Drei Fragen von Elfenfeuer

Teil 1: Der Nachtkönig

Die Heerscharen des finsteren Fürsten der Nacht schlugen nach ihrem Sieg bei den Braunfurten eine Bresche der Verwüstung durch das Ammaratal. Barrach der Ältere versuchte versprengte Einheiten des Menschenheeres zu sammeln, um eine letzte Schlacht am Talausgang zu schlagen. Er hoffte den Zusammenschluss der beiden Heere des Nachtkönigs zu verhindern, doch seine Aussichten waren wenig erfolgversprechend. Seine Hartnäckigkeit war bewundernswert, aber auch pathetisch. In nur zwei Tagen würde die Speerspitze der Streitkräfte der Finsternis die Festung Machabar am Doldensee erreichen, dort wo sich die Zinnen des Ammaragebirges mit den Granitfelsen des Graukamms trafen. In dieser kurzen Zeit würden die Menschen niemals eine Streitmacht sammeln können, um Machabar gegen die Horden des Galgaroth zu verteidigen. Selbst dann nicht, wenn Gemaril alle Bergelfen, die diesseits des Graukamms lebten, den Menschen zur Unterstützung senden würde. Doch die Chancen dafür standen ohnehin nicht sehr gut: Gemarils Hauptstreitmacht kämpfte an der Seite seiner Elfenbrüder im Grünwald auf der südlichen Seite des Graukamms gegen das zweite Heer des Nachtkönigs, und auch dort waren die Elfen in größter Bedrängnis. Sie würden nicht ein Schwert oder einen Bogen entbehren können, um den Menschen im Ammaratal beizustehen. Fürwahr, es sah nicht gut aus für die alten Länder.
Shelassia stand auf ihrem hohen Aussichtspunkt auf einer der vorgelagerten Felsspitzen des Graukamms. Traurig blickte sie auf die zerstörten Dörfer und brennenden Felder im Tal weit unter ihr hinab. Soviel Leid und Zerstörung, soviel Tod und Verdammnis. Und warum das alles? Jahrhunderte lang war der finstere Herrscher in seine Bergfestung verbannt gewesen. Die neun Feuermagier hatten die lodernden Feuer des Tordorog, jenes Lava speienden Vulkans aus dem der finstere Herrscher seine Lebenskraft bezog, eingedämmt und kontrolliert. Der Nachtkönig sollte für alle Zeiten in seinem steinernen Gefängnis eingeschlossen bleiben. Doch alle Vorsicht und alle Wachsamkeit sind vergebens, wenn vergifteter Ehrgeiz in den Seelen derjenigen Einzug einhält, die über die Geschicke der Welt wachen sollen.
Vor beinahe dreißig Jahren waren die beiden mächtigsten Feuermagier in einen Streit über den Vorsitz ihres illustren Magierzirkels entbrannt. Anfangs hatten sie noch im Geheimen versucht genug Macht und Einfluss zu gewinnen, um den Flammenthron zu besteigen. Der Flammenthron legitimierte den obersten Feuermagier und war somit auch das Symbol des mächtigsten Zauberers der Menschheit. Lange Zeit waren die beiden Kontrahenten sich ebenbürtig gewesen. Sowohl Miramba als auch Galgaroth mussten viel Kraft aufwenden, um den Konkurrenten zu beschäftigen, und beide konnten nicht riskieren den Flammenthron zu besteigen. Denn nur wer im Vollbesitz seiner magischen Kräfte war, durfte hoffen, dass er die Aszendenz überlebte.
Vor fünfzehn Jahren schließlich schien Miramba sich durchzusetzen. Es war ihm gelungen vier seiner Kollegen für seine Sache zu gewinnen. Und wichtiger, er hatte die Unterstützung der Elfen gewonnen, die nicht mehr länger mit ansehen wollten, wie der bedeutendste Thron der alten Länder verwaist blieb. Doch Galgaroth gab nicht auf. Er war ein Meister der Intrige und der Verzauberung. Und ehrgeizig. Heimlich hatte er Kontakte zu den geheimnisvollen, magiebegabten Bermanen aufgenommen. Mit ihrer Hilfe gedachte Galgaroth Wege zu finden, um die magischen Blockaden seines Kontrahenten zu umgehen, und dadurch genug Kraft sammeln zu können. Er wollte noch vor Miramba die Aszendenz schaffen. Oh weh, wie viel Leid hätte verhindert werden können, wenn Miramba Galgaroths Pläne rechtzeitig erkannt hätte.
So kam es, wie es kommen musste. Galgaroth versuchte - umgeben von Schutzzaubern bermanischen Ursprungs - den Flammenthron zu besteigen. Wie erhofft, erfüllten die Zauber ihren Zweck. Weder Miramba noch einer der anderen Feuermagier bemerkte, dass Galgaroth sich heimlich dem Ziel seiner Begierden, dem Flammenthron, näherte. Als er schließlich vor dem magischen Thron stand, kanalisierte er seine gesamte, nicht unbeträchtliche Macht in die Aszendenz. Was genau danach geschah, weiß wohl nur Galgaroth. Als der Magier den Thron schließlich bestieg, entluden sich fürchterliche magische Kräfte. Wilde Magie zerstörte die Hallen der Feuermagier; Galgaroth selber wurde in eine tiefe Finsternis gestoßen.
Mit der Heimstatt der Feuermagier und dem Fokus ihrer Macht zerbrachen auch die Bande, die den Nachtkönig gefangen hielten. Zunächst war er noch geschwächt, doch schnell erreichte sein Ruf auch den letzten Winkel der bekannten Welt. Die Kreaturen der Nacht krochen aus ihren Verstecken: Allen voran die intriganten Bermanen, seit jeher die treuesten Anhänger des Nachtkönigs. Auch die schrecklichen Hanubs und die Chaosvölker begannen ihren Zug zum Tordorog - schlechthin alles, was schon immer dem Nachtkönig gedient hatte, versammelte sich wieder unter seinem Banner. Zu guter Letzt weckte er Galgaroth aus seinem Alptraum und machte ihn zum Schrecklichsten seiner Heerführer.
Die Herren der alten Lande versuchten alles, um die erwachenden Horden der Finsternis zu bekämpfen. Doch die Jahrhunderte des Friedens hatten die Menschen träge gemacht. Zudem verweigerten die Elfen anfangs ihre Hilfe, denn ihre Fürsten gaben den Menschen die Schuld an der Rückkehr des Nachtkönigs. Und so kehrten Krieg, Angst und Schrecken zurück in die alten Lande.
"Trotz allem hätte dieses Unheil nicht geschehen müssen. Wir hätten rechtzeitig einschreiten können. Wir wussten um die Zeichen und auch um die Bedrohung durch den Fürsten der Nacht. Oder etwa nicht?"
"Das mag sein, Ansalion. Doch müssen wir deshalb einschreiten, um die jungen Völker zu retten?" entgegnete Shelassia ungerührt ohne sich umzudrehen. Sie hatte den Sprecher hinter ihr sofort erkannt.
Ein Lächeln stahl sich auf das zerfurchte Gesicht des sonnengebräunten Mannes mit dem schulterlangen, goldglänzenden Haar, der hinter Shelassia am Rand der Klippe aufgetaucht war. Wie so oft empfand er die Stimme Shelassias mit Wohlbehagen: Jeder Ton, jede ihrer Silben schien vom Klang tausender Glocken begleitet zu sein. Ihre Stimme war Gesang und pure Leidenschaft. Die gleiche Leidenschaft, mit der sie jetzt einen Disput mit ihm anstrebte. Ansalions Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Seine Augen funkelten schelmisch. Er war bereit für diese Auseinandersetzung.
Shelassia spürte den Wind, der um die Zinnen ihres Ausgucks wehte. Er zerzauste ihr dichtes, welliges Haar, welches feuerrot wabernd ihr elfengleiches Gesicht umspielte. Sie spürte jeden Wirbel, jede Richtungsänderung und jeden Geruch, der von diesem Wind zu ihr getragen wurde. Minuten vergingen, ohne dass Ansalion antwortete. Schließlich drehte Shelassia sich um. Jede ihrer Bewegungen war anmutig und selbstbewusst. Verächtlich ignorierte sie den tiefen Abgrund zu beiden Seiten der Felsspitze.
"Wir müssen uns nicht dafür verantworten, dass die Nacht Einzug hält."
Ansalion zeigte weiterhin keine Reaktion.
"Wir sind niemandem verpflichtet. Wir haben keine Versprechen gegeben. Und wir haben nicht in unserer Wachsamkeit versagt."
Ansalion neigte fragend den Kopf. Der rüstige Mann strahlte die gelassene Weisheit des weltgereisten Gelehrten aus, aber seine Augen funkelten wie glimmende Bernsteine voll unerschöpflicher Neugierde und jugendlicher Spitzbübigkeit. Seine Stimme war scharf und berechnend. "Du willst damit sagen, dass die jungen Völker diese Strafe verdient haben?"
"Nein, nicht verdient", entgegnete Shelassia. "Niemand hat dieses Schicksal - oder diese Strafe, wie du es nennst - verdient. Am allerwenigsten die Männer, Frauen und Kinder, deren Heime hier unter uns brennen. Und die einer grauenvollen Zukunft entgegen sehen, sollte der Nachtkönig die ganze Welt mit seiner Finsternis überdecken."
"Warum sollten wir uns dann nicht einmischen? Ich sehe, dass deine Trauer der meinen nicht im Geringsten nachsteht - wenn sie nicht sogar stärker ist."
Shelassia neigte bekümmert ihren Kopf ohne jedoch ihrem Gegenüber eine Antwort schuldig zu bleiben. "Es ist nicht unsere Angelegenheit. Schon immer sind Reiche entstanden und wieder zerrissen worden. Völker haben sich zusammengeschlossen und wurden wieder entzweit. Und sogar ganze Rassen wurden erschaffen und verschwanden wieder. So ist der Lauf der Zeit. So haben wir es seit Anbeginn der Schöpfung verfolgen können. Wir selber haben unsere Lektionen gelernt, was geschieht, wenn wir Hand an die Schöpfung legen."
Ansalion nickte versonnen. "Ja, ja. Die Wege der Schöpfung. Der Zyklus von Geburt und Grabgesang." Der goldhaarige Mann hob seinen Kopf und blickte Shelassia direkt in die Augen. "Sag, was wäre, wenn auch unsere Zeit abliefe?"
Shelassia erstarrte. "Das ist unvorstellbar."
"Bist du dir da sicher?"
"Wir waren die Ersten. Uns hat es schon immer gegeben." Shelassia spürte wie der Wind um sie herum zunahm. Aus Wirbeln wurden Strudel und kalte, unberechenbare Windböen schickten ihr Klagelied durch die Klippen und Klüfte der umgebenden Felsen. Doch anstatt sich einige Schritte von der exponierten Felsspitze zu entfernen, weckte der Wind Shelassias Kräfte und stärkte ihre Zuversicht.
"Aber wenn es eines Tages soweit käme", gab Ansalion zu bedenken, "würden wir dann nicht auch alles versuchen, um uns diesem Schicksal zu widersetzen?" Auch er schien förmlich zu wachsen, als die Winde um sie herum an Wildheit und Stärke zunahmen.
Stolz richtete Shelassia sich auf. Engelshaften Fanfaren gleich erhob sie ihre Stimme: "Wir würden kämpfen und ich bezweifle, dass jemand die Macht aufbringen könnte uns zu widerstehen."
Ansalion lachte leise. Nicht hämisch, sondern nachdenklich. "Und was war mit dem Evaloch, der dich damals beinahe unter dem ewigen Eis verbannte?"
Shelassia zuckte zusammen. Ihre Stimme bebte kaum merklich, als sie Ansalion antwortete. "Das war vor Tausenden von Jahren. Und hier stehe ich auf dieser Zinne und nicht diese Kreatur." Die zeitlos schöne Frau hatte sich wieder gefasst und fügte selbstbewusst hinzu: "Haben wir jemals unsere Probleme nicht selber lösen können?"
"Haben wir wirklich?" Mit einer knappen Bewegung hielt Ansalion Shelassia von ihrer Antwort ab. "Was ist mit den Wölfen, die ihr Reich für unseresgleichen seit einer Ewigkeit versperren?"
"Auch sie sind eine Schöpfung der ersten Tage und verfügen somit über mehr Handhabe uns gegenüber als irgendeine andere Kraft", murrte Shelassia. Ihre Stimme klang jetzt weniger wie strahlendes Glockengeläut, sondern vielmehr wie das bedrohliche Surren vibrierender Geigen. Ihre smaragdleuchtenden Augen verjüngten sich zu gefährlichen Schlitzen. "Und wenn ich wollte, könne ich ihre magischen Barrieren überwinden. Du weißt das."
"Und was war mit den Ahaldamar?"
Shelassia entgegnete seinem herausforderndem Blick mit eisigem Trotz: "Sie sind Vergangenheit und schlummern ihren ewigen Schlaf."
"Ja, so wird es wohl sein."
"Du siehst", schlussfolgerte Shelassia, "wir sind bislang mit jeder Bedrohung fertig geworden. Wer, frage ich dich, sollte unsere Existenz gefährden?"
Ansalion antworte ihr dieses Mal nicht. Nur das Heulen des Windes unterbrach die schweigende Stille zwischen den beiden Gestalten auf der hohen Felsspitze. Dann - ohne eine Geste der Einleitung - hob der goldhaarige Mann seinen Arm und streckte ihn auffordernd Shelassia hin. "Komm, ich will dir etwas zeigen."
Shelassia hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt und hob ihrerseits langsam einen Arm. Die Entfernung zwischen ihnen war gerade so groß, dass sich ihre Finger berühren konnten. Der aufbrausende Wind umspielte ihrer beider Haare und zerrte übermütig an ihren prachtvollen Gewändern. Fragend blickte sie Ansalion an.
Dieser schüttelte entschlossen den Kopf. "Nicht hier."
Ohne Furcht und ohne Zögern vollendete Shelassia die Geste und schloss den Kontakt zu ihrem Gefährten.
 

© Elfenfeuer
Vor Verwendung dieser Autoren-EMail-Adresse bitte das unmittelbar am @ angrenzende "NO" und "SPAM" entfernen!
 

Und hier geht es zum 2. Teil...

.
www.drachental.de