Ein Fremder in der Nacht von Falcon An Cu
1: Der Geschichtenerzähler (1)

Die Tür des Gasthauses wurde durch einen kräftigen Windstoß aufgeschlagen. Gerion, der Wirt, fluchte über dieses Unwetter, das nun schon seit Tagen über das Land fegte. Die Gäste blieben seinem Haus nun schon seit fünf Tagen fern. Die einzigen Gäste, die sein Haus seit diesem Unwetter nicht mehr verlassen hatten, waren Männer aus der Mannschaft der "Seevogel", einem Kriegschiff aus Umbar. Die, soviel Gerion wusste, noch keinen Sold bekommen hatten.
Gerade als er die Tür schließen wollte, trat eine in Umhänge gehüllte Gestalt durch den Eingang. Seine Kleidung war nass und hing schwer an dem Fremden herunter. Dennoch sah Gerion sofort, dass dieser neue Gast ein wohlhabender Mann sein musste. Er schloss die Tür, drehte sich mit seinem freundlichsten Gesicht um und sah, dass der Fremd schon an dem Kamin stand, der sich mitten in der Gaststube befand. "Sehr geehrter Herr, bitte legt doch euren nassen Umhang ab, und trinkt einen Wein um euch zu erwärmen." Gerion versuchte ein Gespräch anzufangen. "Es ist ein fürchterliches Unwetter, das uns heimgesucht hat. Doch hier in meinem Haus seid ihr sicher." Er lächelte, als er sah, dass der Fremde seiner Aufforderung nachkam und seinen Umhang auszog. Eine schlanke Gestalt mit blauschwarzem Haar kam zum Vorschein. Als er sich umdrehte, sah Gerion sofort, dass er Elbenblut in den Adern haben musste; seine Haut war hell und diese Augen würde er nicht so schnell vergessen. "Wie zwei Sterne in der Nacht", hat er in späteren Zeiten immer seiner Enkelin erzählt. "Nun guter Wirt, spracht ihr nicht von einem Wein zum Erwärmen und eine Kleinigkeit zum Essen wäre sicherlich auch nicht zu verachten, mein guter Mann. Es sei denn, ihr wollt mich noch eine Weile mustern, ich wäre gerne bereit mich ein wenig im Kreis zu drehen." Der Fremde lächelte, als er das sagte. Gerion lief puterrot an, verbeugte sich und lief in die Küche um sein bestes Mahl zu holen. Kurze Zeit später saß der Fremde an einem Tisch nahe beim Kamin und trank einen hellen Wein aus Dowinadan, dazu gab es eine Fischsuppe und frisches Brot. Gerion stand hinter seinem Tresen und beobachtete ihn verstohlen. Seine anderen Gäste hatten allem Anschein nach nicht mitbekommen, dass ein neuer Gast eingetroffen war. Sie waren versorgt. Es musste ein Elb sein, oder zumindest ein Halbelb, da war sich Gerion sicher; er hatte schon Elben gesehen. Der Fürst dieser Stadt war ein Elb, allerdings bekam er ihn nicht sonderlich oft zu Gesicht. Wenn sich nur herumspräche, dass ein Elb bei ihm zu Gast war, würde sein Gasthaus auch trotz des Sturms wieder laufen. Er war so in seinen Gedanken versunken, dass er zuerst die feine Stimme gar nicht wahrnahm. Sein Gast sang, und es war so wunderschön, dass selbst die trunkenen Seeleute still waren um seiner Stimme zu lauschen. Es war ein Lied über Earendil den Halbelb. Als der Fremde endete, standen Tränen in Gerions Augen. Eine Stille hatte sich im Gasthaus ausgebreitet, die keiner der Anwesenden zu brechen wagte. 
Der Elb stand auf, ging auf Gerion zu und reichte ihm einige Münzen. "Für das ausgezeichnete Mahl, guter Mann. Sagt, hättet ihr unter Umständen ein Zimmer für mich? Und hättet ihr etwas dagegen, wenn ich einige Tage bleibe und eventuell abends meine Geschichten erzähle? Ich bin Lindan Sato und meine Wege waren lang von den grauen Anfurten bis Dol Banred, dieser schönen Stadt."

Die Nacht war vergangen, der Sturm hingegen nicht. Der Himmel war dunkel und es war viel zu kalt für den Narbeleth. So langsam machte sich Gerion sorgen um sein Haus, wenn die Gäste noch länger ausblieben würde er seine Familie bald nicht mehr ernähren können. Und nachdem sein seltsamer Gast die Stube verlassen hatte um auf sein Zimmer zu gehen, waren auch die Seeleute nach einigen Minuten gegangen.

Normalerweise hätte er erst zum Abend geöffnet, doch heute hörte er schon am frühen Mittag Stimmen vor seinem Haus. Als er aus dem Fenster schaute, sah er einige Seeleute der "Seevogel", die Einlass begehrten. Aber auch Bürger der Stadt, die er seit Tagen nicht mehr gesehen hatte, standen vor seiner Tür. "Lass uns rein, Gerion. Wir wollen den Sänger hören, den du in deinem Haus wohnen lässt", rief ein wohlhabender Händler. Kurze Zeit später war seine Gaststube gut gefüllt und alle Sorgen des Morgens waren vergessen. Die Gerüchte um einen Sänger hatten die Runde gemacht, um einen Fremden, dessen Stimme so wunderschön war, dass sie jeden Zuhörer verzauberte.
"Es soll ein Elb sein", sagte eine Frau in einem grünen Kleid. "Elben gehen nicht in ein Gasthaus von uns Menschen, diese Zeiten sind vorbei", entgegnete ein alter Greis. "Die Geschichten kommen wahrscheinlich von Gerion selber", rief Thorondor, ein junger Soldat aus Pelargier. "Nun, das kommen sie nicht mein junger Freund." Eine wohlklingende Stimme kam vom oberen Ende der Treppe. "Ich bin zwar kein Elb, und ich weiß auch nicht, wie mein bierbrauender Freund darauf kommt, aber ich kann euch Geschichten über Elben erzählen wenn ihr wollt, und auch über Zwerge, Halblinge, ferne Länder und schreckliche Geschöpfe, die in der Dunkelheit der Nacht aus ihren Löchern kommen." In der Gaststube war es still geworden, denn Lindan stand da wie ein Fürst. Seine Kleidung war trocken, sein Haar zu einem Zopf geflochten und an seiner Seite hing ein kleiner juwelenbesetzter Dolch. Als er die Treppe herunter kam, löste sich die Spannung und alle fingen gleichzeitig an zu reden, stellten Fragen nach seiner Herkunft und seinen Reisen. Schon hatte sich eine Gruppe festgelegt, er müsse ein Elbenfürst aus Lorien sein, egal was er sagte; nur was wollte eine solche Persönlichkeit in Dol Banred. Lindan lächelte, sein Besuch hier in der Stadt würde ein alle Erwartungen übertreffen. Kaum war er hier, kaum hatte er den Mund aufgemacht und schon gab es Unstimmigkeiten unter den Bewohnern. "Wie wäre es, wenn Gerion uns etwas zu Trinken bringt und ich euch eine Geschichte erzähle, und vielleicht ist am Ende der Geschichte der Sturm vorüber und wir können alle lachen über die letzten Tage." Lindan hatte sich inzwischen wieder an seinen Tisch am Kamin niedergelassen hatte. Als er die Gesichter der Gäste sah, wusste er, dass er sie hatte. Nun würde seine Arbeit beginnen, aber das war es, was er am besten konnte, und so begann er seine Erzählung. "Es ist viele Sonnenjahre her...."
Viele Stunden später endete Lindan seine Geschichte, in der Gaststube herrschte gespenstische Stille. Während der Erzählung war die Zahl der Zuhörer noch gewachsen. Gerion konnte es kaum fassen, so viele Gäste hatte er schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Einige Minuten sagte niemand etwas, keiner wollte die Bilder verjagen, die Lindan mit seiner Geschichte heraufbeschworen hatte. Dann, als wenn jemand ein Zeichen gegeben hätte, fingen alle gleichzeitig an zu reden. Diskussionen über Narin und seine Suche nach seiner Schwester hielten die meisten davon ab, nach Hause zu gehen. Lange Zeit merkte niemand, dass Lindan auf sein Zimmer gegangen war. Thorondor, der seit dem frühen Morgen Wein getrunken hatte, wurde immer lauter um seine Meinung zu vertreten. Sein Gegenüber, ein Bauer aus der Umgebung, hielt dagegen. "Narin war ein guter Zwerg, er hätte seine Schwester nie in den Fängen der Orks gelassen, auch wenn sie in zehnfacher Übermacht gewesen wären, er hätte sie mit seiner Axt niedergemacht." Thorondor schrie sein Gegenüber an, wobei seine Hand schon auf dem Schwertgriff lag. "Nun das möchte ich nicht bestreiten, aber dadurch wären er und seine Schwester gestorben, also ich finde er hat richtig gehandelt, als er zurück ging um Hilfe zu holen, auch wenn das nicht so mutig war und nicht in dein Weltbild passt, mein Freund." Die Entgegnung des Bauern war ruhig. "Das ist typisch für euch, Landeier die heulend nach hause laufen wenn Gefahr droht. Und wir Soldaten dürfen euch dann wieder retten." Lindan hörte voller Genuss den Streit unten in der Stube. Er liebte es, doch er musste langsam vorgehen, durfte nicht zu schnell seine Karten aufspielen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Leute so schnell seinen Geschichten lauschen würden. In dieser Stadt würde er reiche Beute machen. Einige Stunden später war es in der Gaststube so voll, dass Gerion glaubte seine Vorräte würden den heutigen Abend nicht reichen. Er musste lange in seinen Erinnerungen graben, um sich an Zeiten wie diese zu erinnern. Lindan war noch nicht wieder erschienen; er ließ sein Publikum noch etwas warten, das würde die Spannung noch steigern. Er stand oben im Schatten, hörte den Gesprächen der Bürger zu und lächelte.
Nachdem einige Minuten verstrichen waren, trat Lindan aus dem Schatten. Er hatte seine Abendgarderobe angelegt, eine reich bestickte Weste in tiefem Blau, dazu passende Hosen und leichtes Schuhwerk. Auf seinen Dolch hatte er heute Abend verzichtet; Waffen wären heute unangebracht. Gerion trat eilig an den Fuß der Treppe und verschaffte Lindan Platz. "Herr, ich habe euch euren Platz freigehalten, nahe am Kamin, so wie ihr es gerne habt. Wollt ihr wieder den weißen Dorwinadan-Wein?" "Schaut nur wie übereifrig unser guter Gerion ist." Thorondor war inzwischen so betrunken, dass er nicht allein stehen konnte. Lindan sagte darauf nichts, Gerion hingegen lief rot an, murmelte etwas vor sich hin und verschwand in seiner Küche. Nachdem der Fremde sich gesetzt und einen Schluck getrunken hatte, fing er leise an zu reden. "Heute möchte ich euch eine Geschichte erzählen, wie sie trauriger nicht sein kann. Eine Geschichte voll Helden und Schurken und voll Liebe. Die Geschichte von Húrin und seinem Sohn Turin. Rian, Belagunds Tochter, war die Gattin von Huor", begann Lindan seine Geschichte und über lange Zeit hinweg sagte niemand etwas. Das einzige was zu hören war, war der Sturm, der mit ungebremster Gewalt über das Land tobte. Als Lindan Sato endete war es früh am Morgen. Niemand hatte gewagt etwas zu sagen in all der Zeit, selbst Thorondor hatte geschwiegen. "Ich werde heute das Haus verlassen", sagte Lindan. "Hat es euch nicht gefallen bei uns, haben wir was falsches gesagt, Herr?", fragte Gerion. "Ihr sagtet doch ihr wolltet einige Tage bleiben." Auch einige der Gäste fingen an zu murren. "Schau, dass du den Fremden überredest noch zu bleiben", riefen einige Gerion zu. Lindan lächelte. "Ich sagte nicht, dass ich abreise. Ich will mich nur etwas in der Stadt umsehen, und dafür muss ich das Haus verlassen. Am Abend werde ich wieder hier sein." 
Nachdem Lindan die Gaststube verlassen hatte, wurde es wieder laut. Niemand dachte daran nach hause zu gehen. "Also ich finde diesen Turin klasse", sagte Thorondor. "Wenn ich so ein Schwert hätte wie er, könnte ich auch einen Drachen töten. Das mit seiner Schwester war natürlich dumm", gestand er mit einem Grinsen. "Du hörst nicht richtig zu, du Tölpel!", rief Marleein, die Tochter des Schneiders. "Egal was Turin machte, egal wie viele Feinde er tötete, das Schicksal hat ihn immer eingeholt, und außerdem ist er durch sein prächtiges Schwert gestorben. So wie du eines Tages durch dieses alte Ding an deiner Seite sterben wirst." "Dieses alte Ding ist zufällig ein Erbstück von meinem Urgroßvater, das er aus einem Drachenhort geborgen hat", erwiderte Thorondor. "Und außerdem ist es magisch", fügte er verschwörerisch hinzu. "Das einzig magische daran ist der Rost", rief der alte Greis. Thorondor lief rot an, schaute sich um und sah überall nur Spott und Hohn in den Gesichtern. Mit schnellen Schritten verließ er das Gasthaus. Das letzte was er hörte, war schallendes Gelächter. Er lief durch die fast leeren Straßen, in seinem Kopf waren die Bilder seiner Mitbürger, die über ihn lachten und sich das Maul über ihn zerrissen. Aus Scham wurde Wut, Wut auf alle, die ihn auslachten, Wut darüber, dass er in so einer Zeit lebte und nicht wie Turin große Taten vollbringen konnte. Doch er würde es ihnen schon zeigen, besonders der Tochter des Schneiders. Er wusste nicht, wie lange er so durch die Straßen lief, er wusste auch nicht, wo er war, als ihn Stimmen vor ihm abhielten weiter zu laufen. "Ai na vedui! Mae govanna, mein alter Freund." Es war eine leise Stimme. "Wie kommst du voran mit deinem Plan, das Wetter unterstützt dich, nicht wahr?" "Ich habe dir gesagt, du sollst nicht hierher kommen, das ist zu gefährlich. Wenn dich jemand sieht, sind wir beide geliefert, also was willst du?" Diese Stimme kannte Thorondor, das war Lindan, der Fremde aus dem Gasthaus. Er schaute vorsichtig um die Straßenecke. "Dein Herr schickt mich. Du sollst dich in Acht nehmen. Der Fürst dieser Stadt steht unter dem Schutz einer höheren Wesensart, frage mich nicht nach mehr, denn mehr hat er nicht gesagt. Nur eins noch, benutze nicht deine Macht, sie wird dich verraten, vertraue deiner Stimme, sie wird dich weit genug bringen." Er übergab Lindan noch eine kleine Schatulle, dann verschwand er ohne einen Gruß in einer Nebengasse. Wenn das nicht verdächtig war, Thorondor würde diesen Geschichtenerzähler im Auge behalten, ja das würde er. Er versteckte sich hinter einem Kistenstapel, als Lindan an ihm vorbei kam. Thorondor folgte Lindan noch einige Straßen weit, doch nachdem er um eine Straßenbiegung kam, konnte er den Fremden nicht mehr sehen, er war wie vom Erdboden verschluckt. "Hmm, das kann doch nicht sein, so weit war er doch gar nicht vor mir", flüsterte er. "Kannst du mir sagen, warum du mir nachläufst? Kann ich dir helfen?" Thorondor erschrak bis ins Mark, Lindan hatte ihn hereingelegt. Sich wohl in einer Hausnische verbergend, war er jetzt hinter ihm. "Mist, was jetzt?" Seine Gedanken überschlugen sich, während er sich langsam umdrehte. Das bekannte Lächeln erwartet ihn, begleitet von einem Stirnrunzeln. "Ähmm, nun ich habe euch nicht verfolgt guter Herr, wir haben wohl den gleichen Weg." Sein Versuch sich heraus zu reden war schwach. "Lügt mich nicht an, ich habe euch schon gesehen, als ihr mich und meinen Diener beobachtet habt. Also was wollt ihr?" Lindan schrie und sein Lächeln war verschwunden. Wie um seine Worte zu unterstützen, schlug ein Blitz ganz in der Nähe ein. Der junge Soldat zuckte zusammen, er fasste allen Mut zusammen als er antwortete. "Ich habe euch zufällig gesehen, als ihr im Regen einen Gegenstand angenommen habt. Das hat mich misstrauisch gemacht, und ich beschloss euch zu folgen." Er zuckte abermals zusammen, das hatte er gar nicht sagen wollen. Das bekannte Lächeln war plötzlich wieder da. "Nun, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ihr habt nichts gesehen, auf jeden Fall nichts, was ihr jemandem erzählen werdet." Thorondor hatte nicht mitbekommen, dass Lindan seinen Dolch gezogen hatte. Er spürte nur diesen endgültigen stechenden Schmerz in der Magengrube und sah wieder dieses Lächeln. Dann wurde es dunkel.

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Es war kalt, unendlich kalt. Er fühlte sich elend, seine Kleider waren durchnässt, seine Glieder schwer wie Blei, aber er lebte. Er wusste nicht warum, aber er lebte. Thorondor versuchte sich aufzusetzen, alleine der Versuch war schon eine Qual. "Ich bin ein Soldat im Dienste des Königs, nun reiß dich zusammen." Er redete auf sich selber ein. Nach einigen Versuchen und einer Menge Schmerzen schaffte er es, sich mit dem Rücken gegen einige Kisten zu lehnen. "Er muss nicht richtig getroffen haben." Er untersuchte seine Wunde, es war nicht mehr als ein Kratzer. Warum nur tat sie dann so fürchterlich weh? Was sollte er jetzt nur machen? Niemand würde ihm glauben, alle standen sie unter dem Bann des Fremden. Sollten nur alle glauben, er hätte sich aus dem Staub gemacht; und Lindan sollte annehmen, er hätte ihn getötet. So konnte er ihn besser beschatten. Die Schmerzen vergingen viel zu schnell, irgendetwas stimmte nicht, soviel wusste Thorondor, er wusste nur nicht was. Nach einigen Minuten nahm er sein Schwert und stand auf, fast ohne Schmerz. Das Unwetter verzog sich, es würde eine gute Nacht werden. Er konnte nicht zurück ins Gasthaus, soviel war klar. Seinem Thangon hätte er sich vielleicht anvertrauen können, doch sein Hauptmann würde ihm nicht glauben, er konnte noch nie gut mit ihm. Nach langem Überlegen fasste er sich ein Herz und ging zu seinem Bruder. Er konnte ihn zwar nicht leiden, nachdem er das Erbe des Vaters dazu benutzt hatte, seltene Bücher zu kaufen, aber immerhin war er sein Bruder, er würde ihm helfen.

Elartar schaute seinen jüngeren Bruder lange an, er hatte die ganze Zeit bei seinen Ausführungen geschwiegen. Seine Stimme war ernst als er schließlich sprach. "Wie soll ich dir helfen, kleiner Bruder? Du lässt dich monatelang nicht bei mir blicken, und dann kommst du mit so einer haarsträubenden Geschichte. Hast du wieder getrunken?" Thorondor wusste nicht, was er sagen sollte. Elartar hatte recht, er hatte sich seit dem Tod des Vaters nicht um die Familie gekümmert, was konnte er jetzt erwarten. Er stand auf und wollte das Haus seines Bruders verlassen. "Nun lauf nicht gleich wieder weg, ich habe etwas für dich. Ein Brief von unserem Vater, er ist für dich und nur für dich." Thorondor nahm schweigend den Umschlag entgegen, den sein Bruder ihm hinhielt und öffnete ihn mit zitternden Fingern.

Mein lieber Sohn,
ich weiß, dass ich in den nächsten Tagen sterben werde. Da du unserem König Elessar dienst, wirst du nicht da sein. Ich mache dir keinen Vorwurf, denn ich war selber Soldat im Heer des Königs und wie du weißt war ich dabei, als der große Feind besiegt wurde. Mach die keine Sorgen um mich, mein Leben war lang und erfüllt, und ich sterbe in Frieden. Du solltest noch wissen, dass dein Schwert dir in vielen Situationen das Leben retten wird, und das nicht nur weil du gut damit umzugehen weißt. Es steckt Elbenmagie in ihm, denn es wurde von Aegnor dem Schmied im Zweiten Zeitalter geschmiedet, in den Tagen des Ruhmes in Ost-in-Edhil. Behandle die Klinge gut, sie wurde unseren Vorfahren als Geschenk übergeben, als Dank für unsere Hilfe. Denn wisse, wir stammen aus Númenor und unser Haus war einst mächtig unter den Mächtigen. Versuche, diesen Ruhm wieder herzustellen.

Tergil aus dem Haus Melevitar

Thorondor ließ den Brief seines Vaters nicht los, als er durch die Straßen von Dol Banred lief. Was er heute erfahren hatte, konnte er nicht glauben. Sein ganzes Leben hatte er davon geträumt etwas besonderes mit sich anzufangen. Er war gegen den Willen seines Vaters zur Armee gegangen, um wie er damals sagte, Ruhm zu erlangen. Doch schnell hatte er herausgefunden, dass er alles andere als Ruhm auf dem Schlachtfeld fand. Das große Böse war besiegt und die gelegentlichen Grenzstreitigkeiten wurden meistens durch die bloße Drohung der Macht Gondors beigelegt. Und jetzt, mit einem Schlag, änderte sich alles. Er war ein Erbe aus Númenor und seine Waffe, die er stets bei sich trug, wurde von einem der bekanntesten Elbenschmiede hergestellt. Jetzt taten sich ganz neue Möglichkeiten auf. Sein Problem war nur, er wusste nicht welche. Er musste mit jemandem reden, über sich und auch über diesen Fremden in Gerions Gasthaus. Er dachte daran, Hauptmann Deron aufzusuchen, entschied sich dann aber doch für den Fürsten Ecthelion. Er hatte bisher noch nie mit ihm gesprochen, aber nach allem, was er gehört hatte, sollte dieser Elb doch recht weise sein und gerecht, soweit man das von einem Elben sagen konnte. Und so machte Thorondor sich auf den Weg, ohne darüber nachzudenken, dass er mitten in der Nacht wahrscheinlich nicht zum Fürsten der Stadt vorgelassen würde.

Lindan fesselte in dieser Nacht wieder seine Zuhörer im Gasthaus mit seinen Geschichten, und niemand machte sich Gedanken über das Fernbleiben Thorondors. Selbst Lindan hatte diesen kleinen Wichtigtuer vergessen. Es sollte sich als großer Fehler herausstellen.

Dallmann, der Diener des Fürsten, ging durch die schwach beleuchteten Gänge des Herrenhauses. Es war mitten in der Nacht, aber wie er wusste war sein Herr noch nicht zu Bett gegangen, und dieser junge Soldat vor der Tür hatte sich nicht abweisen lassen, und normalerweise konnte er jeden abweisen. Nach einigem hin und her hatte er ihn als herein gelassen, und ihn in der großen Eingangshalle zurückgelassen. Der Fürst würde schon wissen was er mit ihm macht.
Ecthelion saß wie immer bis spät in die Nacht über seiner Arbeit. Papierkram, wie er so etwas hasste, früher war alles viel einfacher, bevor er auf diese Insel gekommen war. Es gab Zeiten, da vermisste er die weiten Lande von Mittelerde, seine Wanderungen mit seinen Freunden; nun war er an diese Stadt gebunden. Vielleicht sollte er noch einmal auf Wanderschaft gehen? Tief in seinen Gedanken versunken, erschrak er, als Dallmann an seine Tür klopfte. Das wäre ihm früher nicht passiert. "Ja, kommt herein." Dallmann betrat den Raum. "Unten in der Halle ist ein junger Soldat, der euch und nur euch sprechen möchte, mein Fürst." "Hat das nicht Zeit bis morgen." Er sprach diesen Gedanken nicht aus. "Er hat dir wahrscheinlich nicht gesagt was er will, oder? Sage ihm, er soll morgen wiederkommen." Ecthelion war ein wenig verärgert, dass Dallmann ihn aus seinen Träumen geholt hatte. Der alte Diener drehte sich um und wollte gerade gehen, als er Ecthelions Stimme hörte. "Gebt ihm etwas zu trinken, ich komme in einigen Minuten nach unten. Wenn man sich nicht um alles selber kümmert."

"Mein Name ist Thorondor Melevitar aus dem Haus Melevitar." Der junge Mann stellte sich mit einer Verneigung vor. "Sollte mir das etwas sagen?" dachte der Fürst bei sich. "Es ist schön euch kennen zu lernen. Mein Diener sagte mir, ihr hättet wichtige Neuigkeiten für mich, die NICHT bis morgen warten könnten." "Das ist richtig, mein Fürst. In eurer Stadt gehen merkwürdige Dinge vor, die ich am eigenen Leib gespürt habe." Und so erzählte Thorondor seine Geschichte über Lindan, den Geschichtenerzähler, und über sein plötzliches Erbe. Fürst Ecthelion unterbrach ihn nur selten mit Fragen. Wenn es stimmte, was dieser junge Soldat sagte, sollte er sich das wirklich mal selber ansehen. "Was euer Erbe angeht, kann ich es nicht anerkennen. Aber ich rate euch, besucht die Königsstadt Osgiliath und sucht den Schreiber der Stadt auf. Er wird euch helfen können, zu guter letzt werdet ihr beim König selber vorsprechen müssen. Nun, zu eurem Schwert kann ich sagen, dass Elbenmagie, wie ihr Menschen sagt, in ihr ist. Ob es wirklich von Aegnor aus Ost-in-Edhil hergestellt wurde, kann ich nicht sagen. Doch hütet euch, junger Mann, diese Art Waffen wurden nicht für Menschen gemacht, und nur Unheil entsteht durch Waffen wie diese. Dennoch ist sie wertvoll und sie wird dich in vielen Situationen beschützen. Ost-in-Edhil im fernen Hulsten, lange ist es her, dass ich etwas über diese prächtige Stadt hörte. Stolz und mächtig erhoben sich die Türme der Stadt, und unvergessen sind die Reichtümer. Doch ihr Stolz wurde ihnen zum Verhängnis. Lange ist es her, im fernen Hulsten." Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ Thorondor stehen. Ecthelion beschloss, morgen Abend doch mal wieder Gerions Gasthaus aufzusuchen und sich diesen Lindan etwas genauer anzusehen.
 

© Falcon An Cu
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