Ebenenbruch von Madeleine Scherer
Buch 1: Die Erschaffene
Kapitel 3

Srya wandte sich erwartungsvoll zu ihrem ehemaligen Freund um, doch der sagte bloß:
"Gehen wir ein Stück." Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er vorwärts und Srya blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Wortlos schritten sie einen sanft abfallenden Hügel hinab. Doch irgendetwas war falsch. Srya hätte nicht genau sagen können, was, aber es war definitiv nicht richtig. Es war... Valen unterbrach ihre Gedanken.
"Schau!", meinte er. Sein Arm deutete auf einen dunkelblauen und mittelgroßen See. Sie gingen näher heran. Bei näherem Betrachten entpuppte sich die Farbe des Sees als ziemlich dunkles Grau. Die Oberfläche des Gewässers war beinahe unnatürlich glatt, obwohl ein leichter Wind ging. An diesem See war etwas falsch, genau wie bei der Burg und der ganzen Landschaft hier, sogar der Wind fühlte sich irgendwie nicht richtig an. Srya streckte einen ihrer schmalen Finger aus, um die Oberfläche zu berühren, doch Valen hielt sie am Arm fest. Er schüttelte den Kopf.
"Was soll das?", fuhr ihn die Schwarzhaarige unwirsch an. Sie riss sich los und berührte mit der Fingerkuppe sanft die Oberfläche des Sees. Und konnte sich nicht mehr losreißen. Sie stand da wie versteinert und versuchte sich zu rühren, doch ihre Gelenke gehorchten ihr nicht mehr. Srya fühlte nicht einmal, wie sich der See anfühlte, sie merkte nur noch, dass ihr Finger immer tiefer einsank und sie nichts dagegen tun konnte. Blankes Entsetzen packte sie. Da schoss wie aus dem Nichts Valens Hand in ihr Blickfeld hinein und riss ihren Finger von See weg. Sofort stolperte die Schwarzhaarige zurück. Sie betrachtete ihre Hand eingehend. Diese war kreideweiß, aber es wurde schon neues Blut durch ihren Arm hereingepumpt.
"Ein See, der Blut trinkt", murmelte sie. Dann sagte sie lauter:
"Was hat das zu bedeuten, Valen?" Der Tiefling antwortete erst nach einem kurzen Zögern. "Ich müsste dir jetzt nicht dir ganze Geschichte erzählen. Aber ich tue es trotzdem, weil ich glaube, dass es dir bei deinem Auftrag helfen könnte." Srya verdrehte die Augen, manchmal war Valens Art wirklich etwas nervig.
"Dann mach mal, sonst setzen wir hier noch Wurzeln an." Trotz dieses bissigen Kommentars blieb Valens Miene beinahe unbewegt. Ruhig fuhr er fort:
"Die ganze Geschichte begann mit deinem Fortgang. Danach...", doch er unterbrach sich. "Das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen. Warum bist du fort gegangen? Wir wollten uns doch...", doch er unterbrach sich erneut. Er war sich nicht sicher, ob es klug war, Srya auf ihre alten Pläne anzusprechen. Er sah Srya an. Ihre Miene hatte sich verdüstert und sie wurde mit jedem Wort, das sie sprach, düsterer:
"Sie kamen als wir alle schliefen. Sie haben mich mitgenommen und an ihre Welt gebannt. Sie hatten auch einen Teufel. An die erste Zeit erinnere ich mich bloß dunkel. Folter... um mich gefügig zu machen, damit ich nicht auf falsche Gedanken komme..." Srya zitterte plötzlich. Valen legte ihr tröstend einen Arm auf die Schulter, doch die Schwarzhaarige schob ihn fort. Mit festerer Stimme erzählte sie weiter:
"Dann, vor einigen Wochen kam ich endlich an den Teufel heran. Ich tötete ihn. Davor hatte ich einen Portalstein gestohlen und kam endlich zurück nach Cania." Valen schwieg kurz. Dann sagte er nachdenklich:
"Fünf Jahre. So lange. Hattest du so viele Aufträge?" Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. "Nein", sagte Srya, "manchmal war ich monatelang im Kerker. Ich hatte den Eindruck, dass sie einfach nicht wollten, dass jemand anders mich einsetzte. Und das haben sie auch lange erfolgreich verhindert."
"Interessant", murmelte Valen, "weißt du, wer sie waren?" Srya schüttelte den Kopf. Dann meinte sie:
"Jetzt erzähl du mal weiter!" Valen holte tief Luft, wie jemand, der sich auf einen langen Vortrag vorbereitet, und begann:
"Nachdem du verschwunden warst sind Thesta und ich nach Lano´faera gegangen. Mir hat diese Ruhe nach den langen Kriegsjahren gut getan, doch Thesta gefiel die Ruhe nicht. Sie meinte, dass sie nicht mehr untätig sein könnte, nachdem sie gesehen hatte, wie schrecklich Kriege sind. Also entschloss sie sich zu der geheimen Gruppe der Chi´phäen zu gehen. Kennst du sie? Das sind diese Leute, die..."
"...verhindern, dass eine Gesinnung, also Gut oder Böse, Überhand nimmt, ja, ich weiß!", fiel ihm Srya ins Wort.
"So einfach ist das nicht!", fauchte der Tiefling, "schließlich steckt in jedem Menschen etwas Gutes oder Böses. So etwas, wie das absolut Gute oder Böse gibt es nicht. Die Chi´phäen versuchen zu versuchen, dass in jedem einzelnen Menschen das Gute und Böse im Gleichgewicht ist und dass kein Land von einer Ära aus Dunkelheit und Bösartigkeit überzogen wird!"
"Ja, schon gut. Erzähl lieber weiter, Valen!", meinte Srya und hoffte mit der Schärfe in ihrer Stimme zu vertuschen, wie sehr diese Worte sie berührt hatten.
In jedem Menschen steckt etwas Gutes...
Kommentarlos fuhr Valen fort:
"Thesta bot mir wieder an, sie zu verlassen und meine Leibwächterfunktion aufzugeben, doch ich lehnte ab." Srya nickte. Thesta hatte Valen vor ungefähr zehn Jahren das Leben geretten, als ein Teufel ihn an sich gebunden hatte. Valen war ihr nun ewig dankbar und sein Ehrenkodex besagte, dass er von nun an sie beschützen musste, bis ans Ende ihres Lebens. Srya hielt nichs von Ehre oder irgendwelchen Kodexen, doch für Valen war das sehr wichtig. Und da Thesta eine Kenomen war und bis zu 700 Jahren alt werden konnte, würde sie den Tiefling höchstwahrscheinlich überleben. Srya schreckte aus ihren Überlegungen hoch, besagter Tiefling war fortgefahren.
"Und so gingen wir zu den Chi´phäen. Nachdem wir ihres Vertrauens würdig waren erzählten sie uns von einer Gruppe, die speziell gegen die Chi´phäen agiert. Wir wissen nicht, ob sie für Gut oder Böse sind, so weit man Irgendjemanden überhaupt in einen der beiden Gruppen einordnen könnte, doch sie wollen, dass eine der beiden Gesinnungen überwiegt, indem sie die Chi´phäen ausschalten. Ihr Anführer ist jedoch neben ihrer riesigen Armee das größte Problem. Kommt dir diese Welt, die Burg und alles hier nicht auch sehr seltsam und irgendwie falsch vor? Das liegt daran, dass er es erschaffen hat. Deshalb existiert dieser seltsame See. Weil er ihn nach seinen kranken Vorstellungen erschaffen hat." Valen sah Srya ins Gesicht. Und er sah ihr an, dass sie ihm kein Wort glaubte.

"Aber, aber das, das ist absolut unmöglich", stotterte Srya.
Valen widersprach ihr mit einem Kopfschütteln: "Leider nicht."
"Aber", fuhr Srya unbeeindruckt fort, "kein Mensch, Teufel oder Kenomen könnte so etwas. Niemand ist in der Lage Welten zu erschaffen, Valen."
"Die Chi´phäen sind sich absolut sicher!", meinte der Tiefling unbeirrt.
Doch sein Gegenüber hatte dafür nur ein Kopfschütteln übrig: "Du erwartest doch nicht etwa, dass ich dir diesen Schwachsinn glaube oder?"
Valen antwortete nicht sofort. Dann sagte er mit gleichgültiger Stimme: "Was du glaubst oder nicht, das ist deine Sache. Tatsache ist, dass dein Auftrag ist, diesen ..., diese Kreatur zu ermorden. Und meine Aufgabe ist es, dich so gut wie möglich dabei zu unterstützen."
"Ich brauche kein Kindermädchen, Valen!", fauchte Srya.
"Das ist nur zu deiner Sicherheit", entgegnete dieser. Die Schwarzhaarige stöhnte und bedeutete dem Tiefling mit einem Wink, ihr zu folgen.
Nach einem kurzen Fußmarsch kam eine andere Burg in Sicht, die der Burg, aus der sie kamen, wie ein Ei dem anderen ähnelte. Nach kurzem Überlegen fragte Srya:
"Gehen wir davon aus, diese Kreatur hätte das alles hier wirklich erschaffen. Warum hat er dann zwei Burgen gebaut?"
"Ich hab mich schon gefragt, wann du das erwähnen würdest", resignierte Valen, "und ich muss zugeben, dass keiner von uns eine Ahnung hat." Sein Gegenüber stöhnte auf.
Als die beiden an der Burg ankamen, gab es erst einmal keinerlei Anzeichen, dass diese Burg überhaupt bewohnt war. Aber so etwas kannte Srya. Sie blickte sich um, suchte eine mögliche Deckung, fand aber überall bloß Wiese, überall grünes, trockenes, einfallsloses Gras. Da entdeckte sie plötzlich etwas, das mindestens genauso gut, wenn nicht sogar besser war. Srya wandte sich Valen zu, der mit ziemlich hoffnungsloser Miene die große Frontsteinmauer der Burg anstarrte.
"Na, weißt du schon, wie wir da reinkommen sollen?", fragte er sie.
Srya nickte grinsend. "Und wie?", fuhr er sie genervt an. "Ganz einfach", meinte sie leichthin und deutete dabei auf den kleinen Schacht am linken Ende der Burg, durch das das, scheinbar jetzt halbwegs ungefährlich gefilterte Wasser des Sees in die Burg hineinlief. "Wenn das Wasser hinein kann, können wir das auch."
Valen streckte schaudernd einen Finger nach dem Wasser aus.
"Bist du sicher, dass das die einzige Möglichkeit ist?", fragte er seine Gefährtin. Diese nickte nur auffordernd. Der Tiefling atmete tief durch und berührte mit seiner Fingerkuppe die Wasseroberfläche. Eindeutig ganz normales Wasser. Und das sagte er Srya auch.
"Na also, dann hätten wir uns das ganze Theater eben ja sparen können!", erwiderte sie.
Typisch!
"Na dann, Ladies first!", brummte Valen. Srya sah ihn ärgerlich an und plötzlich stieß sie ihn mit einem kräftigen Stoß in das eiskalte Wasser. Blitzschnell hielt sich dieser am Boden fest.
"Die Strömung!", keuchte er, "sie ist viel zu stark. Sie reißt einen sofort mit!" Srya kannte ihren Gefährten zu lange, um zu glauben, dass er sich so etwas einfach ausdachte. Langsam glitt sie ins Wasser hinein und fluchte dabei so heftig, dass Valen normalerweise sofort rote Ohren bekommen hätte, wäre er nicht in Wasser mit den Temperaturen eines canianischen Schneesturmes gewesen. Dann hatte es auch die Schwarzhaarige geschafft. Sie hielt sich sofort an Valens Schulter fest.
"Ich glaube nicht, dass ich mir noch so sicher bin, ob das eine gute Idee war", prustete sie, das Wasser schlug in hohen Wellen gegen ihr Gesicht.
"Nein, ist es auch nicht!", antwortete der Tiefling und ließ den Boden los. Die Strömung riss die beiden mit und innerhalb kürzester Zeit waren sie verschwunden.
 

© Madeleine Scherer
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