Dudelsack und Vogelfedern von Latsi
8. Kapitel: Räubereien

Wie ein schwarzes, böses Auge starrte sie die Öffnung der Räuberhöhle an, verschlagen unter einigen Strähnen aus Efeu hervorblinzelnd. Der Berg, in dem sie gewachsen war, bestand aus sehr, sehr dunklem Stein, mit schleimigen Moosen und Flechten bewachsen. Eine zerzaust aussehende Tanne neigte ihr dunkles Haupt wie eine drohende Braue über den Höhleneingang. Nur ein kleiner Platz war davor freigehalten worden, dann begann sofort wieder das dichte Unterholz, in dem sich nun drei Menschen und ein kleiner Hund versteckten.
Das Dudeldi war längst wieder zu seiner Wohnung zurückgekehrt. "Da voane isses!" hatte es gerufen und war dann schneller verschwunden als Konstantin "Äh" sagen konnte. Na ja, es musste ja auch noch eine Weile mit den Räubern klarkommen. Der Wunsch nach guter Nachbarschaft rechtfertigt manches.
Es war auffallend ruhig. Keine Wache hatte sie aufgehalten, nicht einmal hier stand eine. Die Räuber schienen nicht zu Hause zu sein.
"Los", flüsterte Jonathan, "lasst uns die Höhle stürmen, solange sie nicht darin sind!" Er machte bereits Anstalten loszustürzen, Konstantin konnte ihn gerade noch am Ärmel festhalten.
"Nicht so voreilig! Wer weiß, ob Eure Lady Anna überhaupt da drin ist. Und außerdem ist doch gar nicht sicher, dass die Räuber tatsächlich die Höhle verlassen haben..."
"Gut gesagt, Dicker! Sie haben nicht!" tönte in diesem Moment eine tiefe Bassstimme aus dem Eingangsbereich des Loches, und kurz darauf erschien eine breitschultrige, etwas gedrungene Gestalt vor ihnen, in edle Stoffe gekleidet und mit einer Fackel in der Rechten, die sein stolzes und schönes Gesicht beleuchtete. Er entsprach so gar nicht der Vorstellung, die sich Ferdinand immer von einem Räuber gemacht hatte, dass er vor Staunen ganz vergaß, sich zu fürchten.
"Was wollt ihr?" fragte indes der Mann.
"Wo ist Lady Anna?!" fragte Jonathan zurück, etwas heftiger als es dem besonnenen Konstantin lieb war, der befürchtete, die Räuber, die sich inzwischen um den offensichtlich den Anführer darstellenden Sprecher geschart hatten, könnten das übelnehmen und - nicht auszudenken, was dann geschehen würde! Doch die Räuber lachten nur, und es klang überhaupt nicht gefährlich.
"Ist das alles, was ihr begehrt? Bitte, wollt ihr um sie kämpfen, oder was?" Der Blick des Hauptmannes wanderte mit einem belustigten Hochziehen der Augenbrauen zu Jonathans rostigem Schwert hinüber, und bevor Konstantin auch nur ein Wörtchen von seinem Wunsch, das Ganze friedlich zu regeln, äußern  konnte, fügte der Räuber hinzu: "Na, dann mal drauf, Leute!", worauf die ganze Rotte johlend auf sie losstürmte.
"Stooopp!!!" überbot da eine Stimme das Gebrüll der Räuber noch in der Lautstärke, und vor Überraschung blieben diese tatsächlich stehen. "Was fällt euch ein! Zwanzig Mann, oder wieviel ihr seid, gegen drei! Pfui, Feiglinge!"
Konstantin nickte befriedigt. Also doch! Jetzt zeigten sich die heldenhaften Züge Ferdinands. Im Augenblick der Gefahr strahlte sein Mut wie... wie... na, hell eben.
Der Räuberhauptmann war rot geworden und hatte seine Truppe zurückgerufen. Man hörte sie flüsternd beraten, dann traten drei Männer vor, und der Anführer erklärte: "Nun, dann eben drei gegen drei!"
Konstantin wurde blass. Die drei Räuber waren in etwa so muskelbepackt wie Arnold Schwarzenegger. Wer auch immer das war. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass sie vielleicht doch besser weggekommen wären, wenn sie sich im dichten Kampfgewühl einfach in die Büsche geschlagen hätten. Aber so war an Flucht natürlich nicht mehr zu denken.
Die Muskelmänner kamen nun auf sie zu, einer hielt ein Schwert in der Hand, die anderen waren unbewaffnet. Der Räuber mit dem Schwert stellte sich vor Jonathan auf, der sein "Brotmesser" so fest umklammerte, dass seine Knöchel ganz weiß wurden. Ein Pfiff ertönte, und der Kampf begann.
Jonathan wehrte sich wie ein Löwe und konnte auch einige Schläge des anderen abwehren, aber dann, nach einem kräftigen Hieb, der wieder an dem alten Schwert abprallte, war ein knacksendes Geräusch zu hören - und es zerbrach in zwei Teile. Damit war dieser Kampf auch schon beendet.
Nicht viel länger hielt sich unser Musikus, der sich zwar auch tapfer gegen die Prügel zu wehren versuchte, die sein Gegner austeilte, aber im Grunde ja gar nichts fürs Kämpfen übrig hatte und deshalb (und natürlich auch wegen seiner Statur) einfach keine Chance hatte.
Beide wurden in die Mitte der anderen Räuber gestellt, von wo sie nicht entfliehen konnten, und sahen nun dem letzten Kampf zu.
Ferdinand war seinem Gegner fast gewachsen: er war zwar natürlich nicht so stark wie dieser, dafür aber wesentlich wendiger. Fast jeder Schlag des Räubers ging ins Leere, weil sich Ferdinand inzwischen schon in einer anderen Ecke befand, wohingegen seine Knüffe meistens trafen. Doch plötzlich geschah etwas, das dem anderen einen unerwarteten Vorteil gab: Ferdinand stürzte beim Herumtänzeln über seine eigene Federweste, die er ausgezogen und neben sich geworfen hatte, um sie zu schonen, und fiel längelang auf die Nase. Im Nu war der Räuber über ihm, grinste und holte zu einem endgültigen K.O.-Schlag aus - da griff Ferdinand wieselflink in dessen verfilzten, dunklen Haarschopf, zog den Kopf zu sich herunter und grub seine Zähne mit Wucht in die Nase seines Gegners. Dieselbe mit der großen Pranke bedeckend, sprang der Gebissene auf, heulte herzerweichend und verschwand in der Höhle. Damit war Ferdinand der Sieger! Die Räuber wussten sichtlich nicht, wie sie sich nun verhalten sollten, und blickten fragend auf ihren Anführer.
"Nun gut. Ihr habt gewonnen und seid damit frei. Geht!" entschied dieser.
"Und die anderen?" Die Stirn in lauter kleine Falten gelegt, stand Ferdinand vor dem Hauptmann und wartete auf die Antwort, die er eigentlich schon vor seiner Frage gewusst hatte:
"Bleiben hier. Sie haben den Kampf schließlich verloren! Und um Euch eine weitere Frage zu ersparen: Die Lady bleibt auch!" Damit drehte er sich um und wollte in der Höhle verschwinden.
"Dann bleibe ich auch! Ich lasse meine Freunde doch nicht im Stich!" bekundete Ferdinand und überraschte den Hauptmann damit so, dass er noch einmal stehenblieb und ihn mit einem anerkennenden Blick bedachte. Dass dem bewundernswerten Entschluss weniger Edelmut als vielmehr Angst vorm Alleinsein im Dunkelwald zugrunde lag, konnte er ja nicht wissen. Zum Glück kann auch ein Räuberhauptmann keine Gedanken lesen.

In der Höhle war es warm und gemütlich. Jedenfalls relativ. Wenn man einen kahlen, dunklen, feuchten Raum voller Räuber mag. Zumindest brannte ein großes Feuer, dessen flackernder Schein die karge Ausstattung der Höhle erkennen ließ: Auf hervorstehenden Felszacken wurden Nahrungsmittel und allerhand andere Dinge aufbewahrt, und entlang der Wände befanden sich die ordentlich aus Tannenzweigen und Kräutern aufgeschichteten Bettstätten der Räuber, mit einer warmen wollenen Decke darauf, die regelrecht zum Schlafen einlud.
Augenblicklich war Konstantin allerdings nicht nach Schlafen zumute. Er saß zusammen mit Jonathan und Ferdinand im hinteren Teil der Höhle am Feuer. Eine Flucht war absolut ausgeschlossen, denn rings um sie herum saßen Räuber, aßen vor Fett triefende Stücke eines Hirsches, den sie ganz an einem Spieß über dem Feuer brieten, tranken Bier, spielten Karten oder sangen wilde Räuberlieder - kurz, es war genau so, wie man sich so ein Räuberlager vorstellt. Konstantin fand das alles auch sehr interessant, aber er wäre doch viel lieber draußen in der Natur gewesen, zumal der Rauch, der von dem Feuer aufstieg, bald die ganze Höhle füllte und ihm in den Augen brannte. Er hatte schon seit seiner Kindheit eine Allergie dagegen. Aus diesem Grund war er schon die ganze Zeit am Grübeln, wie sie wohl mitsamt des Mädchens, das im Übrigen wirklich wunderschön war und der Bande den Haushalt zu führen schien, aus dieser Zwickmühle herauskommen könnten. Aber es wollte und wollte ihm nichts einfallen.
"He, aufwachen! Wollt Ihr nicht noch ein Stück Fleisch?"
Von seiner sitzenden Stellung aus konnte Konstantin zunächst nur zwei hohe Stiefel und eine grüne Hose erkennen, die gerade vor ihm neben dem Feuer standen und zu dem Hauptmann gehörten. Zu ihm aufblickend antwortete er: "Danke nein, ich will abnehmen."
"Na, dann nicht." Der Räuber zuckte die Achseln und zog etwas Kleines, Rundes aus der Tasche, das er sich mit der Linken vor das Gesicht hielt, während die Rechte den gepflegten Schnurrbart glättete. Einen Augenblick schien er sich noch wohlgefällig darin zu betrachten, dann steckte er den Taschenspiegel wieder ein. Das heißt - er wollte ihn wohl einstecken, aber sei es, dass er von dem lautstarken Mao-Mao-Spiel der anderen Räuber abgelenkt wurde, oder dass er vor lauter Rauch seine Tasche nicht mehr finden konnte (völliger Blödsinn, aber irgendeinen Grund muss es ja doch wohl geben. Das gehört sich einfach so) - jedenfalls fiel der Spiegel auf den blankgescheuerten Boden, wo er kreiselnd liegenblieb. Doch bevor der Hauptmann, der sich bereits danach bückte, ihn aufheben konnte, witschte ein kleiner braunweißer Blitz vom Eingang der Höhle heran, und ehe irgend jemand auch nur erahnen konnte, was wirklich geschehen war, war Konstantins Hündchen mit dem Spiegel im Maul wieder davongerannt.
Einen Augenblick lang war die gesamte Räubermannschaft wie erstarrt, doch dann schrie plötzlich der Hauptmann auf: "Da! Ha! Na - los doch, worauf wartet ihr, ihr Schafsköpfe, ihr Hornochsen, ihr Hampelmänner, ihr..." Der Rest seiner freundlichen Ansprache ging im allgemeinen Getrampel und der Aufbruchsstimmung der Angeredeten unter. Darum unterbrach er sich und stürzte seinerseits aus der Höhle.
Mit einem Mal herrschte absolute Ruhe. Endlich. Die drei Gefangenen lehnten sich zurück und genossen sie. Nicht sehr lange allerdings. Schon bald stand nämlich eine junge Frau vor ihnen, den Kopf schüttelnd, so dass ihre blonden Locken äußerst dekorativ von einer zur anderen Seite schwangen, und äußerte mit einer glockenhellen, weichen Stimme: "Na, ihr seid mir vielleicht Schnarchnasen!"
Die drei starrten sie verständnislos an. Sie stöhnte auf und zerrte Jonathan an seiner Felljacke hoch. "He! Du wolltest mich doch retten, nehme ich an, oder? Warum tust du's dann nicht endlich, bevor diese Idioten wieder zurückkommen?!"
Jonathan schien den Sinn ihrer Worte nicht so recht zu begreifen, er war viel zu sehr mit Anhimmeln beschäftigt.
Was Ferdinand dachte, mag der Himmel wissen, wahrscheinlich jedoch - gar nichts.
Konstantin allerdings begriff mit einem Mal, was Lady Anna meinte. Eigentlich war die allgemeine Leere der Höhle ja auch offensichtlich. Er schubste Ferdinand an, sprang auf und zog ihn dann am Arm auf die Füße. "Komm!" rief er, und so zogen und schoben Anna und Konstantin Jonathan und Ferdinand aus der Höhle. Dort draußen hatten dann auch die beiden verstanden, was für eine Chance sich ihnen da bot, und so rannten die vier so schnell sie konnten in den Wald.
Nun wollen wir aber doch auch noch erklären, wo das Hündchen so plötzlich herkam. Es hatte sich in einem Busch verkrochen, als dieses Rudel aus allen Poren nach Gefahr riechender Menschenwesen herangestürmt kam, hatte dort ausgeharrt, bis alle wieder in dem Loch verschwunden waren, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seinem Herrchen zu folgen und seinem Instinkt, der ihm sagte, dass das keine sonderlich gute Idee sei. Dann ließ der Gefahrengeruch langsam nach, statt dessen duftete es nach gebratenem Fleisch. In die Höhle traute es sich aber immer noch nicht. Lieber ging es selber auf die Jagd. Dieser Wald war schließlich eine einzige große, reich gedeckte Tafel für einen guten Mäusejäger! Gesättigt hatte es dann seine Treue unwiderstehlich zur Räuberhöhle zurückgezogen.
Aber hier war immer noch nichts von "seinen" Menschen zu sehen oder riechen. Das Hündchen begann, sich zu langweilen. Vorsichtig pirschte es sich zum Eingang der Höhle vor und lugte hinein. Wollte Herrchen denn nie mehr kommen und mit ihm spielen? Dann musste es sich eben selbst eine Beschäftigung verschaffen, und das glänzende Ding, das dem Mann mit dem grünen Fell da gerade aus der Hand fiel, war dazu einfach herrlich geeignet. In die Höhle springen, das Spielzeug schnappen und wieder herauswitschen war das Werk eines Augenblicks, und als nach einiger Zeit dann eine ganze Horde von Menschen hinter ihm herrannte und fangen spielte, war das Hündchen fast glücklich.
Aber nur fast, denn ohne sein Herrchen war die schönste Verfolgungsjagd nicht ganz vollständig. Deshalb ließ es irgendwann das Spiegelding fallen, um sich nach Konstantin umzusehen. Eine ganze Weile rannte es ziellos im Wald umher (während die Räuber erleichtert mit dem Spiegel in ihr Domizil zurückkehrten), doch es konnte sein geliebtes Herrchen einfach nicht finden. Der Dunkelwald war ja auch sooo groß, und es war so ein kleines Hündchen...!
Gerade wollte es sich heulend vor Einsamkeit auf seine Hinterhand setzen, da zog ihm ein bekannter Geruch um die Schnauze... Statt zu jaulen fing es nun an, vor Freude zu bellen, und mit großen Sprüngen rannte es immer der Nase nach, bis es auf den unter einer Tanne kauernden Konstantin traf, dessen hilflose Gefährten gerade versuchten, ihn wegen des verlorenen Hündchens zu trösten. In diese traurige Versammlung hopste nun eben dieses Hündchen hinein - und freudiger als es und sein Herrchen hätte wohl kaum ein Freundespaar sich begrüßen können. Wieder mal.
 

© Latsi
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Und schon geht es weiter zum 9. Kapitel: Von Werwölfen und Pilzen

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