Dudelsack und Vogelfedern von Latsi
4. Kapitel: Unter den Hügeln

Vor dem plätschernden Brunnen blieben die beiden künftigen Reisegefährten stehen. Konstantin setzte das Hündchen mit dem ernsten Befehl "Sitz!" auf den Boden, an den es sich zwar nicht hielt, aber da es sich damit begnügte, um den Brunnen herumzuwieseln und ab und zu an dem überfließenden Wasser zu lecken, ließ sein Herrchen es dabei bewenden. Statt dessen widmete er sich ganz der gerade erstandenen Karte. Der Versuch, sie aufzuklappen, ließ ihn zunächst vermuten, er habe aus Versehen keine Karte, sondern ein Zelt gekauft, aber schließlich gelang es ihm mit Ferdinands Hilfe, das Ding auf dem Boden auszubreiten. Gespannt beugten sich beide darüber.
"Oh", war das Einzige, was Ferdinand zu dem einfiel, was er sah.
Konstantin dagegen war empört. "Der hat mich behumpst! Das gibt's doch nicht!"
Ferdinand schüttelte energisch den Kopf. "Nee, Elmar ist zwar ein Gauner, aber für das hier kann er nichts", dabei strich er leicht über die glatte, grüne Fläche auf der Karte, die nur durch den Schriftzug Dunkelwald etwas aufgelockert wurde. "Denkt doch mal nach: niemand, der in den Dunkelwald gegangen ist, kam bisher zurück. Wie kann da eine Karte existieren?"
Konstantin seufzte. "Wo Ihr recht habt, habt Ihr recht. Na, dann müssen wir eben ohne Karte durchkommen. - Seid Ihr schon reisefertig?"
Der andere nickte eifrig. "Muss nur noch meinen Rucksack holen. Moment!"

Fünf Minuten später waren sie auf dem Weg, der sich zunächst durch hügeliges Grasland schlängelte und ab und zu einen Blick auf das in der Nachmittagssonne dahindösende Städtchen erlaubte. Ferdinand schien diese Blicke einigermaßen wehmütig zu genießen, so dass Konstantin kein Gespräch anfing, sondern seinem Reisegefährten die Zeit zum Abschiednehmen ließ.
Lange blieb sie ihm aber trotzdem nicht vergönnt, denn auf einmal begann das Hündchen schrill zu kläffen und hinter etwas Schnellem, Braungrauem herzurennen, das sich durch die Haken, die es auf seiner Flucht durch das Hügelland schlug, als Kaninchen auswies. Konstantins Rufe nützten natürlich nichts, also blieb ihm nichts anderes übrig, als laut schimpfend hinter ihm herzulaufen. Ferdinand folgte ebenfalls nach. Sie rannten und rannten, und dann, gerade als Konstantin völlig erschöpft aufgeben wollte, verschwand das Kaninchen in einem Loch, und sie blieben schnaufend darüber stehen, während das Hündchen hinter ihm herbuddelte. Konstantin war völlig fertig, und anscheinend bekam er vom Laufen auch Kreislaufprobleme, denn er hatte das Gefühl, als bewege sich der Boden unter ihm. Im nächsten Augenblick gab dieser allerdings sehr real nach, und die beiden Männer stürzten in einem Regen aus Erdklümpchen in das Kaninchenloch hinab. Das Hündchen guckte einen Moment verwirrt, dann sprang es kurz entschlossen seinem Herrchen hinterher.
"Au, mein Bauch! Blöder Köter!" Mit diesen im Kaninchenbau nachhallenden Worten Ferdinands wurde es unten empfangen. Einen Augenblick lagen sie alle drei ruhig da, dann richtete sich Konstantin plötzlich auf und bemerkte: "Moment mal! Wie kann es bitte in einem Kaninchenbau ein Echo geben? Und überhaupt, eigentlich dürfte ich doch hier nicht so aufrecht sitzen können - also, wenn das hier ein Kaninchenbau ist, dann muss er sehr großen Kaninchen gehören!"
"Ihr habt recht", sagte Ferdinand, der sich nun auch aufsetzte, "Hier stimmt was nicht!"
Die beiden sahen sich an, dann krabbelten sie, Ferdinand voran, den Gang abwärts, in den sie gefallen waren. Die Wände des Tunnels bestanden aus sauber geglättetem Erdreich, und er war so hoch, dass sie bequem auf allen Vieren durchkriechen konnten. Allerdings wurde es, je tiefer sie vordrangen, immer dunkler, und bald konnte man überhaupt nichts mehr erkennen. Langsam tasteten sie sich voran. Es roch muffig.
Plötzlich hielt Ferdinand so abrupt an, dass Konstantin auf ihn auflief.
"Was ist denn?" fragte er flüsternd.
"Diese Kriecherei ist Gift für meine Bandscheiben. Das kann bleibende Schäden hervorrufen!"
"Aha", machte Konstantin, "Und was gedenkt Ihr jetzt zu tun? Zurückkriechen? Oder weiterkriechen? Kriechen müsst Ihr auf jeden Fall!"
Ferdinand seufzte, konnte sich dieser Logik aber nicht verschließen. Also krabbelte er weiter. Nach wenigen Metern stellte er fest, dass links von ihm die Wand aufhörte. Er tastete nach vorn und berührte Erde - der Gang bog also tatsächlich ab. Er wandte sich nach links - und vergaß vor Freude ganz seine Bandscheiben: in einiger Entfernung leuchtete ein Licht, das Ende des Tunnels! Das Hündchen sprang auf Konstantins Rücken, von dort auf den Ferdinands, dem daraufhin die Bandscheiben wieder einfielen, und wieder auf den Boden, um auf das Licht zuzurennen. Doch als es dort angekommen war, hörten die beiden Menschen, die schließlich nicht so schnell waren, einige scharf gesprochene Worte, und kurz darauf kam ein kleiner, braunweißer Blitz zurück, um bei seinem Herrchen Trost zu suchen.
"Scheint nicht gerade freundlich zu sein, da vorn! Was machen wir jetzt?" flüsterte Konstantin. Ferdinand zuckte nur mit den Schultern und begann weiterzukrabbeln.

"Halt! Keinen Schritt - äh - Zentimeter weiter! Ihr befindet euch auf geheiligtem Staatsgebiet IhrerKöniglichenMajestätDesHerrschersDiesesHügels! Wer seid ihr, und was ist euer Begehr?!"
Ferdinand und Konstantin starrten verblüfft den Wachtposten vor dem Tor (denn als solches hatte sich die Quelle des Lichtes entpuppt) an, nicht wegen seiner Worte, obwohl der heruntergeleierte, trotzdem bei jedem Wort betonte Titel sicher beeindruckend genug war. Noch beeindruckender fanden sie aber die seltsame Uniform, die der Soldat trug: einen vollständig blauweiß karierten Anzug, eine ebenso blauweiß karierte Mütze mit Ohrenklappen, blauweiß karierte Schuhe und sogar blauweiß karierte Socken, die zwischen den Schuhen und der zu kurzen Hose hervorblitzten. Konstantin wunderte sich direkt, dass die Hellebarde in seiner Hand nicht auch kariert war.
"Also, was ist jetzt?" fragte der Wächter nun.
"Ach so, äh", fing Ferdinand an, aus seinen Betrachtungen herausgerissen, "Ja, eigentlich... wollten wir zum König. Unsere Namen sind Konstantin und Ferdinand."
Konstantin sah ihn erstaunt an. Was sollten sie nur bei diesem König? Und während sie jetzt von einem anderen Wachsoldaten - von dem ersten herbeigerufen und ebenso blaukariert - in einen weiteren Gang hinein geführt wurden, der zwar leider genauso groß bzw. klein war wie der, durch den sie bisher gekommen waren, aber mit verschnörkelten Mustern verziert, gingen ihm mehrere Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Zunächst fiel ihm erst jetzt auf, dass der Soldat aufrecht durch den Gang ging, während sie immer noch kriechen mussten. Außerdem fragte er sich, ob wohl der Hügelkönig selbst auch so kariert war und was für Absurditäten sie hier in seinem Reich noch erwarten mochten. Vor allem aber beschäftigte ihn eine Frage: Wozu, um des lieben Gänseblümchens Willen, wollte Ferdinand zu diesem König? Irgendeinen Grund musste er doch gehabt haben, als er dem Wächter nicht sagte, dass sie eigentlich nur zufällig hier waren! Je länger er darüber nachdachte, desto mysteriöser wurde ihm sein Reisegefährte. Was wollte er eigentlich auf der anderen Seite des Dunkelwaldes? Bruchstücke der Unterhaltung, der er unfreiwillig gelauscht hatte, als er sein Hündchen verfolgte, gingen ihm durch den Kopf. Von einer Mission hatte Ferdinand da geredet, von seiner Bestimmung... Mit ganz neuer Hochachtung betrachtete Konstantin den vor ihm herschiebenden Hintern. Bestimmt verbarg sich hinter dieser Mission ein Geheimnis, wahrscheinlich ging es darum, die Welt zu retten oder so etwas. Vielleicht wollte der Mutige sogar irgendeine Verzauberung lösen oder einen Drachen erlegen... Konstantin beschloss, seinen Weggefährten nicht nach seinem Auftrag zu fragen, denn in der Regel durften solche Helden sowieso nicht darüber sprechen.
Inzwischen waren sie vor einer großen, reichgeschmückten Tür angekommen, deren beiden Flügel sich nun weit öffneten und sie - immer noch unter Führung des Soldaten oder Dieners - einließ in einen großen Raum, wahrscheinlich den Thronsaal. Die beiden Gäste konnten sich (zum Glück für Ferdinands Bandscheiben) endlich aufrichten und standen nun beeindruckt da - mehr oder weniger, Konstantin musste sehr an sich halten, um nicht laut loszulachen, als er die blauweiß karierte Tapete an den Wänden bemerkte. Immer im Abstand von etwa anderthalb Metern wurde sie allerdings von großen Ölgemälden verdeckt, richtigen Wimmelbildern, auf denen lauter kleine Männchen irgendwelche Arbeiten verrichteten, die weder Konstantin noch Ferdinand näher bestimmen konnten. Sie gingen nun weiter durch den langgestreckten Saal, und erst als sie sich nur noch wenige Meter vom Thron entfernt befanden, entdeckte unser Dudelsackpfeifer ihn - denn der Thron war ebenfalls kariert: er war von der hohen Lehne bis zu den Beinen mit eckig geschliffenen Saphiren und Bergkristallen besetzt. Und darauf saß tatsächlich ein kleiner, dürrer König mit einem - wie sollte es anders sein - blauweiß karierten Mantel, einer goldenen Krone und mit weißer Spitze besetzten Stiefeln, die ihm bis über die Knie reichten.
"Tretet näher", sagte er jetzt mit einer unangenehm quietschigen Stimme, "Ihr befindet euch in DerHalleDesHügelkönigs. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. Was wünscht ihr? Sicher den Hügelzoll bezahlen. Kein Problem, liebe Leute, wendet euch vertrauensvoll an meinen Finanzminister, der wird euch euer Geld gern abnehmen. - Diener", er schnippte mit den Fingern einen der an der Seite aufgereihten Blaukarierten herbei, "führe diese Herren in Zimmer hundertfünfzehn."
"Aber nein, aber nein, wir wollen nicht - äh, nicht nur den Zoll bezahlen, wir wollten gern mit Euch reden, Eure Hochwohlgeborene Majestät, mit Eurer gütigen Erlaubnis. Wir - also, wir möchten durch den Dunkelwald, um auch auf der anderen Seite Eurer Königlichen Hoheit Stärke und Großmut zu rühmen. Denn Ihr seid ja schließlich überall in unserem Lande als großer und herrlicher König bekannt, und damit auch die Unglücklichen, die Euch nicht einmal kennen, bald in Scharen zu..."
"Nun komm doch endlich zur Sache, Mensch! Was wollt Ihr?" unterbrach der König Ferdinands Redefluss, der einen Augenblick ganz perplex war, weil er nun anscheinend ganz umsonst so viel und vor allem so viel Blödsinn von sich gegeben hatte, was eigentlich gar nicht seiner Art entsprach, dann antwortete er: "Tja, wir wollten Euch eigentlich nur um einen Reisepass bitten, irgendeine Empfehlung an andere Könige oder sowas."
"Danke, das war wenigstens kurz und bündig. So eine Empfehlung könnt ihr bekommen, aber ihr müsst euch natürlich erst mal bei mir empfehlen. - Diener, bring die Herren in Zimmer achtundneunzig. Sie sollen dort saubermachen."
So wurden sie also wieder einmal von einem blaukarierten Diener durch Tunnel geleitet, in denen sie nicht aufrecht gehen konnten, bis sie endlich an der Tür von Raum Nummer achtundneunzig angekommen waren. Der Diener öffnete sie, und unsere beiden Helden, denen schon Schrubber, Putzlappen und Eimer in die Hand gedrückt worden waren, sahen - etwas, was sie lieber nicht gesehen hätten: Der Raum war so verdreckt, dass man schon Augiasstall damit hätte spielen müssen, um ihn in kürzerer Zeit als mindestens vier Tagen sauber zu bekommen. Der Diener blieb auf der Schwelle stehen und grinste.
"Was machen wir denn jetzt?" flüsterte Ferdinand.
"Wenn ich das wüsste... Wie kamt Ihr aber auch auf diese idiotische Idee mit den Pässen?"
"Naja, es ist doch so gefährlich im Dunkelwald, und da kann so eine Empfehlung manchmal Wunder wirken", erwiderte Ferdinand recht kleinlaut.
"Also schön, dann machen wir uns mal an die Arbeit. Vielleicht fällt uns ja auch irgendein Trick ein... in normalen Märchen werden solche Aufgaben doch immer mit irgendeiner List gelöst. Oder irgendwelche Tiere, denen vorher geholfen wurde, revanchieren sich."
Ferdinand stellte den Eimer ab. "Tja, also das mit den Tieren können wir wohl vergessen, denn ich glaube kaum, dass das Kaninchen von vorhin so besonders glücklich darüber war, dass Euer Hund es gehetzt hat, und das war das einzige Tier, das wir getroffen haben."
Konstantin zuckte die Achseln. Der Diener schloss die Tür; im selben Augenblick hörten die beiden ein kratzendes Geräusch in der Wand, und ehe sie überhaupt darüber nachdenken konnten, was die Ursache dafür sein könnte, brach ein kleines Stück des Erdgewölbes nahe dem Boden, und der Kopf eines Kaninchens schaute hindurch.
"Tagchen", sagte es, "haltet bitte den Hund fest."
 

© Latsi
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Und schon geht es weiter zum 5. Kapitel: Kaninchen

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