Das Drachentor von Florian Großmann
7. Kapitel - von Elfenfeuer

Entsetzt riss Jim seine Augen auf und schaute verwirrt in die Runde. Zugleich warf er den Bogen, den er seit dem Kampf mit dem Illusionsdrachen gehalten hatte, in den Sand und griff nach seinem eigenen Schwert.
Doch der erfahrene Schwertmeister war viel schneller als Jim und hatte Stahldrache schon blankgezogen.
Mit einem verzweifelten Satz sprang Jim außer Reichweite, ließ sich zu Boden fallen und rollte sich seitwärts ab.
Über ihm durchschnitt Stahldrache die Luft, wo sich soeben noch Jims Hals befunden hatte.
"Wartet...!" schrie Jim verzweifelt, während seine Hand sich erneut um das Heft seines Schwertes legte.
Wortlos setzte Trickpa ihm nach und ließ Stahldrache wieder niedersausen. Panisch rollte Jim erneut zur Seite, dachte dieses Mal aber daran, sein eigenes Schwert während des Abrollens zu ziehen. In einer einzigen Bewegung glitt das polierte Kurzschwert aus der Scheide, während Jim den Schwung seiner Rolle dazu verwendete, um sich flink aufzurappeln.
Keinen Augenblick später fuhr Stahldrache zum dritten Mal auf ihn hinab. Jim riss seinen rechten Arm empor und parierte den mächtigen Hieb mit seinem Schwert.
Klirrend traf Stahl auf Stahl. Die Klingen glitten an einander ab und sangen ein kreischendes Lied. Jim erinnerte sich, dass Trickpa um Vieles stärker war als er und gab geschickt nach, um Stahldrache gefahrlos an seinem Schwert abgleiten zu lassen. Er durfte sich nicht auf einen Kräftevergleich mit dem Schwertmeister einlassen.
Leichtfüßig löste Jim sich von seinem Kontrahenten und sprang zurück.
"Was soll das?"
Ein wütendes Knurren war die Antwort, begleitet von einer wilden Serie tödlicher Schwerthiebe. Rechts, links, rechts. Ein Tiefschlag, der beinahe Jims Schienbein erwischt hätte, gefolgt von einem blitzschnellen Ausfallschritt und einem stählernen Blitz, der genau auf Jims Herz gerichtet war.
Jim reagierte instinktiv, bog seinen Oberkörper zurück und versuchte den tödlichen Stich mit seiner eigenen Klinge abzulenken.
Ein schmerzhafter Blitz durchfuhr ihn und sein linker Oberarm brannte, als hätte Jim in ein loderndes Feuer gegriffen.
Jim keuchte auf vor Schmerz. Was war das für ein Wahnsinn?
Dem Jungen blieb jedoch keine Zeit für weitere Überlegungen, denn schon setzte Trickpa gnadenlos nach.
Lass dem Feind keine Zeit zur Erholung, wenn du ihn in die Enge getrieben hast. Die Worte, die Trickpa ihm in den letzten Wochen immer und immer wieder eingebläut hatte, klangen jetzt wie Hohn. Jim wusste, dass sein Gegner wohl kaum seine eigenen Lehren vergessen hatte. Er würde nicht nachlassen.
Jim parierte zwei weitere Male die Hiebe des Schwertmeisters mit größter Not.
So konnte es nicht weitergehen. Früher oder später würde der Veteran ihn erwischen. Und dann kam er nicht mit einer einfachen Schnittwunde am Oberarm davon.
Ein drittes Mal in Folge gelang Jim die Parade. Ein viertes Mal aber nicht.
Trickpa hatte mit einer komplizierten Kombination aus seitwärts gerichteten Hieben, einer einfachen Finte und einem schnellen, heftigen Schlag auf Jims Klinge, der seinen Arm wuchtig nach außen fegte, Jims Körpermitte jeglicher Deckung entblößt. Verzweifelt riss Jim seine Hand nach links. Vielleicht konnte er den zweifelsfrei folgenden Stoß auf seinen Torso mit einer Quart parieren oder immerhin noch ein wenig ablenken. Doch seine Klinge fuhr durch Luft als der Schwertmeister erneut fintierte und mit einem Rückhandschlag Stahldrache in Jims rechten Unterarm rammte.
Gleißender Schmerz schoss durch Jims Arm in seinen Körper. Mit einem Aufschrei ließ Jim sein Schwert fallen und griff entsetzt nach seinem aufgeschlitzten Arm. Vom Handgelenk bis knapp unterhalb des Ellenbogens zog sich ein klaffender Schlitz der seine Haut aufgerissen hatte und in sein Muskelfleisch gedrungen war. Schon ergoss sich ein Bach seines Blutes aus der offenen Wunde.
Jim kämpfte darum, nicht vor Schock das Bewusstsein zu verlieren. Panisch taumelte er nach hinten, um dem tödlichen Biss von Stahldrache zu entkommen.
Er war erledigt.
Warum hatte sich der Schwertmeister nur gegen ihn gewandt? Wieso half Treverios ihm nicht? Was hatte er denn bloß getan, um den Zorn der beiden auf sich zu ziehen?
Aus tränenden Augen richtete Jim seinen Blick auf Kajlo Trickpa und sah nichts als pure Entschlossenheit. Fast meinte Jim zu erkennen, wie sich im Geist des erfahrenen Kriegers die nächsten Sekunden abspielten.
Ein schneller Schritt. Vielleicht noch einer, da der Junge sich noch immer zurückbewegt. Dann ein flinker Streich. Vermutlich wird der Junge mit einem Arm parieren und zurücktaumeln. Und dann erledige ich ihn.
"Nein!" keuchte Jim entsetzt, als sich diese Szene in seinem Kopf abspielte.
Er musste etwas tun!
Ihm blieb keine Zeit.
Nur was?
Trickpa näherte sich erneut, locker in seinen Beinen federnd und Stahldrache zum finalen Schlag erhoben.
"Murys inflammia!"
Sengende Hitze verbrannte Jim beinahe die Augenlider und er spürte, wie der Saum seines Waffenrocks an einigen Stellen in kleine Flammen gehüllt wurde. Jim hatte die sechs Fuß hohe Flammenwand, die wie aus dem Nichts zwischen Jim und dem Schwertmeister in die Höhe geschossen war, viel zu dicht an sich heran platziert.
Aber immerhin hielt sie ihm seinen einstigen Lehrmeister vom Leib.
Für den Moment, denn sie war in der Länge etwas kurz geraten. Schon tauchte Trickpa am rechten Ende der züngelnden Flammen auf.
Blitzschnell versuchte Jim zu überlegen, was als nächstes zu tun war. Eine andere Elementarwand vielleicht?
"Murys telluros!"
Sofort wölbte sich auf fast zwanzig Schritt Länge die Erde vor Jim auf. Sand, Stein und Erde wuchsen förmlich aus sich selbst heraus, um einen massiven Erdwall zu bilden. Doch Jim hatte die blitzschnelle Auffassungsgabe des Schwertmeisters unterschätzt.
Noch während sich die Bausteine des Übungsplatzbodens sich auftürmten, sah Jim wie Trickpa zu einem hohen Sprung ansetzte. Es gelang dem Krieger zwar nicht, sofort über die sich ständig weiter in die Höhe wachsende Brüstung zu kommen, aber Jim sah, wie Trickpa sich an der Brüstung festhielt und langsam hochzog.
In Kürze würde sein Gegner ihm wieder kampfbereit gegenüber stehen.
"Murys inflammia!" rief Jim zu zweiten Mal und fuhr dabei mit seinen Händen eine weite Linie parallel zu dem von ihm errichteten Erdwall.
Wieder schossen Flammen in die Höhe, allerdings dieses Mal in zwei Schritt Abstand, so dass Jim nicht schon wieder die brennende Hitze des elementaren Feuer am eigenen Leib zu spüren bekam.
Und mit der Wand verschwand zunächst auch Trickpa, der inzwischen von dem Erdwall hinabgesprungen war, aus seinem Blickfeld.
Jim hatte etwas Zeit gewonnen und sah sich um.
Die Flammenwand erstreckte sich auf über zwanzig Schritt Länge über den Übungsplatz und trennte nicht nur Jim von Trickpa sondern auch von allen anderen Menschen auf dem Hof.
Sein rechter Arm pochte und erinnerte ihn daran, dass Kampf keine Option mehr war. Er musste fliehen. Aber wie?
"Ieeyahh!"
Der trotzige Ausruf ließ Jim zusammenzucken. Gebannt blickte er in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Wie das Kaninchen vor der Schlange.
Erst schemenhaft, dann ziemlich deutlich, zeichnete sich eine Gestalt ab, die sich von außen auf die Flammenwand zu bewegte. Fasziniert und entsetzt beobachtete Jim wie Kajlo Trickpa durch die große Flammenwand sprang und noch im Abrollen einen mächtigen Schwertfeger über den Boden gleiten ließ.
"Du entkommst deinem Schicksal nicht!" rief der Schwertmeister Jim zu.
Dieser löste sich endlich aus seiner Erstarrung und reagierte instinktiv.
"Alsutempesta!" schrie Jim in höchster Not.
Einen sich aufweitenden Kegel bildend, schossen Eiskristalle aus seinen Fingern. Ein klirrend kalter Hauch schlug Jim entgegen, benetzte seine Hände und seine Arme bis hin zu den Schultern und umgab sie mit einem brennenden Kokon aus Kälte. Die Masse der Kristalle flog auf den Schwertmeister zu, der sich mit einem mächtigen Sprung aus dem Zentrum des Kältekegels brachte.
Ein Teil der Kegels erwischte ihn dennoch. Zu seinem Glück bekam er unverhoffte Hilfe.
Trickpas Sprung durch die Flammenwand hatte ihn nicht allzu weit auf deren Nähe gebracht. Und so traf Feuer auf Eis. Zischend schmolz ein Großteil der Eiskristalle noch in der Luft bevor sie, Wurfsternen gleich, die Kleidung und die Haut der Schwertmeisters zerfetzen konnten. Dafür erhob sich dampfend und zischend eine breite Wolke aus kondensiertem Wasser zwischen den beiden Kontrahenten und verbarg ihre Blicke erneut voreinander.
Jim schüttelte erschrocken den Kopf.
Irrsinn. Fast hätte er den Schwertmeister getötet oder zumindest ernsthaft verletzt. Aber wieso erleichterte ihn das? Trachtete Trickpa nicht nach seinem Leben?
"Bei allen Drachen!" erscholl zeitgleich die kraftvolle Stimme des Schwertmeisters durch die Nebelwolke.
Jim erwartete, dass Trickpa sich gleich wieder durch den Nebel auf ihn stürzen würde. Wie lange konnte er das Unvermeidliche hinauszögern.
Er blickte auf seine Hände hinab und entdeckte zu seinem Entsetzen, dass die glitzernde Eishaut ihn daran hinderte, seine Arme unterhalb der Schultern zu bewegen. Gleichzeitig wurde er sich des beißenden Schmerzes bewusst, der von dem kalten Netz ausging und langsam in seine Haut fuhr. Er war verloren, wenn er nicht einen geeigneten Gegenzauber fand.
Wie schmolz man noch schnell Eis? Oder doch versuchen, mit einer Flamme das Eis zu lösen? Nein, dabei würde er sich vermutlich nur selbst abfackeln.
Ich muss leben.
Ja, leben. Leben war gut!
Jim schloss die Augen, was ihm sichtlich schwer fiel, angesichts der noch immer zischenden Dampfwolke und dem dahinter verborgenen Schwertmeister.
Entspann dich, lass los. Werde Eins mit dir und der Natur. Lass deinen Sinnen freien Lauf und alle Störungen hinter dir!
Wer hatte ihm das gesagt? Richtig, Treverios.
Und Jim ließ los und wurde Eins mit sich selbst und seiner Umgebung. Er spürte, wie sein Herz aufgeregt schlug, wie seine Muskeln vor Anspannung zitterten, wie sein Blut durch enge Gefäße rauschte und dort, wo das eisige Netz seinen klammen Griff auf ihn gelegt hatte, ins Stocken geriet.
Leben war Energie. Und Energie war Wärme.
"Animus calida sanguitta"; murmelte Jim beinahe in Trance. Schlagartig wurde ihm aus seinem eigenen Inneren warm. Wärmer. Heiß!
Schmerzerfüllt schrie Jim auf, als sein Blut für einen Bruchteil von einem Herzschlag kochte und seinen Körper zu sprengen drohte.
Dann kam er wieder zu Sinnen.
Jim bewegte seine Finger. Es hatte geklappt!
Begeistert schluchzte Jim auf und hätte die Welt umarmen können. Ja, umarmen war genau das richtige, denn er konnte seine Glieder wieder frei bewegen.
Nur war niemand in der Nähe, den er hätte umarmen können.
Außer Kajlo Trickpa.
Der Schwertmeister hatte in der Zwischenzeit die sich langsam zurückziehende Nebelwolke durchquert und stand nun in unmittelbarer Schlagreichweite von Jim.
Jim schloss die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken und schrie verzweifelt: "Warum?"
"Weil es dein Schicksal ist, Jim."
Jim keuchte auf. "Ich habe mich nicht darum beworben."
Trickpa zuckte bedauernd die Schulter. "Das Schicksal benötigt keine Einladung. Ganz gleich, wohin du gehst, es wird dich immer einholen. Vergiss das nie."
Jim schüttelte benommen den Kopf. Es war aussichtslos. Wenn dies sein Schicksal war, dann sollte es eben so sein. Leider schien sein Schicksal nicht mehr viel mit ihm vorzuhaben. Der Kampf, die Verwundungen und nicht zuletzt die ungezügelte Magie, hatten ihn bis ins Innerste ausgelaugt.
Es würde für Trickpa jetzt ein Leichtes sein, das Werk zu vollenden. Schon hob er seine Schwerthand.
In Zeitlupe verfolgte Jim, wie Stahldrache auf ihn niederstieß.
"Flamma..." krächzte er mit letzter Kraft. "Inflammia veparia."
Die lodernde Flammenklinge, die Jim mit einem Mal in der Hand hielt, drohte ihm die Haut von seinen Fingern zu brennen.
"Levantha pace!"
Treverios' Stimme schnitt laut und befehlend über den Übungsplatz. Jim wurde von einer unsichtbaren Macht zurückgeschleudert und fiel ermattet zu Boden.
"Genug!" rief Treverios hastig. "Der Junge hat genug erlitten für heute."
Jim traute seinen Ohren kaum. Genug gelitten? Für heute?
Weitere Rufe erreichten sein Gehöhr und drangen in seinen erschöpften Geist.
"Trickpa, bei allem was heilig ist, ihr hättet den Jungen beinahe getötet". Das musste Yaa sein.
"Alle Achtung, der Bursche hat es in sich."
"Bei allen Drachen, dieser Test wird in die Geschichte eingehen."
Von allen Seiten strömten Menschen zu Jim. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Eisnebel und die Flammenwand sich auflösten, als Treverios weitere Worte der Macht sprach.
Dann kniete Kajlo Trickpa neben ihm.
"Verzeih mir, Jim. Du hast soeben deinen dritten Test - und somit auch den ganzen Test - bestanden. Aber du solltest noch ein wenig üben, deine Kräfte besser zu beherrschen und gezielter einzusetzen."
Jim lächelte schwach.
"Dann bin ich jetzt ein Krieger?"
Trickpa lächelte. Treverios gesellte sich zu ihm, ebenso wie der kleine Yaa, der ganz aufgeregt sich um Jims Verletzungen kümmerte.
"Nicht nur das. Hörst du das Kreischen?"
Jim lauschte. Ja, jetzt konnte er es hören. Er hatte es bis jetzt nur einmal in dieser Form gehört. Damals, während der Flucht aus Hirawa, als die Drachen miteindander kämpften.
"Werden wir angegriffen?"
Treverios schüttelte ernsthaft den Kopf.
"Nein, Jim. Die Drachen kämpfen um das Privileg, dir als Reittier dienen zu dürfen."
 
7. Kapitel: © Elfenfeuer
Anfangs-Story: © Florian Großmann
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Und schon geht's weiter zum 8. Kapitel...

An dieser Geschichte darf jeder, der möchte, mitschreiben!
Genauere Infos dazu stehen am Ende des neuesten Kapitels.

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