Vor dem plätschernden Brunnen blieben
die beiden künftigen Reisegefährten stehen. Konstantin setzte
das Hündchen mit dem ernsten Befehl "Sitz!" auf den Boden, an den
es sich zwar nicht hielt, aber da es sich damit begnügte, um den Brunnen
herumzuwieseln und ab und zu an dem überfließenden Wasser zu
lecken, ließ sein Herrchen es dabei bewenden. Statt dessen widmete
er sich ganz der gerade erstandenen Karte. Der Versuch, sie aufzuklappen,
ließ ihn zunächst vermuten, er habe aus Versehen keine Karte,
sondern ein Zelt gekauft, aber schließlich gelang es ihm mit Ferdinands
Hilfe, das Ding auf dem Boden auszubreiten. Gespannt beugten sich beide
darüber.
"Oh", war das Einzige, was Ferdinand zu dem
einfiel, was er sah.
Konstantin dagegen war empört. "Der hat
mich behumpst! Das gibt's doch nicht!"
Ferdinand schüttelte energisch den Kopf.
"Nee, Elmar ist zwar ein Gauner, aber für das hier kann er nichts",
dabei strich er leicht über die glatte, grüne Fläche auf
der Karte, die nur durch den Schriftzug Dunkelwald etwas aufgelockert
wurde. "Denkt doch mal nach: niemand, der in den Dunkelwald gegangen ist,
kam bisher zurück. Wie kann da eine Karte existieren?"
Konstantin seufzte. "Wo Ihr recht habt, habt
Ihr recht. Na, dann müssen wir eben ohne Karte durchkommen. - Seid
Ihr schon reisefertig?"
Der andere nickte eifrig. "Muss nur noch meinen
Rucksack holen. Moment!"
Fünf Minuten später waren sie auf
dem Weg, der sich zunächst durch hügeliges Grasland schlängelte
und ab und zu einen Blick auf das in der Nachmittagssonne dahindösende
Städtchen erlaubte. Ferdinand schien diese Blicke einigermaßen
wehmütig zu genießen, so dass Konstantin kein Gespräch
anfing, sondern seinem Reisegefährten die Zeit zum Abschiednehmen
ließ.
Lange blieb sie ihm aber trotzdem nicht vergönnt,
denn auf einmal begann das Hündchen schrill zu kläffen und hinter
etwas Schnellem, Braungrauem herzurennen, das sich durch die Haken, die
es auf seiner Flucht durch das Hügelland schlug, als Kaninchen auswies.
Konstantins Rufe nützten natürlich nichts, also blieb ihm nichts
anderes übrig, als laut schimpfend hinter ihm herzulaufen. Ferdinand
folgte ebenfalls nach. Sie rannten und rannten, und dann, gerade als Konstantin
völlig erschöpft aufgeben wollte, verschwand das Kaninchen in
einem Loch, und sie blieben schnaufend darüber stehen, während
das Hündchen hinter ihm herbuddelte. Konstantin war völlig fertig,
und anscheinend bekam er vom Laufen auch Kreislaufprobleme, denn er hatte
das Gefühl, als bewege sich der Boden unter ihm. Im nächsten
Augenblick gab dieser allerdings sehr real nach, und die beiden Männer
stürzten in einem Regen aus Erdklümpchen in das Kaninchenloch
hinab. Das Hündchen guckte einen Moment verwirrt, dann sprang es kurz
entschlossen seinem Herrchen hinterher.
"Au, mein Bauch! Blöder Köter!"
Mit diesen im Kaninchenbau nachhallenden Worten Ferdinands wurde es unten
empfangen. Einen Augenblick lagen sie alle drei ruhig da, dann richtete
sich Konstantin plötzlich auf und bemerkte: "Moment mal! Wie kann
es bitte in einem Kaninchenbau ein Echo geben? Und überhaupt,
eigentlich dürfte ich doch hier nicht so aufrecht sitzen können
- also, wenn das hier ein Kaninchenbau ist, dann muss er sehr großen
Kaninchen gehören!"
"Ihr habt recht", sagte Ferdinand, der sich
nun auch aufsetzte, "Hier stimmt was nicht!"
Die beiden sahen sich an, dann krabbelten
sie, Ferdinand voran, den Gang abwärts, in den sie gefallen waren.
Die Wände des Tunnels bestanden aus sauber geglättetem Erdreich,
und er war so hoch, dass sie bequem auf allen Vieren durchkriechen konnten.
Allerdings wurde es, je tiefer sie vordrangen, immer dunkler, und bald
konnte man überhaupt nichts mehr erkennen. Langsam tasteten sie sich
voran. Es roch muffig.
Plötzlich hielt Ferdinand so abrupt an,
dass Konstantin auf ihn auflief.
"Was ist denn?" fragte er flüsternd.
"Diese Kriecherei ist Gift für meine
Bandscheiben. Das kann bleibende Schäden hervorrufen!"
"Aha", machte Konstantin, "Und was gedenkt
Ihr jetzt zu tun? Zurückkriechen? Oder weiterkriechen? Kriechen müsst
Ihr auf jeden Fall!"
Ferdinand seufzte, konnte sich dieser Logik
aber nicht verschließen. Also krabbelte er weiter. Nach wenigen Metern
stellte er fest, dass links von ihm die Wand aufhörte. Er tastete
nach vorn und berührte Erde - der Gang bog also tatsächlich ab.
Er wandte sich nach links - und vergaß vor Freude ganz seine Bandscheiben:
in einiger Entfernung leuchtete ein Licht, das Ende des Tunnels! Das Hündchen
sprang auf Konstantins Rücken, von dort auf den Ferdinands, dem daraufhin
die Bandscheiben wieder einfielen, und wieder auf den Boden, um auf das
Licht zuzurennen. Doch als es dort angekommen war, hörten die beiden
Menschen, die schließlich nicht so schnell waren, einige scharf gesprochene
Worte, und kurz darauf kam ein kleiner, braunweißer Blitz zurück,
um bei seinem Herrchen Trost zu suchen.
"Scheint nicht gerade freundlich zu sein,
da vorn! Was machen wir jetzt?" flüsterte Konstantin. Ferdinand zuckte
nur mit den Schultern und begann weiterzukrabbeln.
"Halt! Keinen Schritt - äh - Zentimeter
weiter! Ihr befindet euch auf geheiligtem Staatsgebiet IhrerKöniglichenMajestätDesHerrschersDiesesHügels!
Wer seid ihr, und was ist euer Begehr?!"
Ferdinand und Konstantin starrten verblüfft
den Wachtposten vor dem Tor (denn als solches hatte sich die Quelle des
Lichtes entpuppt) an, nicht wegen seiner Worte, obwohl der heruntergeleierte,
trotzdem bei jedem Wort betonte Titel sicher beeindruckend genug war. Noch
beeindruckender fanden sie aber die seltsame Uniform, die der Soldat trug:
einen vollständig blauweiß karierten Anzug, eine ebenso blauweiß
karierte Mütze mit Ohrenklappen, blauweiß karierte Schuhe und
sogar blauweiß karierte Socken, die zwischen den Schuhen und der
zu kurzen Hose hervorblitzten. Konstantin wunderte sich direkt, dass die
Hellebarde in seiner Hand nicht auch kariert war.
"Also, was ist jetzt?" fragte der Wächter
nun.
"Ach so, äh", fing Ferdinand an, aus
seinen Betrachtungen herausgerissen, "Ja, eigentlich... wollten wir zum
König. Unsere Namen sind Konstantin und Ferdinand."
Konstantin sah ihn erstaunt an. Was sollten
sie nur bei diesem König? Und während sie jetzt von einem anderen
Wachsoldaten - von dem ersten herbeigerufen und ebenso blaukariert - in
einen weiteren Gang hinein geführt wurden, der zwar leider genauso
groß bzw. klein war wie der, durch den sie bisher gekommen waren,
aber mit verschnörkelten Mustern verziert, gingen ihm mehrere Dinge
gleichzeitig durch den Kopf. Zunächst fiel ihm erst jetzt auf, dass
der Soldat aufrecht durch den Gang ging, während sie immer noch kriechen
mussten. Außerdem fragte er sich, ob wohl der Hügelkönig
selbst auch so kariert war und was für Absurditäten sie hier
in seinem Reich noch erwarten mochten. Vor allem aber beschäftigte
ihn eine Frage: Wozu, um des lieben Gänseblümchens Willen, wollte
Ferdinand zu diesem König? Irgendeinen Grund musste er doch gehabt
haben, als er dem Wächter nicht sagte, dass sie eigentlich nur zufällig
hier waren! Je länger er darüber nachdachte, desto mysteriöser
wurde ihm sein Reisegefährte. Was wollte er eigentlich auf der anderen
Seite des Dunkelwaldes? Bruchstücke der Unterhaltung, der er unfreiwillig
gelauscht hatte, als er sein Hündchen verfolgte, gingen ihm durch
den Kopf. Von einer Mission hatte Ferdinand da geredet, von seiner Bestimmung...
Mit ganz neuer Hochachtung betrachtete Konstantin den vor ihm herschiebenden
Hintern. Bestimmt verbarg sich hinter dieser Mission ein Geheimnis, wahrscheinlich
ging es darum, die Welt zu retten oder so etwas. Vielleicht wollte der
Mutige sogar irgendeine Verzauberung lösen oder einen Drachen erlegen...
Konstantin beschloss, seinen Weggefährten nicht nach seinem Auftrag
zu fragen, denn in der Regel durften solche Helden sowieso nicht darüber
sprechen.
Inzwischen waren sie vor einer großen,
reichgeschmückten Tür angekommen, deren beiden Flügel sich
nun weit öffneten und sie - immer noch unter Führung des Soldaten
oder Dieners - einließ in einen großen Raum, wahrscheinlich
den Thronsaal. Die beiden Gäste konnten sich (zum Glück für
Ferdinands Bandscheiben) endlich aufrichten und standen nun beeindruckt
da - mehr oder weniger, Konstantin musste sehr an sich halten, um nicht
laut loszulachen, als er die blauweiß karierte Tapete an den Wänden
bemerkte. Immer im Abstand von etwa anderthalb Metern wurde sie allerdings
von großen Ölgemälden verdeckt, richtigen Wimmelbildern,
auf denen lauter kleine Männchen irgendwelche Arbeiten verrichteten,
die weder Konstantin noch Ferdinand näher bestimmen konnten. Sie gingen
nun weiter durch den langgestreckten Saal, und erst als sie sich nur noch
wenige Meter vom Thron entfernt befanden, entdeckte unser Dudelsackpfeifer
ihn - denn der Thron war ebenfalls kariert: er war von der hohen Lehne
bis zu den Beinen mit eckig geschliffenen Saphiren und Bergkristallen besetzt.
Und darauf saß tatsächlich ein kleiner, dürrer König
mit einem - wie sollte es anders sein - blauweiß karierten Mantel,
einer goldenen Krone und mit weißer Spitze besetzten Stiefeln, die
ihm bis über die Knie reichten.
"Tretet näher", sagte er jetzt mit einer
unangenehm quietschigen Stimme, "Ihr befindet euch in DerHalleDesHügelkönigs.
Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. Was wünscht ihr? Sicher den
Hügelzoll bezahlen. Kein Problem, liebe Leute, wendet euch vertrauensvoll
an meinen Finanzminister, der wird euch euer Geld gern abnehmen. - Diener",
er schnippte mit den Fingern einen der an der Seite aufgereihten Blaukarierten
herbei, "führe diese Herren in Zimmer hundertfünfzehn."
"Aber nein, aber nein, wir wollen nicht -
äh, nicht nur den Zoll bezahlen, wir wollten gern mit Euch reden,
Eure Hochwohlgeborene Majestät, mit Eurer gütigen Erlaubnis.
Wir - also, wir möchten durch den Dunkelwald, um auch auf der anderen
Seite Eurer Königlichen Hoheit Stärke und Großmut zu rühmen.
Denn Ihr seid ja schließlich überall in unserem Lande als großer
und herrlicher König bekannt, und damit auch die Unglücklichen,
die Euch nicht einmal kennen, bald in Scharen zu..."
"Nun komm doch endlich zur Sache, Mensch!
Was wollt Ihr?" unterbrach der König Ferdinands Redefluss, der einen
Augenblick ganz perplex war, weil er nun anscheinend ganz umsonst so viel
und vor allem so viel Blödsinn von sich gegeben hatte, was eigentlich
gar nicht seiner Art entsprach, dann antwortete er: "Tja, wir wollten Euch
eigentlich nur um einen Reisepass bitten, irgendeine Empfehlung an andere
Könige oder sowas."
"Danke, das war wenigstens kurz und bündig.
So eine Empfehlung könnt ihr bekommen, aber ihr müsst euch natürlich
erst mal bei mir empfehlen. - Diener, bring die Herren in Zimmer achtundneunzig.
Sie sollen dort saubermachen."
So wurden sie also wieder einmal von einem
blaukarierten Diener durch Tunnel geleitet, in denen sie nicht aufrecht
gehen konnten, bis sie endlich an der Tür von Raum Nummer achtundneunzig
angekommen waren. Der Diener öffnete sie, und unsere beiden Helden,
denen schon Schrubber, Putzlappen und Eimer in die Hand gedrückt worden
waren, sahen - etwas, was sie lieber nicht gesehen hätten: Der Raum
war so verdreckt, dass man schon Augiasstall damit hätte spielen
müssen, um ihn in kürzerer Zeit als mindestens vier Tagen sauber
zu bekommen. Der Diener blieb auf der Schwelle stehen und grinste.
"Was machen wir denn jetzt?" flüsterte
Ferdinand.
"Wenn ich das wüsste... Wie kamt Ihr
aber auch auf diese idiotische Idee mit den Pässen?"
"Naja, es ist doch so gefährlich im Dunkelwald,
und da kann so eine Empfehlung manchmal Wunder wirken", erwiderte Ferdinand
recht kleinlaut.
"Also schön, dann machen wir uns mal
an die Arbeit. Vielleicht fällt uns ja auch irgendein Trick ein...
in normalen Märchen werden solche Aufgaben doch immer mit irgendeiner
List gelöst. Oder irgendwelche Tiere, denen vorher geholfen wurde,
revanchieren sich."
Ferdinand stellte den Eimer ab. "Tja, also
das mit den Tieren können wir wohl vergessen, denn ich glaube kaum,
dass das Kaninchen von vorhin so besonders glücklich darüber
war, dass Euer Hund es gehetzt hat, und das war das einzige Tier, das wir
getroffen haben."
Konstantin zuckte die Achseln. Der Diener
schloss die Tür; im selben Augenblick hörten die beiden ein kratzendes
Geräusch in der Wand, und ehe sie überhaupt darüber nachdenken
konnten, was die Ursache dafür sein könnte, brach ein kleines
Stück des Erdgewölbes nahe dem Boden, und der Kopf eines Kaninchens
schaute hindurch.
"Tagchen", sagte es, "haltet bitte den Hund
fest."
© Latsi
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