Die Teklaroth-Grotte war noch gut eine halbe Stunde entfernt, als
Midras' Schergen auf Schussweite aufgeholt hatten. Asgir fragte sich, ob
es wohl noch zu schaffen sei, die rettende Stadt der Zwerge, deren Eingang
irgendwo in der Nähe der Grotte zu finden sein musste, zu erreichen.
Ihm war unwohl bei dem Gedanken, daß sie Esfolath, wie die Stadt
von den Menschen genannt wurde, als Fluchtort hatten wählen müssen.
Denn in seiner nur von Menschen bewohnten Heimatstadt Tirna waren die Zwerge
als habgierige Geschäftemacher verschrien. Aber sie hatten keine Wahl
gehabt, denn Esfolath war die einzige Möglichkeit gewesen, vor den
Laedron zu flüchten.
Naraganth, sein Pferd, war genauso wie er selbst und die Anderen
aus seiner Gruppe erschöpft, aber sie mussten durchhalten, wenn sie
überleben wollten!
Nie hätte er gedacht, dass der Hass und die Rachsucht des Grafen
der Laedron ausreichen würde, ihnen wegen solch einer Banalität
Todesschwadronen nachzusenden. Oder hatte es etwa tatsächlich eine
Bewandtnis mit dem hübschen, blau-grünlich blinkenden Juwel,
welches sich gerade in seiner linken Mantelinnentasche befand?
Ein knapp an seinem Kopf vorbeisurrender Pfeil erinnerte ihn wieder
an die ernste Lage, in welcher er sich gerade befand. Und plötzlich
schwirrte und zischte es in der Luft, als ein Pfeilhagel wie ein Kometenschwarm
über sie niederging. Die Laedron waren hervorragende Reiter, und besaßen
die Fähigkeit, auch im Reiten begriffen, sehr zielgenau zu schießen.
Dennoch hatte die erste Salve keinen Schaden angerichtet, die Laedron waren
von den langen Strapazen der Jagd wohl auch schon ausgelaugt. Asgir glaubte
schon, einen Hoffnungsschimmer am Horizont wahrnehmen zu können, als
links neben ihm ein Mitstreiter, von einem Pfeil getroffen, vom Pferd stürzte.
Er war gerade im Begriff, Naraganth zu zügeln, um zu Hilfe zu eilen,
als er hoch oben in der Luft ein markerschütterndes, unsagbar tiefes
Fauchen vernahm, und in den schon sehr nahen Bergen ein warnendes Hornsignal
ertönte.
Er blickte nach oben.
Viel hatte er von den Drachen der Teklaroth-Berge gehört, riesige
Tiere mit titanischen Kräften ausgestattet, aber einer Schönheit,
die, trotz der furchteinflössenden Gewalt, zum Träumen verleitete.
Und eben solch eine Flugechse raste im Sturzflug geradewegs auf sie zu,
wie ein Adler auf Beutejagd. Das Bild der Bestie im Flug war atemberaubend
und infernalisch zugleich.
Ein schwarzes verschnörkeltes Muster bedeckte den ansonsten
weißen Körper des Ungeheuers, lediglich auf dessen Brust war
ein goldener Streifen sichtbar. Asgir bemerkte, dass er noch nie von Teklaroth
Gebirgsdrachen dieser Art gehört hatte, obwohl er sich schon früh
in seiner Kindheit für das Wesen der Drachen begeistert hatte, und
so schon bewandert in Drachenkunde war.
Woher mochte dieses Tier wohl stammen?
Er besann sich wieder als Naraganth mit ihm durchzugehen drohte,
denn dem Pferd wurde durch die instinktive Angst zu neuen Kräften
verholfen, aber es vertraute seinem Herrn, und so ließ es sich schnell
wieder unter Kontrolle bringen. Der gestürzte Mitstreiter war inzwischen
zu weit entfernt und wurde von Midras' Schergen gerade erreicht.
Asgir wandte sich ab, und konzentrierte sich auf sein Fortkommen.
Der Drache flog in sehr geringer Höhe über Verfolger und
Verfolgte hinweg.
Saß da nicht jemand auf dem Nacken der Bestie?
Das Tor der Zwergenstadt war inzwischen sehr nah, nur noch wenige
Augenblicke und die rettenden Pforten wären erreicht. Nun waren diese,
aus Jemaldan, einer besonders widerstandsfähigen, von Zwergen entwickelten
Legierung, bestehenden, zwei Mann hohen und gut zwei Kutschenbreiten breiten
Torflügel, aber verschlossen!
Ob die Zwerge sie nicht bemerkt hatten? Oder wurden die Tore des
Drachen wegen nicht geöffnet? Jedenfalls waren sie zu, und Asgir begann
fieberhaft nach einem Ausweg aus der hoffnungslosen Lage zu suchen. Gehetzt
sah er sich um und bemerkte, dass die Gefährten, die durch den Drachen
erschreckt und verstreut worden waren, nun in Richtung Zwergenstadt eilten.
Die Verfolger jedoch konnte Asgir nicht erspähen, da sich der Drache
vor ihnen niedergelassen hatte und die Sicht verdeckte. Der kleine, munter
vor sich hinplätschernde Gebirgsbach, der in der Nähe vorbeifloss,
stellte wohl kaum eine geeignete Zuflucht dar.
Er vernahm ein tiefes und doch kaum hörbares Rumpeln, blickte
wieder gen Zwergenstadt und sah einen Zwerg, der ihm zuwinkte und auf das
leicht geöffnete Tor zeigte.
Naraganth setzte sich von selbst in Bewegung und galoppierte los.
Wie ein ahnender Wächter wandte die auf dem gewaltigen Drachen
klein wirkende Gestalt ihren Kopf, sah, wie gerade die Letzten der von
den Laedron Verfolgten im Berg verschwanden, und sagte: "Komm, Rakchos."
Und der Drache erhob sich, eine verwirrte und verängstigte Gruppe
Krieger hinterlassend, in die Lüfte.
Dumpf rumpelnd fiel das Tor hinter ihnen ins Schloss. Sie befanden
sich im torbreiten wie -hohen und gut achtzig Fuß langen Zwischenraum
des ersten und zweiten Tores. Es war kaum dunkler als außerhalb,
aber das Licht war schwächer und silbriger als das kräftige Gold
der Sonne. Es wurde von Kristallen, die an den grob in den Fels getriebenen
Wänden und der Decke befestigt waren, ausgestrahlt. Der Raum war bis
auf sie selbst, fünf schwerbewaffnete Zwergenwachen in Kettenpanzern
und den Zwerg, der ihnen gewunken hatte, absolut leer, nicht einmal irgendeine
Verteidigungseinrichtung war zu sehen. Der Zwerg begrüßte sie
und erklärte, dass man als Besucher der Stadt Rhôk-Aszinas,
wie die Stadt in der Zwergensprache hieß, einen Führer in Auftrag
nehmen müsse, welcher sich in der Stadt und mit deren Gepflogenheiten
auskenne. Außerdem müsse man eben diesem Führer alle Waffen
aushändigen, er würde diese während des Aufenthaltes in
der Stadt verwahren. Pfortenzoll in Höhe eines Goldstückes pro
Kopf oder Pferd und Vorschuss des Führerwegegeldes von zwei Goldstücken
seien sofort zu bezahlen. Auf die Anfrage der Gefährten hin, dass
die Waffenabgabe etwas äußerst Ungewöhnliches sei, begann
der Zwerg zu erzählen.: "Früher war das Tragen von Waffen für
Jedermann genehmigt. Eines Tages aber wurde dies für einen ranghohen
Offizier unserer Gebirgskampftruppe zum Verhängnis. Bei einem Trinkgelage
in den oberen Hallen wurde er von einer Gruppe fremder Reisender erschlagen,
seitdem gibt es diese Regelung. Wenn euch dies missfällt, müsst
ihr die Stadt wieder verlassen." Schließlich bot sich der Zwerg selbst
als Führer an und stellte sich vor: "Morwindor mein Name." Die Gefährten
willigten ein, zahlten, und die Vorbereitungen zum Eintritt in die Stadt
begannen.
Als der Drache außer Sichtweite war, sammelten sich die Laedron
wieder, berieten kurz, und ritten dann gemächlich trabend auf den
Eingang der Stadt zu. Der linke Torflügel öffnete sich fast lautlos
und schloss sich ebenso leise nachdem sich auch der letzte der Krieger
in der Stadt befand.
Aber der Drache hatte nur ein Täuschungsmanöver vollführt,
denn er lugte mit alles-sehenden Augen hinter einer breiten Felsspitze
des nächsten Berges hervor, wandte sich seinem Freund zu und
sagte: "Sie sind alle in die Stadt gegangen." "Gut, ich folge ihnen. Wenn
ich dich brauche, werde ich dich rufen, und wenn ich nicht morgen in der
Frühe zurück bin, fliege zum Südtor", erwiderte dieser.
Ahnungslos darüber, was sich außerhalb der Stadt abspielte,
ließen sich die Gefährten von Morwindor zu der sogenannten Osttor-Herberge
führen, in der sie sich erholen konnten und die Pferde in geräumigen
Ställen versorgt wurden.
Sie waren sehr über die äußerst großzügige
Ausstattung der Zwergenstadt erstaunt, schon allein die gewaltigen Ausmaße
der Räumlichkeiten waren atemberaubend. Das Beleuchtungssystem aber,
welches mithilfe von Kristallen, die immerwährendes Licht spendeten,
und ausgeklügelt installierten Spiegeln, die das Tageslicht in zutiefst
im Bergesinnern liegende Räume leiteten, verwirklicht wurde, war ein
eindeutiges Zeichen für die Einzigartigkeit und Überlegenheit
der Zwergenarchitektur. Aber sogar dies wurde noch von dem Bewässerungssystem
der Zwergenstadt übertroffen. So war, wie Morwindor den Gefährten
erklärte, durch Aquädukte eine Frischwasserversorgung, welche
von Gletscherwassern und tiefen Brunnen gespeist wurde, in der gesamten
Stadt gewährleistet.
Vor dem Zubettgehen trafen sich die Gefährten noch einmal in
der mit steinernen Tischen und einfachen Holzbänken eingerichteten
Gaststätte der Herberge, um den folgenden Tag zu planen.
Da sie die einzigen Gäste waren, befand sich außer ihnen
selbst niemand sonst in den kleinen und angenehm beheizten Speisezimmern.
Nachdem der Wirt ihre Bestellungen aufgenommen hatte schilderte ihnen Morwindor
den Aufbau der Stadt, zeigte ihnen auch eine Karte derselben, ihren Aufenthaltsort
in der Stadt, und ging schließlich, unter dem Vorwand ein paar persönliche
Dinge erledigen zu müssen, auf sein Zimmer.
"Ist einer von uns zu schwer verletzt um weiterzureisen?" fragte
Elgrand, der wohl Erfahrenste und Meistgereiste unter ihnen, aber niemand
meldete sich. "Gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns morgen
ohne jede weitere Verzögerung in der Frühe aufmachen, denn das
Todesschwadron mag auch trotz des Drachen überlebt haben, zusätzlich
sind noch andere auf der Suche nach uns, wir haben also keine Zeit zu verlieren."
Alle waren einverstanden, nur Asgir hatte noch einen Einwand: "Aber, wohin
sollen wir denn fliehen?"
Elgrand schwieg kurz, wollte dann etwas erwidern, doch ihm blieb
das Wort im Halse stecken, und er starrte entgeistert zur hölzernen
Eingangstüre der Herberge.
Die Gefährten wandten ihre Köpfe und erblickten einen
jungen, sehr kräftigen Mann mit gelocktem schwarzem Haar, der soeben
eingetreten war. Er war in schwarzes, seltsam matt schimmerndes Leder gekleidet,
und hinter seinem breiten Rücken ragte der mit silbernen Fäden
und einem roten Edelstein verzierte Griff eines Bihänders hervor.
Nachdem er kurz seinen Blick hatte schweifen lassen, begab er sich
geradewegs zu den Gefährten, die ihn sehr neugierig ob seiner Person
erwarteten. Elgrand, der nun wieder Worte fand, sagte in warnendem Ton
zu den Anderen: "Das ist der Drachenreiter!"
Die Gruppe wurde sofort sehr unruhig und beäugte den Neuling
misstrauisch.
"Ja, der bin ich", sagte der Jüngling noch im Lauf begriffen
mit voller Stimme und blieb schließlich vor dem Tisch der Versammlung
stehen. "Und dass ihr noch am Leben seid, sollte euch Beweis genug
sein, dass ich euch wohlgesonnen bin."
Doch just in diesem Moment stürmte ein Trupp Zwergwachen durch
die Eingangstüre herein, und der Hauptmann des Trupps rief laut: "Dort
ist er!" Der Jüngling wandte sich um, und schaute verwundert in Richtung
der Zwergwachen.
Der Hauptmann kam heran und sagte in barschem Ton: "Ihr habt eure
Waffen am Eingang nicht abgegeben, den Pfortenzoll nicht bezahlt, und auch
keinen Führer in euren Dienst genommen, zusätzlich habt ihr Widerstand
gegen einen Pförtner geleistet, als er eure Waffen in Verwahrsam nehmen
wollte. Somit habt ihr entgegen den Gesetzen der Stadt gehandelt, und werdet
hier nicht länger geduldet."
Asgir reagierte sofort: "Aber, aber dies scheint mir ein Missverständnis
zu sein!" erläuterte er dem Zwergenhauptmann. "Er ist einer von uns,
er ist nur ein wenig spät nachgekommen, wir sind froh, daß er
es geschafft hat, den Pfortenzoll haben wir schon gezahlt und was seine
Waffen betrifft, kann ja Morwindor, unser Führer, diese in Verwahrung
nehmen."
Der Jüngling nickte zustimmend.
"Na, wenn sich die Sache so verhält, können wir ja wieder
beruhigt abziehen", erwiderte der Hauptmann mit einer falschen Versöhnlichkeit
im Unterton. Nach einer kurzen Pause schließlich fügte er ermahnend
hinzu: "Aber erst nachdem Morwindor dies auch getan hat und eine zusätzliche
Aufwandsgebühr von..." - der Zwergenhauptmann dachte nach oben blickend,
pfeifend und sich mit den Händen über denn Vollbart streichend
kurz nach - "...fünf Goldstücken entrichtet wurde! Und nur,
weil ich heute meinen guten Tag habe!" "Gut, ich hole ihn", sagte Asgir
trocken und lief zu den Schlafräumen, worauf der Fremde dem spitzfindig
nachzählenden Hauptmann widerwillig die Gebühr zahlte.
Nachdem Morwindor die Waffen des Jünglings an sich genommen
hatte, sich wieder zu der Gesellschaft gesellt hatte und die Zwergenwachen
verschwunden waren, setzte sich nun auch der Fremdling an den Tisch und
begann: "Jetzt bin ich es euch wohl schuldig, meinen Namen zu nennen. Ich
werde Gwildor genannt und stamme aus Orthilionda. Wie ihr auch schon wisst,
reite ich Drachen. Ich war gerade dabei, Flugübungen zu machen, als
ich euch in eurer Notsituation entdeckte und euch zur Hilfe eilte. Wie
konnte es eigentlich überhaupt dazu kommen, dass euch Laedronische
Elitekrieger verfolgen?"
"Nun ja", erwiderte Elgrand, "uns würde auch sehr interessieren,
warum du uns geholfen hast." "Weil ihr in Not gewesen seid, und der Graf
Midras sendet gewöhnlich nur dann seine Elitekämpfer aus, wenn
er einen ganz bestimmten und besonders wichtigen Zweck verfolgt, das hat
mich neugierig gemacht!" "Aha!?! Nun, so wisse denn, dass wir eine Gruppe
von Abenteurern sind, die von Midras, dem Grafen der Laedron, den Auftrag
erhielt, eine schon lang herumziehende Räubertruppe zu stellen. Nach
getaner Arbeit aber, als es daran ging, uns zu belohnen, weigerte er sich
zu zahlen. Wir haben uns dann ein wenig in seiner Schatzkammer bedient,
allerdings ohne sein Einverständnis!"
Asgir fasste bei Elgrands Worten mit der rechten Hand in seine Linke
Mantelinnentasche und in den Beutel, in welchem sich das Juwel befand.
Er erinnerte sich an den ehrfürchtigen Gesichtsausdruck und an die
Worte der alten Jahrmarktshexe, als sie in seiner Hand las: "...und das
Schicksal wird Dir ein urmächtiges Artefakt in die Hände spielen,
doch nehme dich ab diesem Tage sehr in Acht, denn es ist ungewiss ob du
die Gefahren, die da deiner harren, bewältigen wirst..."
Er erschauerte bei den Erinnerungen.
War das Juwel vielleicht das Artefakt, von dem die Hexe gesprochen
hatte?
Als sie dann zwei Tage später, wie geplant, im Schloss die
Schatzkammer plünderten, verirrte er sich irgendwie in den dunklen
und verschlungenen Gängen des Schlosskellers und gelangte in einen
Nebenraum, der eben von diesem blau-grünlich blinkenden Juwel erleuchtet
wurde, welches auf einem merkwürdig anmutendem halb flügel- halb
flossenförmigen Sockel angebracht war. Das Juwel hatte eine Ausstrahlung,
die ihn unwiderstehlich anzog, und so entwendete er es.
"Daß ihr es bis Hier geschafft habt, ist eine beachtenswerte
Leistung, aber ihr habt auch schon einen eurer Kameraden verloren", sagte
Gwildor. "Beregond war nicht der Erste", erwiderte Elgrand zerknirscht.
"Wir waren anfangs noch elf! Jetzt sind wir nur noch sieben."
"Und was gedenkt ihr nun zu tun?"
"Wir planen unsere Flucht fortzusetzen, aber wir haben noch keine
endgültige Zuflucht gefunden, und Midras' Schergen werden uns bis
auf den letzten Mann jagen, so wie es bisher aussieht."
"Ich werde euch helfen, aber wir gehen besser sofort nach dem Abendmahl
schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind, ich weiß auch einen sicheren
Ort, zu dem ich euch geleiten werde, wenn ihr mir vertraut."
Und so begaben sich die Abenteurer zu Bett, in einer Herberge der
weitläufigen Zwergenstadt Esfolath, welche sich von der Ost- bis zur
Westseite des Teklaroth-Gebirges erstreckte, und die einzige Möglichkeit
zum überwinden desselben darstellte, es sei denn, man konnte fliegen.
© Philipp
Morlock
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