Die Stunde der Meisteringenieure von Imladros
3. Kapitel: Die Straße nach Hamarsburg

Seit der Gebirgspfad einen Knick nach Südwesten gemacht hatte, hatte sich das Wetter merklich gebessert. Die Schneestürme kamen nur noch vereinzelt, und der Wind drückte die kleine Gruppe nun sanft gegen die Felsen, statt wie bisher zu versuchen, sie in die Tiefe zu reißen. Migdo hatte seine Fäuste in das dicke Fell des Kamels gekrallt, um sich im Sattel halten zu können. Sein Arm schmerzte noch immer, obwohl mehrere heilende Salben auf die Wunde aufgetragen worden waren, die der Dunkelelb ihm zugefügt hatte.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er das Tier, das vor seinem eigenen durch den Schnee stapfte und auf dessen Rücken eine rege Unterhaltung stattfand. Zurgin Muspelmeister und der in eine dicke Schicht Büffelfelle gehüllte Vulgoblin Xergi saßen nebeneinander auf den breiten Schultern des Tieres und redeten angeregt miteinander, wie sie es eigentlich immer taten, seit sie von Kel Utaz aus aufgebrochen waren. Der aschgraue kleine Widerling hatte sich in einer von Zurgins Satteltaschen versteckt und war erst zum Vorschein gekommen, als dieser bei dem Kampf im Talposten in Lebensgefahr geriet. Seitdem hatte er sich bei dem alten Meisteringenieur angebiedert und ihn Löcher in den Bauch gefragt über ein kleines magisches Kunststück, das er im Talposten vollführt hatte.
"Und dieses Pyrolit, das ist ein...?" schnatterte der Goblin gerade.
Der alte Zwerg gab Antwort, aber der Wind trug seine Stimme fort.
"Oooooh!" gab Xergi umgehend zurück. "Das ist ja hoch interessant...!"
Migdo verdrehte die Augen und konzentrierte sich wieder auf sein Kamel. Zwar war es noch immer durch Seile mit Zurgins Tier vor ihm und Kijenas, das das Schlusslicht bildete, verbunden, aber der Pfad war mittlerweile so schmal, dass auch er selbst immer wieder zu den Zügeln greifen musste, um nicht abzustürzen. Wer immer ihm erzählt hatte, Hochlandkamele würden sich im Gebirge blind zurechtfinden, hatte offenbar nie auf einem gesessen...
"Migdo!" hallte es plötzlich von hinten zu ihm herüber. Er sah zurück und erkannte Kijena, die ihr Tier abzubremsen begonnen hatte und ihm Zeichen gab, dasselbe zu tun. Hastig wandte er sich nach vorne, griff nach dem Verbindungsseil und zog kräftig daran. Zurgins Kamel reagierte mit einem wütenden Blöken, seine Reiter dagegen hielten nun ebenfalls an und gaben das Haltesignal nach vorn weiter, so dass nach wenigen Sekunden der ganze Zug zum Stehen kam.
Malcolm Kelmatson sprang von seinem Tier und balancierte vorsichtig, dabei aber erstaunlich schnell, den Pass entlang. Nach kurzer Zeit hatte er Migdos Tier erreicht, bei dem sich auch Kijena eingefunden hatte. "Was ist los?" fragte er gereizt. "Willst du uns umbringen?"
Sie schüttelte nur den Kopf und deutete auf einen Punkt in weiter Ferne vor ihnen, der größtenteils von dichten Wolken verdeckt war. Der Pfad führte dort, auf der ihnen abgewandten Seite einer weiten Talsohle, um die südlichsten Ausläufer des Gebirgsabschnitts herum, an dem sie sich entlang bewegten, um dahinter nach Norden zur Zitadelle von Hamarsburg abzubiegen.
"Kannst du es erkennen?" fragte Kijena.
Malcolms Augen formten sich zu schmalen Schlitzen, nach einigen Sekunden nickte er.
Migdo dagegen versuchte vergeblich, zwischen den weißen Schleiern etwas zu erkennen – so gut die Augen der Zwerge in der Dunkelheit unter der Erde waren, so schlecht waren sie beim Betrachten ferner Dinge. "Was ist da unten?" fragte er schließlich.
"Eine große Gruppe von Reitern", erklärte Kijena. "Mindestens vierzig, wahrscheinlich sogar wesentlich mehr, alle auf Kamelen."
Der junge Zwerg schluckte und spielte nervös an seinem Bart herum. "Und... sind das Leute aus eurer Zitadelle?"
"Gut möglich. Aber wir können nicht sicher sein", gab die Kriegerin zurück, und an Malcolm gewandt: "Sind wir nahe genug für das Signal?"
Der hoch gewachsene Anführer der kleinen Gruppe sah in die Ferne und schien einen Moment lang seine Chancen abzuschätzen. Schließlich schüttelte er den Kopf und ging in Richtung seines Kamels davon. Die anderen taten es ihm wenige Sekunden später nach, obwohl zumindest Migdo nicht wirklich wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Kurz darauf setzte ihre kleine Karawane sich wieder in Bewegung, um das Tal zu umrunden, auf dessen anderer Seite sich die Unbekannten näherten.

-

Leutnant Kyleon bremste sein schneeweißes Kamel ein wenig und lenkte es um einen scharfkantigen Feldstein herum, der vor ihm auf dem Pfad lag. Im Vorbeireiten versetzte er ihm einen kräftigen Tritt mit seinem Stiefel, der den kleinen Felsen über den Rand des natürlichen Simses und in die Tiefe stürzen ließ. Er verfluchte zum tausendsten Mal den Tag, an dem dieser verfluchte Kristall zerbrochen war...
Seine rechte Hand, Feldwebel Humbert, schloss zu ihm auf und wollte sein Tier neben das seines Vorgesetzten lenken, obwohl der Pass dafür eindeutig zu schmal war. "Ich höre dich auch, wenn du hinter mir reitest", meinte er halblaut, damit die Männer hinter ihnen nicht mithören konnten.
"Entschuldigung", ließ der jüngere Mann vernehmen. "Ich wollte nur..."
"...Abstand zwischen den Offizieren und den einfachen Soldaten schaffen?" unterbrach Kyleon ihn. "Ja, ich kenne die komischen Vorschriften, die sie dir in der Ausbildung eingetrichtert haben. Aber wenn du die Wahl hast, ein paar Vorschriften zu umgehen oder in einen zweitausend Fuß tiefen Abgrund zu stürzen, solltest du eigentlich wissen, wo die Prioritäten liegen." Trotz des heulenden Windes glaubte er, seinen Stellvertreter schlucken zu hören. "Also, was willst du?"
"Ligarth sagt, wir nähern uns einem Punkt, an dem wir mit einem Hinterhalt rechnen müssen: eine Reihe von Felsvorsprüngen und Rissen, in denen sich Feinde verbergen könnten."
Nun horchte der Hauptmann auf. Er hatte wirklich keine Lust, sich vor Erreichen ihres Ziels auf Kämpfe einzulassen. "Hol mir Ligarth hierher... und die Männer sollen ihre Waffen bereithalten - unter ihren Mänteln."
"Jawohl, Sir", rief Humbert lauter als nötig und ließ sich zurückfallen.
In den nächsten Minuten gingen deutliche Veränderungen in der Karawane von berittenen Soldaten vor: Alle saßen ein wenig aufrechter im Sattel, ihre Hände bewegten sich unter ihrer Kleidung, ihre Blicke wanderten nervös an den vereisten Felswänden auf und ab. Ein Außenstehender hätte es kaum wahrgenommen, aber die Truppe bereitete sich auf einen Kampf vor.
Etwa eine halbe Stunde später näherten sie sich der angegebenen Stelle, an der mehrere tiefe Risse das massive Gestein durchzogen. Teile der Felswand waren heraus gebrochen und formten bizarre Vorsprünge und Auswüchse. Kyleon gab seinem Stellvertreter einen Wink, worauf dieser einen kleinen Jagdbogen und einen noch kleineren Pfeil mit einer Verdickung in der Mitte aus seinem Umhang zog. Fragend sah er seinen Hauptmann an. Dieser nickte, worauf Humbert ein altes Zwergenfeuerzeug aus seiner Tasche zog und den Pfeil entzündete. Ohne Zögern zielte er auf einen Punkt oberhalb der Felsspalten und ließ das Geschoß von der Sehne springen.
Der winzige Lichtpunkt vollzog einen Bogen durch die Luft, schlug gegen das Gestein und explodierte in einem grellroten Feuerregen.
"Uäääähh!!!" krächzte eine blecherne Stimme, dann hüpfte eine kleine, graue Figur hinter einem der gezackten Vorsprünge hervor und begann, auf dem schmalen Pfad einen wilden Tanz zu vollführen, wobei sie von einem Bein aufs andere sprang und sich die winzigen Glutpartikel vom Kopf und von den Schultern zu wischen versuchte. "Das kann doch nicht wahr sein! Verdammter Mist, verfluchter...!"
"Ein Dunkelelb", rief Humbert und sprang vor, aber Kyleon packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. "Mach dich nicht lächerlich", meinte er und nickte in Richtung der kreischenden und gackernden Kreatur. "Wenn das ein Dunkelelb ist, bin ich die Königin von Lurria."
Die beiden Männer betrachteten das Schauspiel einen Moment, bevor der Hauptmann mit gezogenem Schwert von seinem Reittier stieg und auf den Vulgoblin zuging.
"Hallo, kleines Männchen", meinte er, unweigerlich schmunzelnd. "Was treibt dich in dieses unbequeme Klima?"
Der Goblin betrachtete ihn mit seinen kleinen, pechschwarzen Augen und knurrte: "Ich fliehe vor verrückt gewordenen Soldaten, die unschuldige Leute mit Brandpfeilen beschießen!"
"Bist du allein?"
"Nein", ertönte es aus einigen Metern Entfernung, dann trat ein hochgewachsener Mensch mit schulterlangem, blondem Haar ins Freie. "Ich habe ihn als Späher vorausgeschickt."
Kyleon und Humbert sahen ihn überrascht an und neigten dann fast gleichzeitig die Häupter. "Mylord", sagte der Hauptmann respektvoll.

-

Nachdem der Rest von Malcolms Gruppe die Felsspalten erreicht hatten, stellte er dem Hauptmann und seinen Männern die Zwerge vor und ordnete eine kurze Rast an. Migdo stellte erstaunt fest, dass die Krieger Malcolm mit tiefstem Respekt behandelten, fast wie das Mitglied einer königlichen Familie.
"Gut, dass wir euch treffen, Kyleon", sagte er gerade. "Kel Utaz ist vom Feind überrannt worden und..."
"Ich weiß, Mylord", fuhr der Offizier dazwischen. "Deswegen sind wir hier. Einer der Männer vom Talposten hat überlebt und uns zu Hilfe gerufen. Wir haben den Auftrag, den Pass zu kontrollieren und Kel Utaz wieder einzunehmen."
Malcolm führte sie alle ein Stück von den anderen Soldaten weg, dann wandte er sich zu Kyleon um. "Was genau ist passiert?"
"Ligarth sagt, die Dunkelelben hätten mit ihren Angriffen begonnen, zwei Tage nachdem Ihr fort wart", gab der Hauptmann zurück. "Sie haben sie zurückgeschlagen, und dann hat Hauptmann Harbert zwei Männer, Ligarth und einen seiner Kameraden, zu uns geschickt, um Hilfe zu holen. Die beiden wurden auf dem Weg angegriffen, der andere Mann wurde getötet. Ligarth war verletzt und kehrte um, musste aber feststellen, dass der Talposten bereits überrannt worden war. Dann schleppte er sich in Richtung Hamarsburg, bis ihn eine unserer Patrouillen fand."
"Zwei Tage", meinte Kijena zu Malcolm. "Hättest du nicht darauf bestanden, früher weiterzureisen, wären wir mitten in den Überfall auf Kel Utaz geraten."
Er sah sie an und nickte nur nachdenklich.
"Wie dem auch sei", meinte Kyleon derweil. "Wir werden den Talposten wieder einnehmen und verstärken. Meister Lugerto hat uns einen kleinen Schutzkristall mitgegeben, den wir in die Flamme des Wachlichts legen sollen. Er wird die Dunkelelben fern halten."
"Nicht für lange, wenn es uns nicht gelingt, das Problem an den großen Steinen von Hamarsburg zu finden", sagte Malcolm. Eine unbequeme Stille trat ein, niemand in der Gruppe wagte es, zu sprechen. Bis auf den einen, von dem niemand einen Kommentar zu hören wünschte.
"Also", quengelte Xergi, "wäre es dann nicht besser, wenn wir uns schnell auf den Weg machen?"
"Obwohl es mir widerstrebt, das zuzugeben," wand Malcolm ein, "der Goblin hat Recht. Könnt ihr ein paar Männer entbehren, die uns zur Zitadelle begleiten?"
"Selbstverständlich, Mylord", sagte der Hauptmann und gab seinem Feldwebel einen Wink, woraufhin dieser sich abwandte und zu den anderen Soldaten zurückkehrte. "Da ist noch etwas." Malcolm und Zurgin sahen ihn fragend an.
"Die Schutzkristalle... es ist noch einer von ihnen ausgefallen."
 

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Und schon geht es weiter zum 4. Kapitel: Die Zitadelle

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