Das Falnith von Philipp Morlock
Kapitel II

'Nun gut, wir sind glücklicherweise in die Stadt gelangt, aber wohin haben sich die Banditen, die Midras' Order gemäß auf keinen Fall entkommen durften, verkrochen?'
Ratchol war sehr müde und auch schlecht gelaunt. Als Untergebene waren aufgrund der Eile, mit der er sie hatte zusammenstellen müssen, fast nur Volltrottel und Anfänger in seiner Truppe, und mit diesen blutsaugerischen Zwergen hatte er schon des öfteren Ärger gehabt, dabei sehnte er sich doch nur nach dem wohlverdienten Ruhestand, der ihn alsbald erwarten sollte.
Und wie er so an sein Pferd gelehnt, auf die Abfertigung seiner Krieger wartend, nachdachte, wurde ihm klar, dass gegensätzlich zu dem wie er es sich früher vorgestellt hatte, das Arbeitsleben  mit aufsteigendem Dienstgrad nicht leichter sondern sogar schwerer wurde. Er war sich seiner Verantwortung als Laedron-Oberst sehr wohl bewusst, aber auch von seiner Arbeit überzeugt und genoss bisweilen seinen Status.

Nachdenklich wandte er sich um und fragte ihren Führer Fribidondor, welcher gerade die Goldstücke in seiner Geldbörse zum zweiten mal zählte, um sicherzugehen, dass der Betrag stimmte. "Welche Herberge empfiehlst Du uns?" "Die Osttor-Herberge! Sie ist die nächste, grösste, günstigste und auch noch relativ komfortabel!" antwortete dieser. "Und welche Herbergen gibt es hier noch?"
Fribidondor machte einen etwas verklärten Gesichtsausdruck, dachte kurz, sich über den Bart streichend, nach und sagte rätselnd "Das kommt darauf an, wie weit ihr noch laufen wollt! Direkt hier gibt es sieben, wenn ihr noch drei Stunden Marsch in Kauf nehmt... achtundzwanzig Herbergen." Ratchol kratzte sich verlegen hinter seinem linken Ohr, was er immer tat, wenn ihm etwas unangenehm war, und fragte etwas hoffnungslos "Wohin würdest Du uns am ehesten führen, wenn wir verfolgt werden würden und möglichst unerkannt und unbehelligt fortkommen wollten?" Fribidondor streckte seine Hand mit der Handlfläche nach oben Ratchol entgegen, blickte in die Luft und sagte: "Ich kann Erkundigungen über Neuankömmlinge in den Herbergen hier einholen, aber wenn ihr so fragt, empfehle ich euch den "Silbernen Hahn" noch zwei Stunden Marsch und ihr seid in der grössten Herberge Ost-Teklaroths, dort gibt es Unterkunft für jeden Geschmack, alle Vergnüglichkeiten und Dinge, die für bare Münze zu erstehen sind. Und....", Fribidondor sah sich verstohlen um und senkte seine Stimme, "...und manchmal auch mehr als das."
Ratchol legte Fribidondor mit mistrauischem Blick und leisem Murren einen Silbertaler auf die Hand. Welcher die Hand, nachdem Ratchol widerwillig auch noch einen zweiten Silbertaler nachgelegt hatte, in die Tasche steckte und sagte: "Na dann sollten wir wohl gehen!" Der letzte Gefolgsmann war abgefertigt, und so zogen die Laedron los, den Erläuterungen Fribidondors über die Zwergenstadt lauschend, um den zweitgrössten Handelsort Uramas aufzusuchen. Dies jedoch wussten nicht einmal die Zwerge selbst.
Nachdem sie sich so eine kleine Weile gemütlich fortbewegt hatten, wandte sich Ratchol noch einmal an Fribidondor: "Wie sind deine Worte von Vorhin... 'und manchmal auch mehr als das'... zu verstehen?" "Nunja, es gibt Dienstleistungen, die so wertvoll sind, dass Geld allein nicht reicht, um sie zu bezahlen, und im Silbernen Hahn gibt es manchmal Leute, die euch die Möglichkeit eröffnen können, auch solche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen." "Magie?" Fribidondor nickte. Ratchol erschauerte bei dem Gedanken an die vielen Sklaven seines Fürsten Midras, welche nie wieder aus den Kellergewölben unter dem Palast zurückgekehrt waren, es gingen Gerüchte um, dass er mit Hilfe ihrer Leben seine dunkle Magie praktizierte. Magier waren Ratchol zuwider. Aber er wurde in seinen Gedanken unterbrochen als ein junger in schwarzes Leder gekleideter Mann von hinten herangeeilt kam, und Fribidondor nach der nächsten Herberge fragte. "Gleich der erste Abgang links, danach der dritte rechts, der Eingang zur Osttor-Herberge wird dann schon zu sehen sein, aber ihr dürft hier nicht mit euren Waffen herumlaufen, wurde euch das nicht gesagt?" Doch der Jüngling hatte sich schon bedankt und war weitergeeilt. Ratchol war etwas mistrauisch, irgendwo hatte er diese Person doch schon einmal gesehen, und das Leder, das er trug, hatte so einen seltsame Aura... aber seine Aufmerksamkeit wurde durch die nun an ihnen vorübereilenden Zwergenwachen, die mit ihren klimpernden Kettenrüstungen einigen Krach erzeugten, abgelenkt.
Schließlich versank er wieder in Gedanken an seine drei Söhne und zwei Töchter.

Die Pforte zum Silbernen Hahn war bis auf einen wagenrad-grossen, sehr kunstvoll gearbeiteten Hahn von reinem Silber, der über dem Eingang prangte, aus  erlesenem Lapislazuli gemacht. Sechs Säulen schmückten den Eintritt in eine gut sechzig Fuß hohe, weisse marmorne Halbkugel, in deren Mitte sich ein runder, von dichtgedrängten Gästen aller Völker Uramas umringten Schalter aus schwarzem Marmor befand.
Ratchol zählte sechs grosse weiterführende Gänge, welche sich wieder teilten, und fragte sich, wieviele Gäste denn wohl eine Herberge mit einem Eingang eines derartigen Ausmaßes aufnehmen könnte. Fribidondor schätzte auf die Frage hin, es dürfe sich in etwa um bis zu sechshundert handeln, er informierte aber weiterhin darüber, dass die Herberge selbst nicht einmal die Hälfte des silbernen Hahnes einnähme, wobei die drei links abgehenden Gänge jeweils zu einer Abteilung der Herberge führten, die entsprechend dem Budget des Reisenden eingerichtet war. Die zwei der drei Gänge zur rechten Hand wären nur geschlossenen Gesellschaften zugänglich. Der vierte Gang sei derjenige, der zu verschiedensten Marktständen und Läden führe, und auch zu einer Gaststätte, die sich "Zum Ausblick" nannte.
Am liebsten wäre es Ratchol gewesen, durch diesen Moloch zu reiten, aber die Pferde hatten sie vor dem Eingang in Stallungen bringen müssen, und so begab er sich ordinär laufend zu dem in der Mitte stehenden Schalter und ließ sich einen Schlafsaal zuweisen, die Preise waren zu seinem Erstaunen tatsächlich nicht überteuert, und so war er ausnahmsweise einmal zufrieden an diesem Tag.
Die meisten der Krieger schliefen schon als Fribidondor nach längerer Abwesenheit in dem mit Holzbetten eingerichtetem Schlafsaal eintraf und Ratchol mit einem Fingerzeig zu verstehen gab mitzukommen.
Nach einigem durch Gänge Gehens und grosse Markthallen Bestaunens, in denen einfach alles an Waren feilgeboten wurde, was Ratchol überhaupt kannte, und auch noch einige höchstinteressante Merkwürdigkeiten, mit denen er sich gerne länger beschäftigt hätte, wenn ihm die Zeit geblieben wäre, kamen sie schliesslich an einen nach dem Prinzip einer rundlaufenden Kette funktionierenden Aufzug, welcher ein stetes Kommen und Gehen zwischen der Gastätte "Zum Ausblick" ermöglichte.
Nach längerer Aufzugfahrt betraten sie schließlich den gut hundertzwanzig Fuss langen und sechzig Fuss breiten Saal.
'Zum Ausblick!! Diese Zwerge sind wirklich zu sachlich!' dachte Ratchol bei sich, als er mit weitaufgerissenen Augen das gewaltige zerklüftete, von den letzten Sonnenstrahlen erleuchtete Lacertidäa-Tal bestaunte, welches sich hunderte Fuss unter ihm bis an den Horizont erstreckte. Und obwohl eine ab und zu leicht schimmernde, dreissig Fuss hohe, die gesamte West-Wand der Gaststätte darstellende, durchsichtbare Barriere die kräftigen Gebirgswinde abhielt,
fröstelte es ihn leicht.
Fribidondor geleitete ihn zu einem kleinen runden Tisch aus rötlichem Holz, welcher sich auf einer von exotischen Pflanzen umgebenen Empore in der Mitte des Saales befand. 
Ein so unauffällig gekleideter Mann erwartete sie dort, dass Ratchol ihn beinahe nicht bemerkt hätte, wenn er nicht plötzlich den Kopf gewendet hätte, um sie in Augenschein zu nehmen. Mit einer freundlichen Geste wies er sie an, sich ohne Umschweife zu setzen und begann zu sprechen: "Die von euch Gesuchten befinden sich in diesem Moment in der Osttor-Herberge." Ratchol warf Fribidondor bei diesen Worten einen vielbedeutenden Blick zu. Dieser wehrte mit einer ebensovielbedeutenden Geste ab. "Und da ein Zusammentreffen zwischen ihnen und euch, meiner Vermutung nach nicht sehr zärtlich ausfallen dürfte, was euch in dieser Stadt Ärger einbringen würde, empfehle ich euch, einfach zu warten, was sie unternehmen. Ich kann euch auf dem Laufenden halten und euch helfen, ihnen eventuell zuvor zu kommen."
Ratchol versuchte sich verzweifelt einzuprägen, was für Kleider der Mann trug, aber jedesmal, wenn er fortblickte, vergas er sofort, was er davor gesehen hatte.
Eine Erinnerung an ein vor Jahrzehnten geführtes Gespräch mit seinem damals besten Freund blitzte in Ratchols Augen auf.
"Ihr seid ein Hiundôl, oder?" Der Mann warf ihm einen kurzen Blick zu und nickte.
'Ein Diener Trikolurs, dem Gott der Diebe, ein Meisterdieb mit Ehrenkodex, wie bizarr', dachte Ratchol erstaunt bei sich. 'Dass ich mal so jemanden zu Gesicht bekomme!' "Was ist euer Preis?"
"Das hängt vom Auftrag ab!"
"Ich hätte da eine Idee, was ihr noch machen könntet, ausser zu beobachten", sagte Ratchol und begann in leisem Ton auf den Meisterdieb einzureden.
 

© Philipp Morlock
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Und schon geht's hier weiter zum dritten Kapitel!

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