Das Drachentor von Florian Großmann
1. Kapitel

Shiw war einer der gewaltigsten Drachen, die er je in Hirawa gesehen hatte. Von Flügelspitze zu Flügelspitze mussten es mindestens fünfzig Meter sein. In seinem Gesicht war purer Stolz zu sehen.
Shiw war ein Kampfdrache und vor einer halben Stunde erfolgreich von einer Schlacht zurückgekehrt. Die anderen Drachen wurden zu anderen Landeplätzen gelotst, wo sie dann Fressen und Trinken bekamen. Ihre Verletzungen heilten sie selber, durch ihre magischen Kräfte.
Jim sah, dass auch Shiw verletzt wurde. Ein langgezogener blutroter Strich erstreckte sich über seine gesamte rechte Flanke. Doch die magischen Kräfte in Shiw waren so gewaltig, dass dies nicht mehr als ein Kratzer für ihn sein konnte. Jim konnte sogar dabei zugucken, wie sich die Wunde immer schneller verkleinerte und neue geschuppte Haut entstand.
Jim war stolz auf sich, fast genau so stolz wie Shiw wohl auf sich war. Jim wurde die große Ehre zuteil, schon mit seinen vierzehn Jahren einen Kampfdrachen zu pflegen. Normalerweise musste man mindestens siebzehn sein und die allgemeine Schul- und Magielehrpflicht hinter sich haben. Nur die Krieger der Eliteeinheit "Drachenauge", so erzählt man sich, wurden schon sehr früh mit ihren zukünftigen Drachen vertraut gemacht.
Aber er, Jim, ein Krieger der Elite?
Nein, das konnte nicht sein. Er war der schlechteste Magielehrling, den Hirawa je gesehen hatte. Dauernd zerstörte er Schuleigentum, weil er mit seinen magischen Kräften nicht richtig umgehen konnte. Deshalb wurde er von den anderen oft gehänselt. Selbst die Lehrer verfluchten jeden Tag, an dem sie ihn unterrichten mussten. Doch daran hatte er sich gewöhnt. Wesentlich besser schnitt er beim Lesen, Rechnen und Drakonisch ab. Mit diesen drei Fächern machte er seine Magieschlappe wieder wett.
Shiw grunzte und Jim kam aus seiner Träumerei wieder zurück in die Wirklichkeit. Er wusste was Shiw wollte und so machte er sich schnellstens auf den Weg zum Stall von Öpou, dem Viehbesitzer.
Auf halben Weg traf er den Oberschulleiter Treverios. Schlitternd kam Jim zum Stehen und verbeugte sich vor ihm.
"Na, nicht so förmlich, junger Bursche, wir sind nicht in der Schule.", grüßte ihn Treverios freundlich.
"Guten Tag, Herr Oberschulleiter. Entschuldigen sie meine Eile, aber ich bin auf dem Weg zu Öpou. Ich betreue nämlich einen Kampfdrachen", hechelte Jim.
"So so. Wie kommt es, dass ein Bursche von deinem Alter einen Kampfdrachen betreuen darf?", fragte Treverios.
"Das weiß ich auch nicht so recht, Meister, aber heute morgen kam ein Briefläufer mit einem Brief für mich. Ein Brief mit dem Siegel des Drachens, in dem stand, dass ich ab heute den Drachen Shiw zu betreuen habe, wenn er vom Kampf zurückkehrt.", antwortete Jim wahrheitsgetreu.
Treverios sah ihn überrascht an. Dann eilte er, ohne ein weiteres Wort, hinfort, wahrscheinlich in die Universität.
Jim machte sich abermals auf den Weg und kam zehn Minuten später bei Öpou an. Dort kaufte er zwei alte Milchkühe von dem Geld, das er aus dem Brief hatte, und führte sie über die Allee wieder zum Landeplatz, wo Shiw schon ungeduldig wartete.
Jim sah weg als Shiw seinen Hunger stillte, er konnte es nicht mit ansehen wie die Kühe verspeist wurden. Doch es dauerte keine Minute bis Shiw fertig war, sein Maul öffnete und einen gewaltigen Feuerstoß ausspie, der Jim bestätigte, dass es ihm geschmeckt hat.
Jim betrachtete diesen erstaunlichen Drachen, glitt mit seinem Blick von dem gut mit Stacheln ausgerüsteten Schwanz über den gewaltigen, unglaublich langen Körper und blieb an einer Stelle des Rumpfes stehen. Das, was er da sah, konnte nur eine Narbe sein. Aber seit wann bekamen Drachen Narben?
Vorsichtig streckte Jim seine Hand aus und berührte die Stelle. Sie fühlte sich kalt an. Bei der Berührung fröstelte es Jim bis ins Mark und er schloss die Augen. Dann von einem Augenblick auf den anderen wurde er von einer Wärme durchströmt, die er noch nie erlebt hatte und als er die Augen wieder öffnete, war die Narbe verschwunden.
Shiw drehte seinen Kopf und blickte Jim direkt in die Augen. Was Jim darin sah, war nichts anderes als purer Stolz. Doch irgendwie schien es Jim, dass dieser Stolz nicht alleine Shiw selbst galt.
Eine gewaltige Explosion ließ ihn hochschrecken. Auch der Drache erhob sich, streckte seine Flügel aus und stieß sich ab, bevor sein Reiter, der es sich auf der Pritsche gemütlich gemacht hatte, wieder aufsitzen konnte. Jim folgte mit seinem Blick dem Drachen und was er da in der Ferne sah, ließ ihn zurücktaumeln.
 
© Florian Großmann
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Und schon geht's weiter zum 2. Kapitel...

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