Dorra von Veronika Keller
I - Die Steinwüste
6: Der Adler

"Bist du dir sicher, dass du deine Maley richtig verstanden hast?" 
Wyno sah seinen Bruder wütend an. Doch der nickte nur zuversichtlich und ging weiter. Wyno aber blieb kurz stehen, bis Darnja ihn eingeholt hatte, und sah sie dann zweifelnd an. "Seit seiner Vision ist er wie besessen. Und was hat es uns bisher gebracht? Schon seit fast drei Tagen steht die Sonne wieder am Himmel, und wir haben noch immer unser Ziel nicht erreicht. Oder haben wenigstens einen Weg aus dieser Wüste gefunden." 
Darnja legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. "Bitte, Wyno. Vertraue Ryg doch. Ich weiß, dass er kein Spurenleser ist. Aber es gibt hier auch keine Spuren. Das einzige, was wir haben, ist seine Vision." 
Wyno zog geräuschvoll die Luft zwischen seinen Zähnen ein. "Ich möchte mein Leben nicht in die Hände eines Träumers legen. Schon gar nicht in die eines Träumers, der sein Leben von den Maley geschenkt bekommen hat." 
Er rannte wütend nach vorne und fing wieder eine Diskussion mit seinem Bruder an. Darnja aber blieb einige Schritte hinter den beiden. Nicht etwa, weil sie mit deren Tempo nicht mithalten konnte. Aber sie ertrug die ewigen Streitereien zwischen den beiden nicht mehr. Ob sie gingen oder rasteten, aßen oder tranken. Immer fanden sie etwas, worüber sie sich uneins waren. Und bei jedem Streit verlangten sie von ihr, dass sie für einen ihrer Brüder Partei ergriff. Doch das konnte sie nicht. Sie liebte beide gleichermaßen – und beide waren ihr zur Zeit gleichermaßen unerträglich. So wollte sie lieber für sich alleine sein und ihre neue Verbundenheit zur Erde völlig auskosten. Es waren so viele neue Gefühle in ihr, dass sie ihr Inneres kaum ordnen konnte. Jedes Gras, jede Wurzel, jedes Tier sprach zu ihr, erzählte ihr von seinem eigenen winzigen Leben und dem großen Leben der Erde. 
Plötzlich wurde sie durch einen wütenden Schrei aus ihren Gedanken gerissen. Vor ihr sah sie, wie sich Ryg in diesem Moment wütend auf Wyno stürzte und ihn zu Boden riss. Sofort stürzte Darnja los, um ihre Brüder wieder auseinander zu bringen. Doch mitten in der Bewegung blieb sie stehen. Was sollte es. In einer Stunde würden sie sowieso wieder übereinander her fallen. Vielleicht sollten sie den Kampf endlich einmal zu Ende bringen. So ging sie einfach weiter, und versuchte krampfhaft, die Schmerzensschreie ihrer Brüder hinter sich zu überhören. Schließlich setzte sie sich mehrere Schritte von den beiden entfernt auf den Boden und stützte ihren schwer gewordenen Kopf in die Hände. All ihre Sorgen schienen sie zu erdrücken. Sie konnte kaum noch atmen, fühlte sich wie eine Gefangene ihres eigenen Körpers. Sie atmete einige Male tief ein und aus, aber das Gefühl wich nicht. 
Plötzlich hörte sie leise das knacken von Knochen und einen schmerzerfüllten Aufschrei. Sofort war sie auf den Beinen und lief zu ihren Brüdern. Die hatten sich inzwischen voneinander gelöst. Ryg stand keuchend über Wyno, der sich mit blutender Nase am Boden krümmte. Aber auch Ryg war übel zugerichtet, und offenbar war es sein Handgelenk, das geknackt hatte. Es hing völlig verdreht an seinem Arm. Zuerst starrte sie die beiden nur entsetzt an. Wie konnten die beiden sich nur so etwas antun. Fast wäre sie selbst auf ihre Brüder losgegangen. Doch dann presste sie nur stumm ihre Lippen zusammen, drehte sich um und ging langsam davon.
Ihre Brüder sahen sich betreten an. Dann ließ sich Ryg neben seinen Bruder auf den Boden fallen. Wyno wischte sich mit einer ungeduldigen Geste das Blut aus dem Gesicht und sah dann ein wenig entschuldigend auf Rygs verletzte Hand. 
"Wir haben es wohl diesmal übertrieben."
Ryg nickte nur still.
"Ich verstehe das nicht. So haben wir doch früher nicht gekämpft."
"Früher waren wir jünger und schwächer."
"Nein. Das ist es nicht. Ich fürchte, es liegt mehr in unseren ewigen Streitereien."
"Solch tiefgründigen Worte von dir zu hören, ist ja etwas ganz Neues."
Sofort holte Wyno aus, um seinen Bruder für diese spöttischen Wort zu bestrafen. Doch dann senkte er seine Hand wieder und meinte traurig: "Siehst du. Früher hätten wir uns wegen so einer Kleinigkeit doch nie geschlagen."
Lange saßen die beiden schweigend nebeneinander. Rygs Hand begann nun langsam zu schmerzen, und Wynos Nase war angeschwollen. 
"Wahrscheinlich sind wir es einfach nicht mehr gewöhnt, so lange ständig beisammen zu sein. Im Dorf lebten wir ja nicht einmal mehr in der selben Hütte, seit dem der Schamane mich angenommen hatte. Und hier draußen sind wir jetzt die einzigen Menschen."
"Gerade deswegen müssten wir uns doch gut verstehen. Wir brauchen einander dringender als jemals zuvor in unserem Leben."
Ryg zuckte mit den Schultern, und begann dann vorsichtig Wynos, blutende Nase abzutasten. Es schien nichts gebrochen zu sein. So schiente er mit Hilfe seines Bruders und zwei Hälften eines Pfeils von Darnja sein Handgelenk und versuchte möglichst den Schmerz, der sich inzwischen bereits auf seine Brust ausgebreitet hatte, und ihm das Atmen etwas schwer machte, zu vergessen. 
Schließlich halfen sich die beiden vorsichtig beim Aufstehen und folgten Darnja, die sich inzwischen schon weit von ihnen entfernt hatte, ohne sich auch nur einmal umzublicken. Die beiden riefen sie. Doch obwohl sie es sicher gehört hatte, ihre Ohren waren scharf wie die eines Acynox, ging sie nur stur gerade aus. Sie schien ihre Schritte sogar noch zu beschleunigen, bis sie beinahe lief.
Plötzlich hörte Wyno hinter sich einen gedämpften Aufprall. Erschrocken drehte er sich um. Ryg war ohnmächtig geworden. Er beugte sich zu seinem kleinen Bruder hinunter. Sein Gesicht war heiß und trocken, seine Lippen aufgesprungen und rissig. Sein Brustkorb hob und senkte sich zwar noch, aber in so unregelmäßigen Abständen, dass Wyno manchmal befürchtete, Ryg hätte das Atmen völlig aufgegeben. Was sollte er nur tun? Darnja musste zurück kommen. So legte er alles Bedauern, das er über den Kampf in sich trug, in seine Stimme, und rief nach ihr. Und diesmal hörte sie. Sie kam sogar so rasch in seine Richtung, als ob sie bereits von Rygs Zustand wüsste. Als sie ihre Brüder erreicht hatte, sagte sie noch immer kein Wort, beugte sich aber sofort über Ryg und untersuchte ihn mit ein paar geübten Handgriffen. Schließlich war auch sie eine Zeitlang Schülerin des Schamanen gewesen.
"Ryg muss sofort etwas Trinken und in den Schatten kommen. Vor uns liegt ein kleines Schlammloch, um das ein, zwei Bäume wachsen. Dort müssen wir ihn hinbringen."
Wyno nickte, legte dann all sein Gepäck beiseite und lud sich seinen Bruder auf die Schultern. Aber der Kampf schien ihm doch mehr als nur die Nase verletzt zu haben. Niemals hätte er geahnt, dass sein kleiner Bruder so kräftig zuschlagen könnte. Trotzdem versuchte er es weiter. Sein Brustkorb schmerzte, und das Gewicht seines Bruders ließ ihn kaum noch atmen. Bunte Punkte tanzen vor seinen Augen, und seine Beine begannen zu zittern. Plötzlich spürte er, wie ihm die Last von den Schultern genommen wurde. Erstaunt sah er durch den dunklen Schleier, der sich langsam vor sein Gesicht zu ziehen schien. Es war Darnja. Sie hatte Ryg auf ihre Arme genommen, und ging nun ohne auch nur ein wenig unter der Last zu wanken in die Richtung des kleinen Tümpels.
"Bleib hier. Ich hole dich und das Gepäck, wenn ich Ryg versorgt habe."
Wyno sah ihr erstaunt nach. Zäh war seine Schwester zwar schon immer gewesen. Aber niemals stark. Denn obwohl Ryg der kleinste der drei war, wog er sicherlich nicht viel weniger als Darnja selbst. Und sonst tat sie sich schon bei kleineren Gazellen schwer, sie auch nur zehn Schritte weit zu tragen.
"Nimm das Gepäck und gehe ihr nach."
Wyno sah erstaunt um sich, konnte jedoch niemanden erkennen. Trotzdem kam ihm diese Stimme bekannt vor.
"Auch du kannst mehr leisten, als die meisten anderen Thari. Nur hast du die Quelle deiner inneren Kräfte noch nicht entdeckt. Darnja schon."
Wyno erinnerte sich. Das war die Stimme des Sey aus seinem Traum. Er wartete noch auf eine weitere Anweisung, doch blieb nun alles stumm.
Seine Quelle der inneren Kräfte. An so etwas hatte er noch nie geglaubt. Er hatte seine Muskeln und seinen Kopf. Es gab nichts anderes. Und trotzdem. Was Darnja heute, und eigentlich auch schon in den ganzen letzten Tagen ihrer Suche geleistet hatte, war nicht nur durch Muskelkraft und Denken zu erklären. 
Plötzlich sah er das Bild von Laya vor Augen. Damals, auf dem Fest zum Beginn der Regenzeit, als sie mit ihren schweren, nassen Haaren auf ihn zu getreten war, ihn an der Hand genommen und dann in den Kreis der Tanzenden gezogen hatte. Damals hatte er sich gewünscht, dieses Fest würde niemals enden. Doch das Ende bedeutete hier einen Anfang. Noch in der selben Nacht teilten sie zum ersten Mal das Lager, und verbrachten von dieser Stunde an ihre gesamte Zeit gemeinsam. Und nun war alles vorbei. Nie wieder würde er ihre warme, dunkle Haut auf der seinen spüren, nie wieder ihr helles Lachen hören, nie wieder von ihr geschimpft werden, weil er schon wieder vergessen hatte, frisches Wasser und Holz zu holen. Es schien ihm, als wäre nun jegliche Kraft aus seinem Körper gewichen. Er war nur noch erfüllt von seinem Sehnen nach Laya. Wie nur würde er weiterleben können ohne sie? Was hatte es für einen Sinn, ohne sie weiterzuleben? Seine Zukunft hatte er nur mit ihr gesehen. Und nun, da sie nicht mehr da war, gab es doch für ihn keine Zukunft mehr.
"Wyno, kannst du gehen? Ich fürchte nämlich, dass ich nicht mehr die Kraft dazu habe, auch dich noch bis zur Wasserstelle zu tragen."
Er sah zu Darnja auf und nickte dann langsam. Sofort nahm sie ihm das Gepäck ab, hob es auf ihren Rücken und half ihm dann hoch. Wyno stützte sich auf sie. Er spürte, wie geschwächt sie inzwischen war. So versuchte er, sie möglichst wenig zu belasten, bis er sich nur noch zur Sicherheit auf sie stützte, um nicht zu stolpern. Aber auch Darnjas Schritte wurden immer unsicherer. Trotzdem hielt sie sich aufrecht und schleppte sich selbst und ihren Bruder durch die heiße Wüste. 
Inzwischen reagierte sie auf nichts mehr, was um sie herum geschah. Völlig von alleine bewegten sich ihre Beine, taten einen Schritt nach dem anderen. Sie hatte zwar bereits ein paar Hände voll Wasser getrunken, bevor sie zu Wyno zurückgekehrt war, doch hatte der ständig leicht wehende Wind ihr bereits wieder die Nase und den Mund mit feinem Sand gefüllt, und den Mund ausgetrocknet. Sie versuchte zu schlucken, gab es jedoch schließlich auf. Es war zu schmerzhaft.
Endlich sah sie durch die flimmernde Hitze vor ihnen die Wasserstelle mit den zwei verkrüppelten kleinen Bäumen, die wenigstens etwas Schatten spendeten. Wyno beschleunigte etwas seine Schritte, so dass sie kaum noch mithalten konnte. Trotzdem kämpfte sie sich weiter. Dort vorne gab es Wasser, Schatten und Ruhe. Wasser, Schatten und Ruhe. Ihre Gedanken überschlugen sich, wurden immer undeutlicher. Sie versuchte sich auf die drei Worte zu konzentrieren. Wasser, Schatten, Ruhe. Wasser, Schatten, Ruhe.
Sie spürte das kurze Gras unter ihren Füßen. Nur noch ein paar Schritte. Wasser, Schatten Ruhe. Sie konnte den Tümpel und die Bäume bereits riechen. Wasser, Schatten, Ruhe. Da löste sich Wyno von ihrer Schulter. Leicht schwankend ging er auf das Wasser zu, ließ sich davor auf die Knie fallen und schöpfte gierig mit beiden Händen das Wasser in sich hinein. Darnja wollte ihn warnen. Er durfte nicht zu schnell trinken. Aber kaum hatte sie den Gedanken gefasst, war er bereits wieder verflogen. Wasser, Schatten Ruhe. Noch einmal holte sie alle Kräfte, die ihr geblieben waren aus sich heraus, brachte das Gepäck zu dem provisorischen Lager, das sie um Rygs Lagerstätte herum in der vorherigen Eile errichtet hatte. Wasser! Sie schleppte sich zu der Wasserlache, wusch sich erst kurz den Sand vom Gesicht und versuchte dann unter Würgen etwas von dem dickflüssigen Wasser herunterzuschlingen. Sie spürte, wie mit dem Wasser auch kleine, spitze Sandkörner und Erde ihre Kehle hinunterrannen. Sie hustete kurz, nahm aber trotzdem noch einen Schluck und kroch dann auf die Bäume zu. Schatten! Ohne sich zu kümmern, wo sie lag, streckte sie ihren Körper aus und legte den angewinkelten Arm unter ihren Kopf. Ruhe. Ruhe.
*
Darnja erwachte von einem leisen Geräusch über ihr, und war sofort hellwach. Über ihnen schwebte ein riesiger Vogel. Sie beschirmte ihre Augen, um ihn besser zu erkennen, doch kannte sie diese Art nicht. Er sah ein wenig wie ein Geier aus, hatte aber einen kürzeren und befiederten Hals. Sie tastete bereits nach ihrer Schleuder, um ihn notfalls zu verscheuchen, falls er landen sollte. Doch er drehte nur weiter seine Kreise, stieß dann plötzlich einen schrillen Schrei aus und verschwand in Richtung Norden. 
Erleichtert ließ Darnja sich wieder auf das kurze Gras sinken. Sie war so schrecklich müde, und würde gerne noch ein wenig schlafen. Trotzdem drehte sie noch einmal den Kopf zu ihren Brüdern, bevor sie wegdöste. Der Schatten war inzwischen gewandert, es mochte kurz nach dem völligen Aufgang der Sonne sein, und Ryg lag nun völlig ungeschützt vor den Strahlen auf dem Leder, dass Darnja ihm gestern untergelegt hatte. Kurz sah sie zu Wyno, doch der schlief ungestört leicht an einem der beiden Bäume gelehnt. Sie würde ihn wecken müssen, oder Ryg alleine umbetten. Langsam erhob sie sich. 
Im ersten Moment glaubte sie, dass ihre Beine sie wohl niemals auch nur einen Augenblick aufrecht halten könnten. Sie schmerzten von der Zeh bis zur Hüfte hinauf, und ein Schritt brauchte eine ungemeine Willensanstrengung. Mit Hilfe ihrer Arme stemmte sie sich in die Höhe, und ging dann zu Ryg, immer wieder ein schmerzerfülltes Stöhnen unterdrückend. Doch langsam lockerten sich ihre Muskeln bereits wieder, und je mehr Schritte sie machte, desto leichter wurde es. 
Als sie Ryg erreichte, war der Schmerz fast völlig verschwunden. Tanzen wäre zwar noch immer unmöglich, aber zumindest Ryg würde sie jetzt in den Schatten ziehen können. Sie nahm das Leder, stemmte dann beide Beine in das kurze Gras, und verlagerte ihr Körpergewicht möglichst weit nach hinten. Und bereits nach kurzem Ziehen bewegte sich das Lager mit samt Ryg, und mit nur ein paar Schritten nach hinten hatte Darnja ihn da, wo er liegen sollte. Trotzdem würde sie ihn nicht ständig dem Schatten nachziehen können. Sie musste eine künstliche Überdachung schaffen. Wenn nur die Äste der beiden Bäume länger wären. Sie würden zu einer ganz natürlichen Überdachung zusammenwachsen.
Lange starrte Darnja auf die beiden Bäume. Plötzlich durchflutete sie ein unbändiges Gefühl des Lebens, das allen Pflanzen an diesem Wasserloch auszugehen schien. Alle Müdigkeit war aus ihrem Körper gewichen. Das reine Leben pulsierte durch ihre Adern, umgab sie und breitete sich immer weiter aus. Darnja schloss ihre Augen und sah, wie die Bäume anfingen zu wachsen. Zwar langsam, aber stetig. Immer weiter. Bald berührten sich die äußersten Zweige, verhakten sich ineinander und verwebten sich schließlich zu einem dichten, blätterumrankten Dach. 
Langsam öffnete sie ihre Augen wieder. Und was ihr wie eine Vision erschienen war, war Wirklichkeit geworden. Die beiden Bäume waren zu einem einzigen Baum mit zwei Stämmen zusammengewachsen. Ungläubig berührte sie die Blätter und Äste. Die Triebe waren jung und biegsam. Aber völlig real. Vorsichtig ließ sich Darnja auf den Boden nieder, legte sich auf den Rücken und starrte auf den Blätterhimmel hinauf. An den Ästen hatten sich inzwischen auch Knospen gebildet, die sich bald zu kleinen, gelben Blüten öffneten, wieder verdorrten und schließlich zu kleinen, blauen Beeren wurden. Ohne auch nur einmal darüber nachzudenken richtete sich Darnja etwas auf, griff nach einer der Beeren und steckte sie in den Mund. Sie war unglaublich süß und hinterließ im Mund ein leicht betäubendes Gefühl. 
Darnja legte sich wieder zurück, beobachtete, wie sich das Blätterdach sanft im schwachen Wüstenwind wiegte, und ließ sich schließlich davon wie ein kleines Kind in den Schlaf wiegen. 
*
Als sie nun zum zweiten Mal aufwachte, war die Sonne bereits weit untergegangen. Bald würde sie ihren tiefsten Stand erreicht haben.
Ryg lag noch immer so da, wie sie ihn zuvor bei Hochsonne niedergelegt hatte. Aber Wyno schien bereits kurz aufgewesen zu sein. Zumindest lagen die Wasserflaschen gefüllt neben ihr, und Wyno hatte sich so niedergebettet, dass zumindest sein Gesicht vom Schatten der kleinen Laube bedeckt war. 
Darnja nahm einige Schlucke aus der Flasche. Darin hatte sich in der Zeit, seit dem Wyno sie gefüllt hatte, bereits einiges des Sandes und der Erde im Wasser am Boden abgesetzt, und so schmeckte das Wasser relativ frisch. Zumindest fiel ihr das Schlucken nicht mehr ganz schwer.
Plötzlich hörte Darnja Flügel schlagen, und der große Vogel landete direkt vor ihrem Lager. Langsam zog sie ihre Schleuder, legte einen Stein ein, schoss jedoch noch nicht. Nur wenn er sie oder ihre Brüder direkt angriff hatte sie das Recht dazu, ihn zu verletzen oder sogar zu töten. Wenn er sich jedoch ruhig verhielt, hatte sie keinen Grund, sich zu verteidigen. Und der Vogel schien keinerlei Anstalten zu machen, sie angreifen zu wollen. Er stand einfach nur da und späte zu den dreien herein. Und als Darnja ihre Schleuder etwas sinken ließ, watschelte er näher, ohne jedoch seine Augen von Darnjas Händen zu lassen. Schließlich berührte er fast Rygs Füße mit seinem Bauch. Da blieb er stehen, krächzte leise, machte plötzlich einen Satz nach hinten und schwang sich wieder in die Lüfte hinauf.
Darnja sah ihm verwundert nach. Doch als sie zu dem Platz sah, an dem er vorher gestanden war, wurde ihr Erstaunen noch größer. Dort glitzerte es sanft in der nächtlichen Sonne. Sie griff hin, und hatte plötzlich ein Stück silbernes Gestein der Maley in der Hand. Es war oval und mit allerlei Zeichen übersäht, die sie nicht kannte. Eindeutig von den Beiden Völkern.
"Was hast du da?"
Ryg war inzwischen aufgewacht und sah Darnja interessiert über die Schulter. Sie zeigte ihm das Stück Silber. Sofort griff er danach und betrachtete es eingehend. Darnja holte eine der Wasserflaschen und hielt sie Ryg hin. Doch der wehrte nur ab.
"Wovon hast du das?"
"Ein merkwürdiger geierartiger Vogel hat es gerade hier liegen gelassen. Weißt du, was darauf steht?"
Ryg schüttelte den Kopf, stieß dann jedoch einen kurzen Pfiff aus wie immer, wenn er sehr überrascht war.
"Ein Zeichen kenne ich. Die beiden Kreise, die ineinander übergehen bedeuten Freundschaft. Es scheint, als hätte uns dieser Vogel seine Freundschaft angeboten."
Kurz nahm er nun doch von dem Wasser, ließ aber das ovale Gestein keinen Moment aus den Augen. Liebevoll drehte er es von einer Seite auf die andere, fuhr immer wieder mit den Fingern darüber. Alles um ihn herum schien vergessen. Selbst die Schmerzen in seinem Handgelenk.
Darnja strich ihm kurz lächelnd über das Haar. Dann erhob sie sich, trat unter dem Blätterdach hervor und machte sich daran, einige der Beeren zu pflücken. 
*
Darnja und Wyno standen wartend auf der kleinen Anhöhe neben dem Wasserloch, das in den letzten fünf Sonnenläufen ihr Ruheort gewesen war. Aber nun, da alle Wunden des Kampfes verheilt waren, und alle drei wieder etwas gestärkt waren, wollten sie weiter. Nur Ryg konnte sich noch nicht lösen. Er wartete auf den Vogel, den er inzwischen Dlanor, Greifer, genannt hatte, weil er ihnen immer wieder kurz vor und kurz nach dem völligen Sonnenaufgang eine kleine Maus oder Eidechse in seinen Klauen gebracht hatte. Stets war er dann dabei gesessen, während sie das Tier zubereitet hatten und mit den Beeren der beiden Bäume gegessen hatten. Erst wenn alles aufgegessen war, hatte er wieder seine riesigen Flügel aufgespannt und war davon geflogen.
Nur heute war er noch nicht erschienen. Ryg wollte sich verabschieden und bedanken, doch mussten sie los. Sie konnten schließlich nur während der kühleren Zeit der untergehenden Sonne weitergehen, und die war bereits angebrochen.
Wyno rief ungeduldig nach seinem Bruder, und obwohl Darnja Ryg nur zu gut verstehen konnte, drängte es auch sie, endlich aufzubrechen. Aber erst als sie ihn rief, nahm Ryg traurig sein Gepäck auf und folgte seinen Geschwistern.
Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie plötzlich den inzwischen schon so vertrauten Flügelschlag, gefolgt von zwei hellen Schreien, über sich hörte. Und wie aus einer Eingebung heraus blieb Ryg stehen, streckte seinen Arm aus und wartete geduldig, bis sich Dlanor langsam herunterschraubte, kurz über ihren Köpfen schwebte und sich dann ruhig auf Rygs Arm niederließ.
Wyno war überrascht, doch Darnja hatte das bereits kommen gesehen. In den letzten Sonnenläufen war ihr das Versprechen der Sey, dass sie ihnen Helfer schicken würden, immer wieder in den Sinn gekommen. Und Dlanor schien direkt von den Maley zu kommen. So lächelte sie kurz und meinte dann:
"Jetzt haben wir wohl unseren Führer. Hoffentlich zeigt er uns den kürzesten Weg, um zum doppelgipfligen Berg zu gelangen."
 
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Und schon geht's hier zum nächsten Kapitel: Das Tal 1: Die Gefiederte Schlange

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