Der Elfenlord von Bastian Bernig
Der versklavte Gott

Und dann konnte man es sehen, ein kleines verschrumpeltes Wesen. Die Dorfbewohner beteten immer noch, aber einige von ihnen standen nun auf und gingen auf das Wesen zu. Der Hohepriester sprach: "Die allgemeine Danksagung ist hiermit beendet, beginnt nun mit der speziellen."
Eine Frau trat vor und rief: "Danke für das heutige Frühstück, es war viel besser als sonst!" Das Wesen begann kreischend zu sprechen: "Dein Lob ehrt mich und meine Macht, dritte Mittelpriesterin zweiten Ranges. Mir stand für das Frühstück neue Energie zur Verfügung."
"Wie, neue Energie?", fragte der Hohepriester.
"Ein Wesen mit sehr großer Energie hat das Dorf betreten", erklärte das Wesen.
"Wo ist dieses Wesen jetzt?", wollte der oberste Priester wissen. Es schloss die Augen und konzentrierte sich. Plötzlich lief Xuji ein kalter Schauer über den Rücken und das Wesen antwortete: "Dort oben, in der Loge der Nachsicht." Nun sah das ganze Dorf zu ihnen.
"Fangt sie!", rief der Hohepriester, woraufhin alle zum Eingang stürmten und sich gegenseitig den Weg blockierten. Kora sprang reflexartig auf und zog den Druiden mit sich. Sie hatten schon das Haupttor des Tempels erreicht, bevor die Bewohner des Dorfes sich ordnen und die Verfolgung aufnehmen konnten.
Doch auf dem Dorfplatz holten sie schließlich auf. Xuji stellte sich vor Kora, doch diese stieß ihn wieder hinter sich und rief: "Die wollen dich und nicht mich!"
"Ja, und es ist ihnen egal, wenn dir dabei etwas passiert", erwiderte er und stellte sich neben sie. Tatsächlich versuchten die Dorfbewohner, Kora von dem Druiden zu trennen.
Und dabei gingen sie nicht sehr sanft zu Gange. Schließlich traf eine Keule den Hinterkopf der Jugendlichen und es wurde ihr schwarz vor Augen.
Der Kampf verlief auch nicht gut für Xuji, die Macht des Gottes schützte die Priester wirksam vor seiner Druidenmagie. Dazu kam die schiere Überzahl seiner Gegner und als dann einer von ihnen die bewusstlose Kora in den Armen hielt, war der Kampf entschieden. Ein älterer Mann nahm ihm seinen Stab und `Sgareks Beutel ab und untersuchte seine Robe nach weiteren Waffen. Als er keine fand, führten sie ihn wieder in den Tempel ab. Die höheren Priester brachten ihn mit der Winde hinab in die Tiefen, aus der der Gott gekommen war. Auf die Steinplatten folgten unbehauene Felswände, die schließlich in eine riesige Höhle mündeten. Der größte Teil davon lag im Dunkeln, aber in der Nähe der Winde stand ein Käfig. Daneben saß, auf einem Felsbrocken, der Gott des Dorfes. Er sah Xuji traurig an, wie einen neuen Zellengenossen! Die Priester steckten ihn in den Käfig und ließen ihn durch den Gott versiegeln. Dann stiegen sie wieder auf die Winde und verschwanden.
"Ich bitte dich, lass mich frei", rief der Druide und das Wesen streckte schon einen Arm aus, doch er hielt sich zurück.
"Warum tust du es nicht?", fragte der Jugendliche. "Ein starker Gott gibt den Wünschen seiner Gläubiger nur nach, wenn er will. Ein schwacher Gott gibt jedem Wunsch nach, ich dachte, ihr wärt ebenfalls einer?"
"Das bin ich, aber der Wunsch der Hohepriester wiegt schwerer wie deiner", erklärte der Gott leise. Xuji schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Bann, der ihn gefangen hielt, doch je stärker er gegen den Zauber ankämpfte, desto schwächer wurde der Druide.
"Ziemlich ausgeklügelt", meinte er keuchend als er aufgab.
"Die Priester von heute sind ziemlich klug", stimmte der Gott zu, "unter der Dummheit der Menschen herrschte ich einst als starker Gott, in der heutigen Zeit gelingt das den wenigsten! Aber wenigstens existiere ich noch, zu viele meiner Art hat man vergessen."
Xuji nickte verstehend, bis er sich den ersten Satz noch einmal in Gedanken durchnahm. Dann meinte er: "Sie waren einmal ein starker Gott?"

Kora erwachte mit leichten Kopfschmerzen im Gästehaus des Dorfes, sie riss sich hoch und blickte sich um. Die Jugendliche konnte Xuji nirgends sehen, nur sein Stab und sein Beutel lagen auf dem Tisch. Sie wollte hinaus, doch die Tür war verschlossen, die Fenster ebenso und der Kamin hatte ein Gitter. Auch im Bad fand sie keine Fluchtmöglichkeit. Erschöpft ließ Kora sich auf das Bett sinken.
"Wie bin ich nur in diesen Schlamassel gekommen?", fragte sie sich leise und sah sich im Raum um. Dann verharrte ihr Blick auf dem Beutel. Obwohl sie beim letzen Mal fast die Hand verloren hätte, griff die Diebin hinein, und nichts geschah. Sie fühlte viele Fläschchen, Innentaschen und Schriftrollen. Kora ergriff eine davon willkürlich und seufzte erleichtert auf, als sie sah, dass der Text in einem nepischen Dialekt geschrieben war, den sie kannte. Als die Jugendliche ihn las, regte sich ein Lächeln in ihrem Gesicht, das schnell zu einem Grinsen wuchs.

"Zu Zeiten Fliqs war ich der Herrscher, wie auch in den darauffolgenden Jahrhunderten. Bis einer der Dörflinge in die Südstädte ging, um dort zu studieren", erzählte der Gott. "Giras, so lautete sein Name, kehrte mit viel Wissen zurück, Wissen, das für mich sehr gefährlich war. Es machte mich schwach, und so schuf er vor neun Jahrzehnten das Priestertum als einzigen Beruf. Die Menge der Priester sollte mich gefügig machen. Und so geschah es!"
"Und nachdem Sie nicht mehr genug Energie für die Wünsche aus sich selbst und den Dorfbewohnern ziehen konnten, mussten sie die Natur um das Dorf herum aussaugen", fügte Xuji hinzu.
"Jetzt wage ich nicht einmal mehr das, aber du löst dieses Problem", erklärte der Gott freudig.
"Das sehe ich aber nicht so, ich werde in viel kürzerer Zeit ausgesaugt sein als die Natur", widersprach der Jugendliche.
"Ich habe keine Wahl", betonte der Gott.
"Man hat immer eine Wahl!", schrie der Druide.
Traurig sah der Gott ihn an und nickte: "Ich hatte die Wahl, und ich traf die falsche Entscheidung. Giras fütterte meinen Stolz, er versprach mir Hunderttausende von Gläubigern und ich ließ mich darauf ein. Nun ist es zu spät."
"Was werden sie mit Kora machen?", fragte Xuji und versuchte sich zu beruhigen.
"Schwer zu sagen, sie wird wahrscheinlich den gleichen Luxus bekomen wie die Dorfbewohner, ich denke allerdings nicht, dass sie es wagen, sie freizulassen", antwortete der Gott, "seit Jahren ist niemand mehr gekommen, vielleicht fürchten die Priester, sollten sie deine Freundin laufen lassen, dass sie mit anderen zurück kommt."
"Glaubt ihr, dass sie sie laufen lassen wenn, ich ihnen Kooperation anbiete?", wollte der Jugendliche wissen. Der Gott schüttelte den Kopf und rief: "Nein, sie wissen, dass ich dir deine Energie auch ohne deine Zustimmung aussaugen kann. Du bist nicht in der Lage zu verhandeln, genau wie ich!"
"Wie wäre es dann mit kämpfen?", fragte Xuji und ballte seine Hand zur Faust. Mit dieser schlug er dann gegen den Felsboden.
"Ich kann mich nicht gegen sie wenden und du kannst deine Magie hier nicht einsetzen", widersprach der Gott.
"Sicher?", fragte der Druide mit einem Grinsen.
Plötzlich bekam der Boden unter ihm einen kleinen Riss und eine Wurzel erschien daraus. Der Gott starrte ungläubig zuerst auf die Wurzel und dann auf den Jugendlichen.
"Aber das kann nicht sein", widersprach der Gott, "das gesamte Felsgestein hier ist von meiner Macht erfüllt!"
"Es war erfüllt von ihrer Macht. Habt ihr vergessen, dass ihr eure Kräfte verbraucht habt?", fragte Xuji.
"Aber die Natur hier ist genauso verbraucht!", rief der Gott. Darauf wusste auch der Jugendliche keine Antwort. Ratlos sah er sich, zum ersten Mal richtig, in seinem Käfig um. Da war die Pritsche, auf der er saß. Eine Schüssel, in der offenbar einmal Wasser gewesen war, und eine Spiegelscherbe. Diese hob er auf und betrachtete damit sein Spiegelbild. Der Druide wusste, dass es Menschen gab, die durch ihre besonderen magischen Kräfte in Spiegeln die Zukunft sehen konnten. Aber er gehörte nicht dazu. Trotzdem tauchte, wie aus dem Nichts, eine Frage in seinen Gedanken auf. Xuji stellte sie dem Gott: "Ist in all diesen Jahrzehnten nie jemand in das Dorf gekommen?"
"Nein, irgendwie hatte Giras es geschafft, jeden fernzuhalten", antwortete der Gott, "bis auf eine Person, die vor etwa fünfzig Jahren kam, aber sie war kein Mensch, das konnte ich an ihrer Aura fühlen."
"Erzählt es mir genauer", verlangte der Jugendliche.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Elbe war", erklärte der Gott, "aber er war nur ein paar Stunden hier, bevor Giras ihn vertrieb. Als ich ihn später darauf ansprach, meinte er, ich hätte mich geirrt und es wäre nie ein Elbe hier gewesen. Damals bekam ich meine ersten Zweifel!"
"Seid ihr euch sicher, dass er nicht irgendetwas besonderes gemacht hat?", fragte der Druide aufgeregt.
"Es gab einen komischen Energieausstoß, ich vermutete, dass es irgendein Elbenzauber war", antwortete der Gott.
"Ist sonst nichts ungewöhnliches mehr passiert? Vielleicht auch erst nach einiger Zeit", meinte Xuji.
"Nun, nachdem er verschwunden war, verbrauchten sich die Energiereserven der Natur irgendwie schneller", fügte der Gott hinzu, "aber das habe ich nie miteinander in Verbindung gebracht."
"Das hättet ihr aber tun sollen", rief der Jugendliche und streckte die Hand nach der Wurzel aus, "die Natur hier ist nicht tot, wir haben uns geirrt. Ich fand es schon komisch, dass die Energie, die die Natur in Millionen von Jahren gesammelt hat, innerhalb von neunzig Jahren verbraucht sein soll. Und das war sie auch nicht. Dieser Elbe hat die Natur tief in der Erde verankert. So tief, dass selbst ihr und sogar ich sie nicht spüren konnte."
"Heißt das, die Pflanzen und Tiere könnten wieder zurückkehren?", fragte der Gott freudig.
"Ich könnte es vermutlich bewerkstelligen, aber davor müssen die Menschen erkennen, dass sie wieder selbst arbeiten müssen und ein oder zwei Priester genügen", antwortete Xuji.
"Das hört sich gut an, ein bisschen ehrliche Arbeit würde bei diesen Typis Wunder wirken", stimmte Kora zu. Überrascht drehten sich der Gott und der Jugendliche zu ihr um.
"Wie komms...?", begann der Druide, verstummte aber, als ihm klar wurde, dass er durch sie hindurch sehen konnte.
 

© Bastian Bernig
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