Und dann konnte man es sehen, ein kleines verschrumpeltes Wesen.
Die Dorfbewohner beteten immer noch, aber einige von ihnen standen nun
auf und gingen auf das Wesen zu. Der Hohepriester sprach: "Die allgemeine
Danksagung ist hiermit beendet, beginnt nun mit der speziellen."
Eine Frau trat vor und rief: "Danke für das heutige Frühstück,
es war viel besser als sonst!" Das Wesen begann kreischend zu sprechen:
"Dein Lob ehrt mich und meine Macht, dritte Mittelpriesterin zweiten Ranges.
Mir stand für das Frühstück neue Energie zur Verfügung."
"Wie, neue Energie?", fragte der Hohepriester.
"Ein Wesen mit sehr großer Energie hat das Dorf betreten",
erklärte das Wesen.
"Wo ist dieses Wesen jetzt?", wollte der oberste Priester wissen.
Es schloss die Augen und konzentrierte sich. Plötzlich lief Xuji ein
kalter Schauer über den Rücken und das Wesen antwortete: "Dort
oben, in der Loge der Nachsicht." Nun sah das ganze Dorf zu ihnen.
"Fangt sie!", rief der Hohepriester, woraufhin alle zum Eingang
stürmten und sich gegenseitig den Weg blockierten. Kora sprang reflexartig
auf und zog den Druiden mit sich. Sie hatten schon das Haupttor des Tempels
erreicht, bevor die Bewohner des Dorfes sich ordnen und die Verfolgung
aufnehmen konnten.
Doch auf dem Dorfplatz holten sie schließlich auf. Xuji stellte
sich vor Kora, doch diese stieß ihn wieder hinter sich und rief:
"Die wollen dich und nicht mich!"
"Ja, und es ist ihnen egal, wenn dir dabei etwas passiert", erwiderte
er und stellte sich neben sie. Tatsächlich versuchten die Dorfbewohner,
Kora von dem Druiden zu trennen.
Und dabei gingen sie nicht sehr sanft zu Gange. Schließlich
traf eine Keule den Hinterkopf der Jugendlichen und es wurde ihr schwarz
vor Augen.
Der Kampf verlief auch nicht gut für Xuji, die Macht des Gottes
schützte die Priester wirksam vor seiner Druidenmagie. Dazu kam die
schiere Überzahl seiner Gegner und als dann einer von ihnen die bewusstlose
Kora in den Armen hielt, war der Kampf entschieden. Ein älterer Mann
nahm ihm seinen Stab und `Sgareks Beutel ab und untersuchte seine Robe
nach weiteren Waffen. Als er keine fand, führten sie ihn wieder in
den Tempel ab. Die höheren Priester brachten ihn mit der Winde hinab
in die Tiefen, aus der der Gott gekommen war. Auf die Steinplatten folgten
unbehauene Felswände, die schließlich in eine riesige Höhle
mündeten. Der größte Teil davon lag im Dunkeln, aber in
der Nähe der Winde stand ein Käfig. Daneben saß, auf einem
Felsbrocken, der Gott des Dorfes. Er sah Xuji traurig an, wie einen neuen
Zellengenossen! Die Priester steckten ihn in den Käfig und ließen
ihn durch den Gott versiegeln. Dann stiegen sie wieder auf die Winde und
verschwanden.
"Ich bitte dich, lass mich frei", rief der Druide und das Wesen
streckte schon einen Arm aus, doch er hielt sich zurück.
"Warum tust du es nicht?", fragte der Jugendliche. "Ein starker
Gott gibt den Wünschen seiner Gläubiger nur nach, wenn er will.
Ein schwacher Gott gibt jedem Wunsch nach, ich dachte, ihr wärt ebenfalls
einer?"
"Das bin ich, aber der Wunsch der Hohepriester wiegt schwerer wie
deiner", erklärte der Gott leise. Xuji schloss die Augen und konzentrierte
sich auf den Bann, der ihn gefangen hielt, doch je stärker er gegen
den Zauber ankämpfte, desto schwächer wurde der Druide.
"Ziemlich ausgeklügelt", meinte er keuchend als er aufgab.
"Die Priester von heute sind ziemlich klug", stimmte der Gott zu,
"unter der Dummheit der Menschen herrschte ich einst als starker Gott,
in der heutigen Zeit gelingt das den wenigsten! Aber wenigstens existiere
ich noch, zu viele meiner Art hat man vergessen."
Xuji nickte verstehend, bis er sich den ersten Satz noch einmal
in Gedanken durchnahm. Dann meinte er: "Sie waren einmal ein starker Gott?"
Kora erwachte mit leichten Kopfschmerzen im Gästehaus des Dorfes,
sie riss sich hoch und blickte sich um. Die Jugendliche konnte Xuji nirgends
sehen, nur sein Stab und sein Beutel lagen auf dem Tisch. Sie wollte hinaus,
doch die Tür war verschlossen, die Fenster ebenso und der Kamin hatte
ein Gitter. Auch im Bad fand sie keine Fluchtmöglichkeit. Erschöpft
ließ Kora sich auf das Bett sinken.
"Wie bin ich nur in diesen Schlamassel gekommen?", fragte sie sich
leise und sah sich im Raum um. Dann verharrte ihr Blick auf dem Beutel.
Obwohl sie beim letzen Mal fast die Hand verloren hätte, griff die
Diebin hinein, und nichts geschah. Sie fühlte viele Fläschchen,
Innentaschen und Schriftrollen. Kora ergriff eine davon willkürlich
und seufzte erleichtert auf, als sie sah, dass der Text in einem nepischen
Dialekt geschrieben war, den sie kannte. Als die Jugendliche ihn las, regte
sich ein Lächeln in ihrem Gesicht, das schnell zu einem Grinsen wuchs.
"Zu Zeiten Fliqs war ich der Herrscher, wie auch in den darauffolgenden
Jahrhunderten. Bis einer der Dörflinge in die Südstädte
ging, um dort zu studieren", erzählte der Gott. "Giras, so lautete
sein Name, kehrte mit viel Wissen zurück, Wissen, das für mich
sehr gefährlich war. Es machte mich schwach, und so schuf er vor neun
Jahrzehnten das Priestertum als einzigen Beruf. Die Menge der Priester
sollte mich gefügig machen. Und so geschah es!"
"Und nachdem Sie nicht mehr genug Energie für die Wünsche
aus sich selbst und den Dorfbewohnern ziehen konnten, mussten sie die Natur
um das Dorf herum aussaugen", fügte Xuji hinzu.
"Jetzt wage ich nicht einmal mehr das, aber du löst dieses
Problem", erklärte der Gott freudig.
"Das sehe ich aber nicht so, ich werde in viel kürzerer Zeit
ausgesaugt sein als die Natur", widersprach der Jugendliche.
"Ich habe keine Wahl", betonte der Gott.
"Man hat immer eine Wahl!", schrie der Druide.
Traurig sah der Gott ihn an und nickte: "Ich hatte die Wahl, und
ich traf die falsche Entscheidung. Giras fütterte meinen Stolz, er
versprach mir Hunderttausende von Gläubigern und ich ließ mich
darauf ein. Nun ist es zu spät."
"Was werden sie mit Kora machen?", fragte Xuji und versuchte sich
zu beruhigen.
"Schwer zu sagen, sie wird wahrscheinlich den gleichen Luxus bekomen
wie die Dorfbewohner, ich denke allerdings nicht, dass sie es wagen, sie
freizulassen", antwortete der Gott, "seit Jahren ist niemand mehr gekommen,
vielleicht fürchten die Priester, sollten sie deine Freundin laufen
lassen, dass sie mit anderen zurück kommt."
"Glaubt ihr, dass sie sie laufen lassen wenn, ich ihnen Kooperation
anbiete?", wollte der Jugendliche wissen. Der Gott schüttelte den
Kopf und rief: "Nein, sie wissen, dass ich dir deine Energie auch ohne
deine Zustimmung aussaugen kann. Du bist nicht in der Lage zu verhandeln,
genau wie ich!"
"Wie wäre es dann mit kämpfen?", fragte Xuji und ballte
seine Hand zur Faust. Mit dieser schlug er dann gegen den Felsboden.
"Ich kann mich nicht gegen sie wenden und du kannst deine Magie
hier nicht einsetzen", widersprach der Gott.
"Sicher?", fragte der Druide mit einem Grinsen.
Plötzlich bekam der Boden unter ihm einen kleinen Riss und
eine Wurzel erschien daraus. Der Gott starrte ungläubig zuerst auf
die Wurzel und dann auf den Jugendlichen.
"Aber das kann nicht sein", widersprach der Gott, "das gesamte Felsgestein
hier ist von meiner Macht erfüllt!"
"Es war erfüllt von ihrer Macht. Habt ihr vergessen, dass ihr
eure Kräfte verbraucht habt?", fragte Xuji.
"Aber die Natur hier ist genauso verbraucht!", rief der Gott. Darauf
wusste auch der Jugendliche keine Antwort. Ratlos sah er sich, zum ersten
Mal richtig, in seinem Käfig um. Da war die Pritsche, auf der er saß.
Eine Schüssel, in der offenbar einmal Wasser gewesen war, und eine
Spiegelscherbe. Diese hob er auf und betrachtete damit sein Spiegelbild.
Der Druide wusste, dass es Menschen gab, die durch ihre besonderen magischen
Kräfte in Spiegeln die Zukunft sehen konnten. Aber er gehörte
nicht dazu. Trotzdem tauchte, wie aus dem Nichts, eine Frage in seinen
Gedanken auf. Xuji stellte sie dem Gott: "Ist in all diesen Jahrzehnten
nie jemand in das Dorf gekommen?"
"Nein, irgendwie hatte Giras es geschafft, jeden fernzuhalten",
antwortete der Gott, "bis auf eine Person, die vor etwa fünfzig Jahren
kam, aber sie war kein Mensch, das konnte ich an ihrer Aura fühlen."
"Erzählt es mir genauer", verlangte der Jugendliche.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Elbe war", erklärte
der Gott, "aber er war nur ein paar Stunden hier, bevor Giras ihn vertrieb.
Als ich ihn später darauf ansprach, meinte er, ich hätte mich
geirrt und es wäre nie ein Elbe hier gewesen. Damals bekam ich meine
ersten Zweifel!"
"Seid ihr euch sicher, dass er nicht irgendetwas besonderes gemacht
hat?", fragte der Druide aufgeregt.
"Es gab einen komischen Energieausstoß, ich vermutete, dass
es irgendein Elbenzauber war", antwortete der Gott.
"Ist sonst nichts ungewöhnliches mehr passiert? Vielleicht
auch erst nach einiger Zeit", meinte Xuji.
"Nun, nachdem er verschwunden war, verbrauchten sich die Energiereserven
der Natur irgendwie schneller", fügte der Gott hinzu, "aber das habe
ich nie miteinander in Verbindung gebracht."
"Das hättet ihr aber tun sollen", rief der Jugendliche und
streckte die Hand nach der Wurzel aus, "die Natur hier ist nicht tot, wir
haben uns geirrt. Ich fand es schon komisch, dass die Energie, die die
Natur in Millionen von Jahren gesammelt hat, innerhalb von neunzig Jahren
verbraucht sein soll. Und das war sie auch nicht. Dieser Elbe hat die Natur
tief in der Erde verankert. So tief, dass selbst ihr und sogar ich sie
nicht spüren konnte."
"Heißt das, die Pflanzen und Tiere könnten wieder zurückkehren?",
fragte der Gott freudig.
"Ich könnte es vermutlich bewerkstelligen, aber davor müssen
die Menschen erkennen, dass sie wieder selbst arbeiten müssen und
ein oder zwei Priester genügen", antwortete Xuji.
"Das hört sich gut an, ein bisschen ehrliche Arbeit würde
bei diesen Typis Wunder wirken", stimmte Kora zu. Überrascht drehten
sich der Gott und der Jugendliche zu ihr um.
"Wie komms...?", begann der Druide, verstummte aber, als ihm klar
wurde, dass er durch sie hindurch sehen konnte.
© Bastian
Bernig
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