Dudelsack und Vogelfedern von Latsi
7. Kapitel: Trolle und Drachen

Von dem Weg durch den Dunkelwald, den ihnen das Dudeldi versprochen hatte, war jedoch vorerst so wenig zu erkennen, dass die beiden Wanderer schon an seiner Existenz zu zweifeln begannen. Sie mussten sich durch dichtestes Unterholz kämpfen. Zum Glück hatte Ferdinand ein Fahrtenmesser dabei, das ihnen nun, obwohl es eigentlich viel zu klein war, gute Dienste leistete. Immer abwechselnd ging einmal Konstantin, dann wieder Ferdinand vorne, mit dem Messer das schlimmste Gestrüpp beiseite schlagend. Es war ein sehr mühsames Geschäft, und Ferdinand war jedesmal froh, das Messer wieder an seinen Gefährten abgeben und hinten gehen zu dürfen. Schon jetzt, nach drei Wechseln, trottete er völlig kaputt hinter dem verbissen mit dem Messer herumhackenden Dudelsackspieler her. Für seine Ängste hatte er einfach keine Energie mehr.
Darum war er auch völlig unvorbereitet, als plötzlich aus einem Busch zu seiner Linken etwas hervorstürzte und begann, auf ihn einzuprügeln. Im grünen Dunkel konnte er nicht erkennen, ob es sich bei dem plötzlichen Angreifer um einen Menschen, ein Tier oder irgendein Fabelwesen handelte, aber er glaubte, etwas wie Fell unter seinen Finger zu spüren, als er sich endlich zu wehren begann. Ein erbitterter Ringkampf begann. Sein Gegner war größer als er und schlug völlig unvorhersehbar um sich, kratzte, trat und biss, aber Ferdinand zahlte alles mit gleicher Münze zurück. Schließlich war er kein Schwächling, und wenn es darauf ankam, ließ ihm sein Instinkt keine Zeit für die Furcht, die vorher sein Handeln bestimmte. So kämpfte er jetzt verbissen mit Händen und Füßen, und als sein Gegner ihn an den Wuschellocken zu fassen bekam und versuchte, ihm mit der anderen Hand einen ordentlichen Kinnhaken zu geben, gelang es ihm, sich ohne den Verlust von allzuvielen Haaren loszureißen und dem anderen den Kopf mit voller Wucht in die Magengrube zu rammen. Wimmernd ging dieser zu Boden.
Dieses Wimmern vertrieb sofort alle Kampfeslust aus Ferdinand, und mitleidig beugte er sich über den Besiegten. Bewusstlos war er geworden, der Ärmste. Kurz entschlossen hob er ihn auf seine Schulter und trug ihn durch das Gesträuch. Schon nach kurzer Zeit erreichte er eine Lichtung, auf der Konstantin sich gerade besorgt auf die Suche nach ihm begeben wollte. Ferdinand legte seine Last vorsichtig auf den weichen Waldboden und berichtete seinem Reisegefährten kurz, was geschehen war. Dann beugten sich beide über das Geschöpf, das tatsächlich einen braunen Pelz trug, aber in Statur und Größe sehr menschenähnlich war. Es lag mit dem Gesicht zur Erde.
"Das ist bestimmt ein Troll", flüsterte Konstantin und berührte zaghaft das weiche Fell.
Das Wesen schnaufte, erwachte und drehte sich auf den Rücken. Die beiden Gefährten gingen lieber auf Sicherheitsabstand: Ferdinand war so ängstlich wie eh und je, und auch Konstantin wusste nicht so recht, wie er sich bei diesem offensichtlich aggressiven "Etwas" verhalten sollte.
Langsam richtete es sich auf und schaute verdattert in die Runde. Jetzt wussten die beiden Betrachter überhaupt nicht mehr, woran sie waren: Das, was sie da im Zwielicht des offenen Waldstückes sahen, war eindeutig das Gesicht eines Menschen, genauer gesagt das eines jungen Mannes!
"Was - was - wie, bin ich nicht tot?" fragte dieser nun mit einer angenehm volltönenden Stimme und griff sich an den Kopf, an dem sich eine ansehnliche Beule zu bilden begann.
Jetzt erst ließ auch bei Ferdinand die Adrenalinwirkung nach, und er spürte auf einmal alle seine Knochen. Während er sich setzte, fasste sich Konstantin ein Herz und antwortete: "Sieht nicht so aus, oder?"
"Ja, aber - wieso denn nicht?"
Konstantin war gelinde gesagt etwas verwirrt. "Äh - wieso solltet Ihr denn tot sein? So ein paar blaue Flecke bringen einen so kräftigen Troll, oder was auch immer Ihr seid, doch nicht um!"
Einen Augenblick lang konnte man direkt zuschauen, wie der andere nachdachte, dann fasste er Konstantin genauer ins Auge und erwiderte vorsichtig: "Dann seid Ihr also gar kein Räuber...?"
"Räuber?! Sehe ich so aus?"
"Nicht wirklich, nein. Dann haben wir uns also ganz umsonst geprügelt? Das tut mir Leid." Dann rieb er sich eine andere Stelle am Arm und fügte hinzu: "Was mich allerdings wundert, ist, dass Ihr keine einzige Schramme davongetragen habt, während mir alles wehtut!"
Konstantin musste lachen. "Ich habe mich ja auch nicht mit Euch geschlagen, das war mein Reisegefährte, Ferdinand!"
Der erhob sich nun ächzend, trat vor den immer noch am Boden Sitzenden und bemerkte: "Und dem geht's genauso mies wie Euch! - Aber eine Frage noch: Wenn ich das richtig sehe, habt Ihr mich angegriffen, weil Ihr dachtete, ich wäre ein Räuber. Liegt ihr Trolle mit denen im Krieg, oder was? Ich frage nur, weil ich nicht so gern zwischen die Fronten kommen möchte."
Weder Ferdinand noch Konstantin waren auf das gefasst, was nun passierte: Der Troll begann so heftig zu lachen, dass er sich verschluckte und zu husten anfing. Gutmütig klopfte Konstantin ihm auf den Rücken, bis er sich wieder einigermaßen gefangen hatte und, immer noch breit grinsend, antworten konnte: "Verzeiht, aber das war... das war echt... Ich bin ein Mensch wie ihr, trage nur eine Felljacke. Die sind doch momentan der letzte Schrei!" Dabei öffnete er zum Beweis einen Reißverschluss, den sie unter dem dichten Pelz nicht bemerkt hatten, und sie sahen darunter eine nackte Männerbrust.
"Oh", machte Ferdinand und wurde rot.
"Ach, da bin ich aber beruhigt", seufzte Konstantin, "Aber was, wenn ich fragen darf, tut Ihr so allein hier im Wald? Seid Ihr etwa auch auf der Durchreise?"
"Durchreise? Nein, ich bin auf der Suche nach - nach einem jungen Mädchen, das leichtsinnigerweise ausgerechnet am Waldrand Pilze suchen wollte und dabei von einem Drachen geraubt wurde, einem riesigen, scheußlich grünen Monstrum. Und ich bin nun ausgezogen, sie zu retten. Ich - naja, aber das geht euch ja eigentlich nichts an." Dabei wurde er rot wie eine Tomate und wandte sich verlegen ab.
Konstantin zwinkerte Ferdinand zu und fragte ablenkend: "Also ein großer grüner Drachen, sagtet Ihr?"
"Ja, ein Bauer, der nicht weit davon sein Feld pflügte, sah, wie er aus dem Wald herabgestoßen kam und dann mit Lady Anna in seinen Krallen wieder darin verschwand."
"Aha", machte Ferdinand, "Und Ihr rennt jetzt so ganz allein durch den Dunkelwald und wollt dieses Untier besiegen. Womit denn eigentlich?"
"Mit meinem Schwert. Das habe ich ein paar Meter weiter liegenlassen - ich war gerade in - äh, dringenden Geschäften unterwegs, als ich euch hörte und für Räuber hielt."
"Zum Glück hattet Ihr das Schwert nicht bei Euch!" japste Ferdinand, "Aber sagt, wisst Ihr denn überhaupt, wo Ihr den Drachen suchen müsst?"
Etwas verlegen zuckte der junge Mann die Achseln.
"Dann kommt doch einfach mit uns in Richtung Westen! Das Tierchen wird ja wohl mitten im Wald wohnen, wie sich das gehört", schlug Konstantin vor.
Der künftige Drachentöter war über die Aussicht, nicht allein weiterreisen zu müssen, außerordentlich erfreut, streckte Konstantin und Ferdinand beide Hände hin und jubelte: "Gern! Mein Name ist übrigens Jonathan!"
Konstantin ergriff seine Rechte und schüttelte sie so heftig, dass der junge Mann sich wie bei einem Erdbeben vorkommen musste. "Mein Name ist Konstantin."
Ferdinand beschränkte sich angesichts dieser überschwänglichen Vorstellung auf ein simples Nennen seines Namens und fügte hinzu: "Gut, wenn Jonathan dann sein Schwert geholt hat, würde ich vorschlagen, dass wir bald aufbrechen. Sonst ist es Abend, und wir sind immer noch am Waldrand!"
Und so machten sie sich mit frischem Mut an die mühselige Bekämpfung neuer Gestrüppzonen. Es herrschte einmal mehr ein fast schon beunruhigender Frieden; außer einigen Krähen und zwei Füchsen begegnete ihnen kein lebendiges Wesen. Und schließlich erreichten sie ganz ohne neue Abenteuer den Weg, den Konstantin, der gerade an der Spitze ihrer kleinen Truppe ging, mit einem freudigen Ausruf begrüßte. Ferdinand sah ihn strafend an. Diese Stille förderte nicht gerade seinen Mut.
Nun standen sie also endlich auf dem Weg nach Westen, und sie hofften, hier etwas leichter voranzukommen, obwohl er schon sehr zugewachsen war. Fürs erste mussten sie also wieder durch Gebüsch, das aber doch wesentlich lichter war als jenseits des Pfades. Schweigend kämpften sie sich vorwärts. Konstantin ärgerte sich nur noch unwesentlich über die ihm ständig ins Gesicht schlagenden Zweige. Viel mehr beschäftigte ihn die Frage, wie sie den Drachen besiegen sollten. Drei Mann, ein Hündchen und ein Schwert, das aber, wie er für seinen Teil fand, auch eher wie ein leicht angerostetes Brotmesser aussah, das war ihre "Kampftruppe". Außerdem zählte er sich und das Hündchen auch nicht gerade zu den mutigen Superhelden. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass es sich vielleicht um einen nicht ganz so bösen Drachen handelte, dem man das Mädchen versuchen könnte abzuschwatzen...
Als er in seinen Gedanken so weit gekommen war, erreichte Jonathan offensichtlich eine freie Stelle, denn er stieß einen leisen Schrei aus, und Konstantin sah einen fahlen Lichtschein durch die Büsche leuchten. Rasch folgte er Ferdinand, der bereits unter den letzten Ranken durchschlüpfte.
Sie standen nun tatsächlich auf einer Art von Lichtung, die sich bei näherem Betrachten als Wegkreuzung entpuppte. Konstantin runzelte die Stirn. Wegkreuzung, Wegkreuzung... irgendetwas war doch damit...
Doch schon wieder wurde er durch einen Schrei Jonathans aus seinen Gedanken gerissen, und als er dessen ausgestrecktem Finger folgte und nach oben sah, erblickte er - den Drachen. Ein großes, olivgrünes Geschöpf schwang sich aus einer hohen Kiefer, flatterte zu Boden und watschelte mit freudestrahlendem Mopsgesicht auf sie zu.
Jonathan stand zitternd, aber mit erhobenem Schwert da, um den Drachen gebührend zu empfangen, da stürzten plötzlich seine beiden Weggefährten auf das Biest zu, riefen "Dudeldi!" und begannen, es hinter den Hängeohren zu kraulen.
"Dass wir nicht gleich darauf gekommen sind!" sagte Konstantin. Dann klärten sie den völlig verdatterten jungen Mann auf, der noch immer mit dem "Brotmesser" über dem Kopf dastand und sichtlich nicht wusste, was er von all dem halten sollte.
Danach wandte sich Ferdinand wieder dem Dudeldi zu. "Sag mal, hast du vielleicht ein junges Mädchen gesehen, das am Waldrand Pilze gesucht hat?"
"Ich hap da so was kefundn, mit so langn Haachn. Is das 'n junges Mätchn?"
"Ja, ja, natürlich! 'Gefunden', ach so - du hast es wohl auch mitgenommen?" fragte Konstantin zurück.
"Ja. Hat zuerst kesacht, dass ich 'n gans scheusliches Vieh wäre unt es sofocht loslassn sollde", dabei schob das Dudeldi die Unterlippe vor, "Da hap ich keheult unt da hat es mich ketröstet. Unt alz wia dann in meim Nest warn, da hapn wia Tee ketrunken. Unt das war schön." Es lächelte glücklich bei der Erinnerung.
"Und wo ist sie jetzt?" fragte Jonathan mit leuchtenden Augen.
Das Dudeldi stülpte wiederum die Unterlippe vor und gab seine Antwort, während der der junge Mann zusehends erbleichte: "Naja, unt dann kamen die doowen Chäuber unt wollden wieda mein Paum umpfälln, unt da warn sie sufriedn, alz ich ihn das Mätchn kegebn hap."
Ferdinand wurde ebenfalls blass. Es gab hier also tatsächlich Räuber!
Als das Dudeldi die allgemeine Bestürzung sah, zog es die Unterlippe erst gar nicht wieder ein und fragte zaghaft: "War das faltsch?" Dabei machte es ein so trauriges Gesicht, dass Konstantin es wieder hinter den Ohren kraulte und ihm dabei erklärte, dass es lebendige "Fundstücke" nicht einfach verschenken dürfe. Überhaupt müsse es immer erst fragen, ob diese auch "gefunden" werden wollten.
Das Dudeldi schluckte, nickte dann und erklärte schließlich, während es mit einem lauten Schnaufen den Inhalt seiner stumpfen Nase hochzog: "Dann helf ich auch aba jetz auch, das Mätchn su findn."
Erfreut über die sicher nützliche Hilfe eines großen, geflügelten Wesens machte sich der nun also auf vier Personen und Hund angewachsene Suchtrupp von Neuem auf den Weg, diesmal zur Räuberhöhle (Denn wo sollten anständige Räuber wohl leben, wenn nicht in einer Höhle!). So wanderten sie also voran; das Dudeldi flog über den Wipfeln und wies ihnen immer wieder durch Zurufe den Weg. Anfangs konnten sie noch auf dem Pfad bleiben, doch dann lotste sie das Dudeldi nach links, durch neues Gestrüpp, dem Räuberversteck entgegen.
 
© Latsi
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Und schon geht es weiter zum 8. Kapitel: Räubereien

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