Seit der Gebirgspfad einen Knick nach Südwesten
gemacht hatte, hatte sich das Wetter merklich gebessert. Die Schneestürme
kamen nur noch vereinzelt, und der Wind drückte die kleine Gruppe
nun sanft gegen die Felsen, statt wie bisher zu versuchen, sie in die Tiefe
zu reißen. Migdo hatte seine Fäuste in das dicke Fell des Kamels
gekrallt, um sich im Sattel halten zu können. Sein Arm schmerzte noch
immer, obwohl mehrere heilende Salben auf die Wunde aufgetragen worden
waren, die der Dunkelelb ihm zugefügt hatte.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete
er das Tier, das vor seinem eigenen durch den Schnee stapfte und auf dessen
Rücken eine rege Unterhaltung stattfand. Zurgin Muspelmeister und
der in eine dicke Schicht Büffelfelle gehüllte Vulgoblin Xergi
saßen nebeneinander auf den breiten Schultern des Tieres und redeten
angeregt miteinander, wie sie es eigentlich immer taten, seit sie von Kel
Utaz aus aufgebrochen waren. Der aschgraue kleine Widerling hatte sich
in einer von Zurgins Satteltaschen versteckt und war erst zum Vorschein
gekommen, als dieser bei dem Kampf im Talposten in Lebensgefahr geriet.
Seitdem hatte er sich bei dem alten Meisteringenieur angebiedert und ihn
Löcher in den Bauch gefragt über ein kleines magisches Kunststück,
das er im Talposten vollführt hatte.
"Und dieses Pyrolit, das ist ein...?" schnatterte
der Goblin gerade.
Der alte Zwerg gab Antwort, aber der Wind
trug seine Stimme fort.
"Oooooh!" gab Xergi umgehend zurück.
"Das ist ja hoch interessant...!"
Migdo verdrehte die Augen und konzentrierte
sich wieder auf sein Kamel. Zwar war es noch immer durch Seile mit Zurgins
Tier vor ihm und Kijenas, das das Schlusslicht bildete, verbunden, aber
der Pfad war mittlerweile so schmal, dass auch er selbst immer wieder zu
den Zügeln greifen musste, um nicht abzustürzen. Wer immer ihm
erzählt hatte, Hochlandkamele würden sich im Gebirge blind zurechtfinden,
hatte offenbar nie auf einem gesessen...
"Migdo!" hallte es plötzlich von hinten
zu ihm herüber. Er sah zurück und erkannte Kijena, die ihr Tier
abzubremsen begonnen hatte und ihm Zeichen gab, dasselbe zu tun. Hastig
wandte er sich nach vorne, griff nach dem Verbindungsseil und zog kräftig
daran. Zurgins Kamel reagierte mit einem wütenden Blöken, seine
Reiter dagegen hielten nun ebenfalls an und gaben das Haltesignal nach
vorn weiter, so dass nach wenigen Sekunden der ganze Zug zum Stehen kam.
Malcolm Kelmatson sprang von seinem Tier und
balancierte vorsichtig, dabei aber erstaunlich schnell, den Pass entlang.
Nach kurzer Zeit hatte er Migdos Tier erreicht, bei dem sich auch Kijena
eingefunden hatte. "Was ist los?" fragte er gereizt. "Willst du uns umbringen?"
Sie schüttelte nur den Kopf und deutete
auf einen Punkt in weiter Ferne vor ihnen, der größtenteils
von dichten Wolken verdeckt war. Der Pfad führte dort, auf der ihnen
abgewandten Seite einer weiten Talsohle, um die südlichsten Ausläufer
des Gebirgsabschnitts herum, an dem sie sich entlang bewegten, um dahinter
nach Norden zur Zitadelle von Hamarsburg abzubiegen.
"Kannst du es erkennen?" fragte Kijena.
Malcolms Augen formten sich zu schmalen Schlitzen,
nach einigen Sekunden nickte er.
Migdo dagegen versuchte vergeblich, zwischen
den weißen Schleiern etwas zu erkennen – so gut die Augen der Zwerge
in der Dunkelheit unter der Erde waren, so schlecht waren sie beim Betrachten
ferner Dinge. "Was ist da unten?" fragte er schließlich.
"Eine große Gruppe von Reitern", erklärte
Kijena. "Mindestens vierzig, wahrscheinlich sogar wesentlich mehr, alle
auf Kamelen."
Der junge Zwerg schluckte und spielte nervös
an seinem Bart herum. "Und... sind das Leute aus eurer Zitadelle?"
"Gut möglich. Aber wir können nicht
sicher sein", gab die Kriegerin zurück, und an Malcolm gewandt: "Sind
wir nahe genug für das Signal?"
Der hoch gewachsene Anführer der kleinen
Gruppe sah in die Ferne und schien einen Moment lang seine Chancen abzuschätzen.
Schließlich schüttelte er den Kopf und ging in Richtung seines
Kamels davon. Die anderen taten es ihm wenige Sekunden später nach,
obwohl zumindest Migdo nicht wirklich wusste, wie es jetzt weitergehen
sollte. Kurz darauf setzte ihre kleine Karawane sich wieder in Bewegung,
um das Tal zu umrunden, auf dessen anderer Seite sich die Unbekannten näherten.
-
Leutnant Kyleon bremste sein schneeweißes
Kamel ein wenig und lenkte es um einen scharfkantigen Feldstein herum,
der vor ihm auf dem Pfad lag. Im Vorbeireiten versetzte er ihm einen kräftigen
Tritt mit seinem Stiefel, der den kleinen Felsen über den Rand des
natürlichen Simses und in die Tiefe stürzen ließ. Er verfluchte
zum tausendsten Mal den Tag, an dem dieser verfluchte Kristall zerbrochen
war...
Seine rechte Hand, Feldwebel Humbert, schloss
zu ihm auf und wollte sein Tier neben das seines Vorgesetzten lenken, obwohl
der Pass dafür eindeutig zu schmal war. "Ich höre dich auch,
wenn du hinter mir reitest", meinte er halblaut, damit die Männer
hinter ihnen nicht mithören konnten.
"Entschuldigung", ließ der jüngere
Mann vernehmen. "Ich wollte nur..."
"...Abstand zwischen den Offizieren und den
einfachen Soldaten schaffen?" unterbrach Kyleon ihn. "Ja, ich kenne die
komischen Vorschriften, die sie dir in der Ausbildung eingetrichtert haben.
Aber wenn du die Wahl hast, ein paar Vorschriften zu umgehen oder in einen
zweitausend Fuß tiefen Abgrund zu stürzen, solltest du eigentlich
wissen, wo die Prioritäten liegen." Trotz des heulenden Windes glaubte
er, seinen Stellvertreter schlucken zu hören. "Also, was willst du?"
"Ligarth sagt, wir nähern uns einem Punkt,
an dem wir mit einem Hinterhalt rechnen müssen: eine Reihe von Felsvorsprüngen
und Rissen, in denen sich Feinde verbergen könnten."
Nun horchte der Hauptmann auf. Er hatte wirklich
keine Lust, sich vor Erreichen ihres Ziels auf Kämpfe einzulassen.
"Hol mir Ligarth hierher... und die Männer sollen ihre Waffen bereithalten
- unter ihren Mänteln."
"Jawohl, Sir", rief Humbert lauter als nötig
und ließ sich zurückfallen.
In den nächsten Minuten gingen deutliche
Veränderungen in der Karawane von berittenen Soldaten vor: Alle saßen
ein wenig aufrechter im Sattel, ihre Hände bewegten sich unter ihrer
Kleidung, ihre Blicke wanderten nervös an den vereisten Felswänden
auf und ab. Ein Außenstehender hätte es kaum wahrgenommen, aber
die Truppe bereitete sich auf einen Kampf vor.
Etwa eine halbe Stunde später näherten
sie sich der angegebenen Stelle, an der mehrere tiefe Risse das massive
Gestein durchzogen. Teile der Felswand waren heraus gebrochen und formten
bizarre Vorsprünge und Auswüchse. Kyleon gab seinem Stellvertreter
einen Wink, worauf dieser einen kleinen Jagdbogen und einen noch kleineren
Pfeil mit einer Verdickung in der Mitte aus seinem Umhang zog. Fragend
sah er seinen Hauptmann an. Dieser nickte, worauf Humbert ein altes Zwergenfeuerzeug
aus seiner Tasche zog und den Pfeil entzündete. Ohne Zögern zielte
er auf einen Punkt oberhalb der Felsspalten und ließ das Geschoß
von der Sehne springen.
Der winzige Lichtpunkt vollzog einen Bogen
durch die Luft, schlug gegen das Gestein und explodierte in einem grellroten
Feuerregen.
"Uäääähh!!!" krächzte
eine blecherne Stimme, dann hüpfte eine kleine, graue Figur hinter
einem der gezackten Vorsprünge hervor und begann, auf dem schmalen
Pfad einen wilden Tanz zu vollführen, wobei sie von einem Bein aufs
andere sprang und sich die winzigen Glutpartikel vom Kopf und von den Schultern
zu wischen versuchte. "Das kann doch nicht wahr sein! Verdammter Mist,
verfluchter...!"
"Ein Dunkelelb", rief Humbert und sprang vor,
aber Kyleon packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. "Mach
dich nicht lächerlich", meinte er und nickte in Richtung der kreischenden
und gackernden Kreatur. "Wenn das ein Dunkelelb ist, bin ich die Königin
von Lurria."
Die beiden Männer betrachteten das Schauspiel
einen Moment, bevor der Hauptmann mit gezogenem Schwert von seinem Reittier
stieg und auf den Vulgoblin zuging.
"Hallo, kleines Männchen", meinte er,
unweigerlich schmunzelnd. "Was treibt dich in dieses unbequeme Klima?"
Der Goblin betrachtete ihn mit seinen kleinen,
pechschwarzen Augen und knurrte: "Ich fliehe vor verrückt gewordenen
Soldaten, die unschuldige Leute mit Brandpfeilen beschießen!"
"Bist du allein?"
"Nein", ertönte es aus einigen Metern
Entfernung, dann trat ein hochgewachsener Mensch mit schulterlangem, blondem
Haar ins Freie. "Ich habe ihn als Späher vorausgeschickt."
Kyleon und Humbert sahen ihn überrascht
an und neigten dann fast gleichzeitig die Häupter. "Mylord", sagte
der Hauptmann respektvoll.
-
Nachdem der Rest von Malcolms Gruppe die Felsspalten
erreicht hatten, stellte er dem Hauptmann und seinen Männern die Zwerge
vor und ordnete eine kurze Rast an. Migdo stellte erstaunt fest, dass die
Krieger Malcolm mit tiefstem Respekt behandelten, fast wie das Mitglied
einer königlichen Familie.
"Gut, dass wir euch treffen, Kyleon", sagte
er gerade. "Kel Utaz ist vom Feind überrannt worden und..."
"Ich weiß, Mylord", fuhr der Offizier
dazwischen. "Deswegen sind wir hier. Einer der Männer vom Talposten
hat überlebt und uns zu Hilfe gerufen. Wir haben den Auftrag, den
Pass zu kontrollieren und Kel Utaz wieder einzunehmen."
Malcolm führte sie alle ein Stück
von den anderen Soldaten weg, dann wandte er sich zu Kyleon um. "Was genau
ist passiert?"
"Ligarth sagt, die Dunkelelben hätten
mit ihren Angriffen begonnen, zwei Tage nachdem Ihr fort wart", gab der
Hauptmann zurück. "Sie haben sie zurückgeschlagen, und dann hat
Hauptmann Harbert zwei Männer, Ligarth und einen seiner Kameraden,
zu uns geschickt, um Hilfe zu holen. Die beiden wurden auf dem Weg angegriffen,
der andere Mann wurde getötet. Ligarth war verletzt und kehrte um,
musste aber feststellen, dass der Talposten bereits überrannt worden
war. Dann schleppte er sich in Richtung Hamarsburg, bis ihn eine unserer
Patrouillen fand."
"Zwei Tage", meinte Kijena zu Malcolm. "Hättest
du nicht darauf bestanden, früher weiterzureisen, wären wir mitten
in den Überfall auf Kel Utaz geraten."
Er sah sie an und nickte nur nachdenklich.
"Wie dem auch sei", meinte Kyleon derweil.
"Wir werden den Talposten wieder einnehmen und verstärken. Meister
Lugerto hat uns einen kleinen Schutzkristall mitgegeben, den wir in die
Flamme des Wachlichts legen sollen. Er wird die Dunkelelben fern halten."
"Nicht für lange, wenn es uns nicht gelingt,
das Problem an den großen Steinen von Hamarsburg zu finden", sagte
Malcolm. Eine unbequeme Stille trat ein, niemand in der Gruppe wagte es,
zu sprechen. Bis auf den einen, von dem niemand einen Kommentar zu hören
wünschte.
"Also", quengelte Xergi, "wäre es dann
nicht besser, wenn wir uns schnell auf den Weg machen?"
"Obwohl es mir widerstrebt, das zuzugeben,"
wand Malcolm ein, "der Goblin hat Recht. Könnt ihr ein paar Männer
entbehren, die uns zur Zitadelle begleiten?"
"Selbstverständlich, Mylord", sagte der
Hauptmann und gab seinem Feldwebel einen Wink, woraufhin dieser sich abwandte
und zu den anderen Soldaten zurückkehrte. "Da ist noch etwas." Malcolm
und Zurgin sahen ihn fragend an.
"Die Schutzkristalle... es ist noch einer
von ihnen ausgefallen."
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