wynos Bauch war. Ihre Brüder hatten sie also gefunden, und in das Lager zurückgebracht. Suchend streckte sie ihren Arm aus und berührte Rygs Schulter. Er drehte sich zu ihr um und kam ihrem Gesicht so nahe, dass sie selbst in dem schwachen Licht der Feuerstelle sein Lächeln erkennen konnte. 
"Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Denn wenn du wirklich glaubst, dass die Beiden Völker nie etwas ohne Grund tun, muss ich das wohl respektieren." 
Er nickte, schwieg aber. Trotzdem spürte sie, wie sich die Verbindung zwischen ihnen wieder aufbaute. Es gab keinen Streit mehr. Und plötzlich spürte sie auch wieder ihre Verbundenheit mit der Erde. Doch sie war noch stärker geworden. Fast schien es ihr, als wäre sie selbst ein Teil dieser Erde. Alles Leben um sie herum konnte sie spüren. Selbst das kleinste Insekt tief unter ihnen, im kalten Wüstensand. 
"Darnja!" 
Erschrocken fuhr sie aus ihren Gedanken auf. 
"Die Sonne geht wieder auf!" 
Erstaunt sah sie auf. Und tatsächlich schob sich langsam über den Horizont der rote Streifen der ersten Strahlen.
"Das ist unser Zeichen! Die Maley sagten mir, dass wir im Reich der Sey unsere Wanderschaft fortsetzen müssen." 
Ryg war aufgeregt aufgesprungen. Das war erstaunlich. Sonst litt er nämlich sehr darunter, wenn die Maley wieder Land verloren hatten. Doch nun wirkte er wie elektrisiert. Und schon bald sprang der Funke der Begeisterung auch auf seine Geschwister über. Endlich würde es weitergehen. Und nun hoffentlich in eine bezeichnete Richtung. 
 
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Und schon geht's zum nächsten Kapitel: Die Steinwüste 6: Der Adler

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