Teil 1: Der Nachtkönig
Die Heerscharen des finsteren Fürsten
der Nacht schlugen nach ihrem Sieg bei den Braunfurten eine Bresche der
Verwüstung durch das Ammaratal. Barrach der Ältere versuchte
versprengte Einheiten des Menschenheeres zu sammeln, um eine letzte Schlacht
am Talausgang zu schlagen. Er hoffte den Zusammenschluss der beiden Heere
des Nachtkönigs zu verhindern, doch seine Aussichten waren wenig erfolgversprechend.
Seine Hartnäckigkeit war bewundernswert, aber auch pathetisch. In
nur zwei Tagen würde die Speerspitze der Streitkräfte der Finsternis
die Festung Machabar am Doldensee erreichen, dort wo sich die Zinnen des
Ammaragebirges mit den Granitfelsen des Graukamms trafen. In dieser kurzen
Zeit würden die Menschen niemals eine Streitmacht sammeln können,
um Machabar gegen die Horden des Galgaroth zu verteidigen. Selbst dann
nicht, wenn Gemaril alle Bergelfen, die diesseits des Graukamms lebten,
den Menschen zur Unterstützung senden würde. Doch die Chancen
dafür standen ohnehin nicht sehr gut: Gemarils Hauptstreitmacht kämpfte
an der Seite seiner Elfenbrüder im Grünwald auf der südlichen
Seite des Graukamms gegen das zweite Heer des Nachtkönigs, und auch
dort waren die Elfen in größter Bedrängnis. Sie würden
nicht ein Schwert oder einen Bogen entbehren können, um den Menschen
im Ammaratal beizustehen. Fürwahr, es sah nicht gut aus für die
alten Länder.
Shelassia stand auf ihrem hohen Aussichtspunkt
auf einer der vorgelagerten Felsspitzen des Graukamms. Traurig blickte
sie auf die zerstörten Dörfer und brennenden Felder im Tal weit
unter ihr hinab. Soviel Leid und Zerstörung, soviel Tod und Verdammnis.
Und warum das alles? Jahrhunderte lang war der finstere Herrscher in seine
Bergfestung verbannt gewesen. Die neun Feuermagier hatten die lodernden
Feuer des Tordorog, jenes Lava speienden Vulkans aus dem der finstere Herrscher
seine Lebenskraft bezog, eingedämmt und kontrolliert. Der Nachtkönig
sollte für alle Zeiten in seinem steinernen Gefängnis eingeschlossen
bleiben. Doch alle Vorsicht und alle Wachsamkeit sind vergebens, wenn vergifteter
Ehrgeiz in den Seelen derjenigen Einzug einhält, die über die
Geschicke der Welt wachen sollen.
Vor beinahe dreißig Jahren waren die
beiden mächtigsten Feuermagier in einen Streit über den Vorsitz
ihres illustren Magierzirkels entbrannt. Anfangs hatten sie noch im Geheimen
versucht genug Macht und Einfluss zu gewinnen, um den Flammenthron zu besteigen.
Der Flammenthron legitimierte den obersten Feuermagier und war somit auch
das Symbol des mächtigsten Zauberers der Menschheit. Lange Zeit waren
die beiden Kontrahenten sich ebenbürtig gewesen. Sowohl Miramba als
auch Galgaroth mussten viel Kraft aufwenden, um den Konkurrenten zu beschäftigen,
und beide konnten nicht riskieren den Flammenthron zu besteigen. Denn nur
wer im Vollbesitz seiner magischen Kräfte war, durfte hoffen, dass
er die Aszendenz überlebte.
Vor fünfzehn Jahren schließlich
schien Miramba sich durchzusetzen. Es war ihm gelungen vier seiner Kollegen
für seine Sache zu gewinnen. Und wichtiger, er hatte die Unterstützung
der Elfen gewonnen, die nicht mehr länger mit ansehen wollten, wie
der bedeutendste Thron der alten Länder verwaist blieb. Doch Galgaroth
gab nicht auf. Er war ein Meister der Intrige und der Verzauberung. Und
ehrgeizig. Heimlich hatte er Kontakte zu den geheimnisvollen, magiebegabten
Bermanen aufgenommen. Mit ihrer Hilfe gedachte Galgaroth Wege zu finden,
um die magischen Blockaden seines Kontrahenten zu umgehen, und dadurch
genug Kraft sammeln zu können. Er wollte noch vor Miramba die Aszendenz
schaffen. Oh weh, wie viel Leid hätte verhindert werden können,
wenn Miramba Galgaroths Pläne rechtzeitig erkannt hätte.
So kam es, wie es kommen musste. Galgaroth
versuchte - umgeben von Schutzzaubern bermanischen Ursprungs - den Flammenthron
zu besteigen. Wie erhofft, erfüllten die Zauber ihren Zweck. Weder
Miramba noch einer der anderen Feuermagier bemerkte, dass Galgaroth sich
heimlich dem Ziel seiner Begierden, dem Flammenthron, näherte. Als
er schließlich vor dem magischen Thron stand, kanalisierte er seine
gesamte, nicht unbeträchtliche Macht in die Aszendenz. Was genau danach
geschah, weiß wohl nur Galgaroth. Als der Magier den Thron schließlich
bestieg, entluden sich fürchterliche magische Kräfte. Wilde Magie
zerstörte die Hallen der Feuermagier; Galgaroth selber wurde in eine
tiefe Finsternis gestoßen.
Mit der Heimstatt der Feuermagier und dem
Fokus ihrer Macht zerbrachen auch die Bande, die den Nachtkönig gefangen
hielten. Zunächst war er noch geschwächt, doch schnell erreichte
sein Ruf auch den letzten Winkel der bekannten Welt. Die Kreaturen der
Nacht krochen aus ihren Verstecken: Allen voran die intriganten Bermanen,
seit jeher die treuesten Anhänger des Nachtkönigs. Auch die schrecklichen
Hanubs und die Chaosvölker begannen ihren Zug zum Tordorog - schlechthin
alles, was schon immer dem Nachtkönig gedient hatte, versammelte sich
wieder unter seinem Banner. Zu guter Letzt weckte er Galgaroth aus seinem
Alptraum und machte ihn zum Schrecklichsten seiner Heerführer.
Die Herren der alten Lande versuchten alles,
um die erwachenden Horden der Finsternis zu bekämpfen. Doch die Jahrhunderte
des Friedens hatten die Menschen träge gemacht. Zudem verweigerten
die Elfen anfangs ihre Hilfe, denn ihre Fürsten gaben den Menschen
die Schuld an der Rückkehr des Nachtkönigs. Und so kehrten Krieg,
Angst und Schrecken zurück in die alten Lande.
"Trotz allem hätte dieses Unheil nicht
geschehen müssen. Wir hätten rechtzeitig einschreiten können.
Wir wussten um die Zeichen und auch um die Bedrohung durch den Fürsten
der Nacht. Oder etwa nicht?"
"Das mag sein, Ansalion. Doch müssen
wir deshalb einschreiten, um die jungen Völker zu retten?" entgegnete
Shelassia ungerührt ohne sich umzudrehen. Sie hatte den Sprecher hinter
ihr sofort erkannt.
Ein Lächeln stahl sich auf das zerfurchte
Gesicht des sonnengebräunten Mannes mit dem schulterlangen, goldglänzenden
Haar, der hinter Shelassia am Rand der Klippe aufgetaucht war. Wie so oft
empfand er die Stimme Shelassias mit Wohlbehagen: Jeder Ton, jede ihrer
Silben schien vom Klang tausender Glocken begleitet zu sein. Ihre Stimme
war Gesang und pure Leidenschaft. Die gleiche Leidenschaft, mit der sie
jetzt einen Disput mit ihm anstrebte. Ansalions Mund verzog sich zu einem
breiten Grinsen. Seine Augen funkelten schelmisch. Er war bereit für
diese Auseinandersetzung.
Shelassia spürte den Wind, der um die
Zinnen ihres Ausgucks wehte. Er zerzauste ihr dichtes, welliges Haar, welches
feuerrot wabernd ihr elfengleiches Gesicht umspielte. Sie spürte jeden
Wirbel, jede Richtungsänderung und jeden Geruch, der von diesem Wind
zu ihr getragen wurde. Minuten vergingen, ohne dass Ansalion antwortete.
Schließlich drehte Shelassia sich um. Jede ihrer Bewegungen war anmutig
und selbstbewusst. Verächtlich ignorierte sie den tiefen Abgrund zu
beiden Seiten der Felsspitze.
"Wir müssen uns nicht dafür verantworten,
dass die Nacht Einzug hält."
Ansalion zeigte weiterhin keine Reaktion.
"Wir sind niemandem verpflichtet. Wir haben
keine Versprechen gegeben. Und wir haben nicht in unserer Wachsamkeit versagt."
Ansalion neigte fragend den Kopf. Der rüstige
Mann strahlte die gelassene Weisheit des weltgereisten Gelehrten aus, aber
seine Augen funkelten wie glimmende Bernsteine voll unerschöpflicher
Neugierde und jugendlicher Spitzbübigkeit. Seine Stimme war scharf
und berechnend. "Du willst damit sagen, dass die jungen Völker diese
Strafe verdient haben?"
"Nein, nicht verdient", entgegnete Shelassia.
"Niemand hat dieses Schicksal - oder diese Strafe, wie du es nennst - verdient.
Am allerwenigsten die Männer, Frauen und Kinder, deren Heime hier
unter uns brennen. Und die einer grauenvollen Zukunft entgegen sehen, sollte
der Nachtkönig die ganze Welt mit seiner Finsternis überdecken."
"Warum sollten wir uns dann nicht einmischen?
Ich sehe, dass deine Trauer der meinen nicht im Geringsten nachsteht -
wenn sie nicht sogar stärker ist."
Shelassia neigte bekümmert ihren Kopf
ohne jedoch ihrem Gegenüber eine Antwort schuldig zu bleiben. "Es
ist nicht unsere Angelegenheit. Schon immer sind Reiche entstanden und
wieder zerrissen worden. Völker haben sich zusammengeschlossen und
wurden wieder entzweit. Und sogar ganze Rassen wurden erschaffen und verschwanden
wieder. So ist der Lauf der Zeit. So haben wir es seit Anbeginn der Schöpfung
verfolgen können. Wir selber haben unsere Lektionen gelernt, was geschieht,
wenn wir Hand an die Schöpfung legen."
Ansalion nickte versonnen. "Ja, ja. Die Wege
der Schöpfung. Der Zyklus von Geburt und Grabgesang." Der goldhaarige
Mann hob seinen Kopf und blickte Shelassia direkt in die Augen. "Sag, was
wäre, wenn auch unsere Zeit abliefe?"
Shelassia erstarrte. "Das ist unvorstellbar."
"Bist du dir da sicher?"
"Wir waren die Ersten. Uns hat es schon immer
gegeben." Shelassia spürte wie der Wind um sie herum zunahm. Aus Wirbeln
wurden Strudel und kalte, unberechenbare Windböen schickten ihr Klagelied
durch die Klippen und Klüfte der umgebenden Felsen. Doch anstatt sich
einige Schritte von der exponierten Felsspitze zu entfernen, weckte der
Wind Shelassias Kräfte und stärkte ihre Zuversicht.
"Aber wenn es eines Tages soweit käme",
gab Ansalion zu bedenken, "würden wir dann nicht auch alles versuchen,
um uns diesem Schicksal zu widersetzen?" Auch er schien förmlich zu
wachsen, als die Winde um sie herum an Wildheit und Stärke zunahmen.
Stolz richtete Shelassia sich auf. Engelshaften
Fanfaren gleich erhob sie ihre Stimme: "Wir würden kämpfen und
ich bezweifle, dass jemand die Macht aufbringen könnte uns zu widerstehen."
Ansalion lachte leise. Nicht hämisch,
sondern nachdenklich. "Und was war mit dem Evaloch, der dich damals beinahe
unter dem ewigen Eis verbannte?"
Shelassia zuckte zusammen. Ihre Stimme bebte
kaum merklich, als sie Ansalion antwortete. "Das war vor Tausenden von
Jahren. Und hier stehe ich auf dieser Zinne und nicht diese Kreatur." Die
zeitlos schöne Frau hatte sich wieder gefasst und fügte selbstbewusst
hinzu: "Haben wir jemals unsere Probleme nicht selber lösen können?"
"Haben wir wirklich?" Mit einer knappen Bewegung
hielt Ansalion Shelassia von ihrer Antwort ab. "Was ist mit den Wölfen,
die ihr Reich für unseresgleichen seit einer Ewigkeit versperren?"
"Auch sie sind eine Schöpfung der ersten
Tage und verfügen somit über mehr Handhabe uns gegenüber
als irgendeine andere Kraft", murrte Shelassia. Ihre Stimme klang jetzt
weniger wie strahlendes Glockengeläut, sondern vielmehr wie das bedrohliche
Surren vibrierender Geigen. Ihre smaragdleuchtenden Augen verjüngten
sich zu gefährlichen Schlitzen. "Und wenn ich wollte, könne ich
ihre magischen Barrieren überwinden. Du weißt das."
"Und was war mit den Ahaldamar?"
Shelassia entgegnete seinem herausforderndem
Blick mit eisigem Trotz: "Sie sind Vergangenheit und schlummern ihren ewigen
Schlaf."
"Ja, so wird es wohl sein."
"Du siehst", schlussfolgerte Shelassia, "wir
sind bislang mit jeder Bedrohung fertig geworden. Wer, frage ich dich,
sollte unsere Existenz gefährden?"
Ansalion antworte ihr dieses Mal nicht. Nur
das Heulen des Windes unterbrach die schweigende Stille zwischen den beiden
Gestalten auf der hohen Felsspitze. Dann - ohne eine Geste der Einleitung
- hob der goldhaarige Mann seinen Arm und streckte ihn auffordernd Shelassia
hin. "Komm, ich will dir etwas zeigen."
Shelassia hatte sich inzwischen ein wenig
beruhigt und hob ihrerseits langsam einen Arm. Die Entfernung zwischen
ihnen war gerade so groß, dass sich ihre Finger berühren konnten.
Der aufbrausende Wind umspielte ihrer beider Haare und zerrte übermütig
an ihren prachtvollen Gewändern. Fragend blickte sie Ansalion an.
Dieser schüttelte entschlossen den Kopf.
"Nicht hier."
Ohne Furcht und ohne Zögern vollendete
Shelassia die Geste und schloss den Kontakt zu ihrem Gefährten.
© Elfenfeuer
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