Dudelsack und Vogelfedern von Latsi
6. Kapitel: Ein 'dunkles Wesen'

Gähnend streckte sich Konstantin. Es war schon früher Vormittag, die Sonne schien warm und der Sommer war auf dem besten Wege, das Land zu erobern. Ferdinand schlief noch, in seine Decke eingewickelt wie ein Säugling, und als Konstantin genauer hinsah, bemerkte er, dass doch tatsächlich ein Daumen in seinem Mund steckte... Kopfschüttelnd rüttelte er ihn. Das erste, was der noch halb Schlafende von sich hören ließ, war ein breites "Hääääh?", welches seinen Gefährten nun endgültig zum Lachen brachte. Während Ferdinand sich mühsam aus seiner Decke schälte, machte er ein Feuerchen und kochte Kaffee.
Nach einem ausgiebigen Frühstück, in dessen Verlauf der nun gänzlich wach gewordene Ferdinand meinte, wenn sie schon vor dem Eintritt in den Dunkelwald solche Abenteuer wie das gestrige erlebten, wie es dann wohl erst dort werden würde, brachen sie ausgeruht und mit frischem Mut auf, um noch einen Hügel zu überwinden und dann endlich vor den ersten riesigen, schwarzen Tannen des herbeigesehnten und doch gefürchteten Dunkelwaldes zu stehen. Einen Augenblick lang staunte unser wandernder Musikus, der ja schon viel gesehen hatte, über die Größe der Bäume. Angst verspürte er eigentlich nicht, aber ein etwas mulmiges Gefühl überkam ihn doch, als er in den wirklich fast schwarzen Wald hineinblickte, in dem man sicher nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Er sah zu dem Helden an seiner Seite hinüber, der ganz bleich im Gesicht war und sichtlich die Zähne zusammenbiss, und wunderte sich ein wenig. Er hatte immer gedacht, dass solche Weltenretter unerschrocken und freudig jeglicher Gefahr ins Gesicht lachten. Naja, aber andererseits hatten sie auch immer wieder Gefährten und Freunde dabei. Wozu sollten die gut sein, wenn nicht, um die Helden zu ermutigen?
"Also los, auf in den Kampf!" rief er darum und stieß Ferdinand aufmunternd den Ellenbogen in die Seite. Dann marschierte er schnurstracks auf den Wald zu, das Hündchen immer voraus. Erst als die beiden schon zwischen den Bäumen verschwunden waren, ballte Ferdinand seine Rechte zur Faust und rannte entschlossen hinterher.
Im Wald empfing sie völlige Dunkelheit, und sie konnten wirklich die Hand nicht vor Augen sehen, was aber nur daran lag, dass sie aus dem hellen Sonnenschein kamen. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die so plötzlich veränderten Lichtverhältnisse, und sie konnten erkennen, dass der Dunkelwald tatsächlich schon hier an seinem Rand seinem Namen alle Ehre machte. Er war bereits hier so dunkel wie andere Wälder erst in der Mitte, und dazu noch mit außergewöhnlich dichtem Unterholz bewachsen. Dicke Lianen hingen von den Bäumen, es roch nach Moder, und die vielfältigen Tiergeräusche, die überall um sie herum erschollen, hoben die Stille des Waldes nur noch mehr hervor.
"In welche Richtung müssen wir denn überhaupt?" wisperte Ferdinand.
Konstantin zuckte die Achseln, dann holte er einen Kompass aus der Tasche und sagte dabei: "Soweit ich gehört habe, führt der kürzeste Weg hindurch nach Westen. Und ich denke, wir wollen den kürzesten Weg nehmen, oder? Also ich habe zumindest keine Lust, länger als unbedingt nötig in dieser Düsternis umherzulaufen. Da ist Westen", - dabei zeigte er schräg nach rechts vorn. "Also los! - Nun macht nicht so ein mutloses Gesicht! Ich glaube nicht, dass dieser Wald so viel gefährlicher ist als andere Wälder. Außerdem haben wir doch einen Beschützer bei uns!" Sein Zeigefinger schwenkte um auf das aufgeregt herumschnüffelnde Hündchen, das in diesem Moment durch das erste dichte Gestrüpp verschwand. Da dieses genau im Westen lag, arbeiteten sich die beiden Menschen mühsam hinter ihm her hindurch.
Auf der anderen Seite verschnauften sie erst mal, dann stellte Konstantin fest, dass das Hündchen schon wieder verschwunden war. Als auch nach einigen Rufen, bei deren jedem Ferdinand nervös zusammenzuckte, nichts von ihm zu sehen oder zu hören war, fing Konstantin an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie begannen zu suchen - und tatsächlich, kurz darauf rief Ferdinand (so leise wie möglich, versteht sich): "Kommt mal her, hier ist ein Fußabdruck in der weichen Erde, der wie der eines kleinen Hundes aussieht!"
Konstantin stürzte sofort hinzu, und tatsächlich, der Abdruck stammte eindeutig von seinem Hündchen! Doch als sie nach weiteren Spuren suchten, fanden sie nur noch zwei, dann war auch mit der größten Aufmerksamkeit nichts mehr zu sehen.
"Das gibt's doch nicht!" Kopfschüttelnd untersuchte Ferdinand den Boden. "Der kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben, oder? Ich meine, also - das geht doch auch im Dunkelwald nicht, oder?"
"Ach was, Blödsinn. Wenn hier nicht schon wieder eine Höhle oder eine Falltür oder so etwas ist, bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, dass irgendwas Fliegendes ihn mitgenommen hat..."
"Also, eine Falltür kann hier nicht sein, sonst wären wir doch längst auch hineingefallen!" bemerkte Ferdinand.
Konstantin starrte nachdenklich und sehr besorgt in die Luft.
"Wenn wir auf einen dieser Bäume hochkämen und Ausschau halten könnten... Genau, das ist es! Da vorn, die große Eiche wäre doch ideal!" Und schon war er an dem erwähnten Baum angekommen und versuchte bereits, ihn zu erklettern, bevor Ferdinand, der sich während des Gehens misstrauisch ob des ihm schon wieder unheimlichen Friedens in diesem Wald ständig umsah, ihn überhaupt erreichte. Trotz seines doch recht umfangreichen Körpers war unser Musikant unwahrscheinlich flink auf dem höchsten ihn noch tragenden Ast angekommen, und da es sich um eine sehr alte und deshalb auch sehr hohe Eiche handelte, konnte er gerade so über alle anderen Bäume hinwegsehen.
Zunächst brachte das ganze ihm nicht viel außer einer schönen Aussicht über die sich wie ein Meer in Wellen hin und her bewegenden Baumspitzen unter dem blauen, von keinem Wölkchen getrübten Spätfrühlingshimmel. Doch dann erhaschte er eine Bewegung links von ihm - etwas kam, fast die Wipfel der Bäume streifend, in seine Richtung geflogen. Unter sich spürte er, dass auch Ferdinand den Baum erstiegen hatte, wahrscheinlich hauptsächlich, weil er nicht allein unten stehen bleiben wollte.
Das unbekannte Etwas kam näher, und Konstantin konnte nun bereits zweierlei erkennen: zum einen, dass es etwas unter sich trug, das verdächtig nach einem verängstigten kleinen Hund aussah, und zum anderen, dass es zwei lange Schlappohren besaß, die im Flugwind nach hinten wehten.
"Was ist DAS denn?!" fragte Ferdinand mehr entgeistert als verängstigt, nachdem er sich inzwischen auch so weit nach oben gearbeitet hatte, dass er ebenfalls das herannahende Geschöpf sehen konnte.
"Weiß ich nicht, aber auf jeden Fall ist es olivgrün und hat mein Hündchen, und das wird es hoffentlich nicht mehr lange behalten", antwortete Konstantin entschlossen, dann rief er laut: "He, du da mit den Schlappohren, komm mal her!" Dazu winkte er heftig mit dem Arm, mit dem er sich nicht festhalten musste.
Tatsächlich bemerkte das Wesen ihn und drehte auf die Eiche zu. Dort angekommen, starrte es ihn aus seinem stumpfnasigen Mopsgesicht an und bemerkte mit näselnder Stimme: "Du siehst aba komich aus!" Dabei surrte es mit seinen Flügeln, die so eine Art Mischung zwischen Fledermaus- und Insektenflügeln zu sein schienen, um in der Luft stehenzubleiben wie eine Schwebfliege, und machte damit einen derartigen Wind, dass Konstantin beinahe der Zylinder weggeflogen wäre.
Sich erst vorsichtig an sein eigentliches Anliegen herantastend (Man weiß schließlich nie, wie große olivgrüne Schlappohrträger reagieren, wenn sie ein kleines Hündchen wieder hergeben sollen, das sie lieber behalten möchten!) fragte Konstantin: "Sag mal, was bist du eigentlich?"
Das 'Etwas' reckte sich, soweit das während des Flügelschlagens möglich war, und antwortete stolz: "Ich heise Dudeldi!"
Nach einem Augenblick des Schweigens hakte Konstantin nach: "Äh, ich meine, bis du ein Tier oder ein Drache oder ein Kobold oder was?"
"Weiß ich nich."
"Äh, also, gibt es noch mehr, die so aussehen wie du?"
"Nee, nich. - Aba kuk ma, was ich untn kefundn hab'!" Dabei zeigte es Konstantin das Hündchen, das es unter sich mit seinen großen, behaarten Vogelfüßen festhielt. "Willste's habn? Weil ich prauch's nich."
Natürlich sagte Konstantin da nicht nein, und so bekam er sein Hündchen zurück, das vor lauter Freude gar nicht wusste, wo es anfangen sollte, ihn abzulecken. Dann stiegen sie den Baum wieder hinab, nicht ohne dem Dudeldi zu versprechen, es mal in seinem Nest in der großen Kiefer an der Wegkreuzung zu besuchen, nachdem es ihnen genauestens erklärt hatte, wie sie den Weg dorthin überhaupt finden konnten.
"Ruft mich, wenn ia mich prauchen tut, ja?" rief es ihnen noch zum Abschied zu, dann flog es über die Baumwipfel davon.
"Seht Ihr, war doch nett, unsere erste Begegnung mit den "dunklen Wesen" des Dunkelwaldes, oder?" bemerkte Konstantin, als sie wieder auf dem sicheren Waldboden standen. Dann machten sie sich auf den Weg nach Westen, dorthin, wo auch der Weg und damit das Nest ihres neuen Freundes zu suchen war.
 
© Latsi
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Und schon geht es weiter zum 7. Kapitel: Trolle und Drachen

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