Nach diesen drei Tagen der intensiven Vorbereitung war Vhawiin soweit:
sie hatte die nötige Ausrüstung beisammen:
Einen unauffälligen alten Mantel mit langen Ärmeln, Knochenknöpfen
und einer Kapuze hatte sie aufgetrieben und außerdem robuste Lederkleidung
und eine Lederkappe mit Schmuckfransen, wie sie in Nac'rastlens Anhängerschaft
als Rüstung getragen wurden. In einem kleinen Töpfchen tief unten
in ihrem Beutel, neben dem Säckchen, in dem sie die Dinge aufbewahrte,
die sie aus dem Haus der Druidin gestohlen hatte, war die magische Salbe,
die sie letzte Nacht unter größten Vorsichtsmaßnahmen
angerührt hatte.
Nach ihrem Aufbruch bei Tagesbeginn waren Vhawiin und Tebach kurz
vor Sonnenuntergang bei Nac'rastlens Lager angekommen.
In Sichtweite der Kriegszelte und der Wachfeuer hielt die "Stimme"
an und zog sich zuerst die Rüstung und dann den Mantel an, die Kappe
verbarg sie unter der Kapuze. Ein Stück der faserigen Rik-Rinde, der
Droge für den Magischen Blick, legte sie sich unter die Zunge.
Dann befahl sie Tebach:
"Zieh dein Hemd aus! Ich will dich mit einer Zaubersalbe einreiben,
die dich bei dieser gefährlichen Unternehmung schützt! Sonst
könntest du zu Schaden kommen."
Sorgfältig verrieb sie die grünbraune Paste auf Tebachs
Brust und murmelte einige unverständliche Worte. Dann wusch sie sich
die Hände mit Wasser aus ihrem Wasserschlauch und wies ihren Begleiter
an, ihr leise zu folgen.
Im Schutze der Dämmerung bewegten sie sich leise auf Nac'rastlens
Kriegslager zu und hielten wiederum hinter einem Gestrüpp, das kaum
fünf Schritt von einem Zelt entfernt war. Hier sollte Tebach auf ihre
Rückkehr warten und auf ihren Beutel aufpassen, während sie weiterlief,
direkt auf das nächste Wachfeuer zu.
"Guten Abend!", grüßte sie den Posten mit der kratzigen
Stimme einer alten Frau und er fuhr aus seinem leichten Schlaf hoch. Er
wurde rot - man hatte ihm beim Schlafen auf dem Wachposten erwischt.
"Ich muss schnell zur Hohepriesterin, ich habe wichtige Dinge über
Ber'racchnann herausgefunden!"
Als der Posten zu einer Frage ansetzte, packte sie ihn beim Arm
und zischte "Schnell!"
Gehorsam führte der junge Mann sie nun, unbeachtet von anderen,
durch das Lager, in dem Krieger und Kriegerinnen eine vorübergehende
Heimat gefunden hatten, bis ins Zentrum, wo ein großes und geschmücktes
Zelt stand. Er verbeugte sich und blickte ihr kurz nach, als sie die Tücher
vor dem Eingang zurückschlug und eintrat. Der murmelnde Singsang der
"Alten" überzeugte ihn vollends davon, dass es sich hier um eine Zauberin
handelte.
Eine zierliche junge Frau, die, auf einem schönen Tuchkissen
sitzend, gerade ihr Abendessen einnahm, sah Vhawiin ziemlich verdutzt an.
Die "Stimme der Göttin" dagegen musterte ihr Gegenüber
mit dem Magischen Blick - aber noch war kein Nebelschleier von Zauberei
in Sicht, nur ein wenig feiner "Dampf".
"Du bist die Hohepriesterin von Nac'rastlen", stellte sie mit kratziger
Stimme fest, "ich muss mit deinem Gott sprechen!"
"Wer gibt dir das Recht...", begann die schöne Priesterin.
"Dieses Recht gibt mir mein Wissen, mein Wissen um den Speer von
Ber'racchnann und wie man ihn stehlen kann!"
Ein harter Blick durchbohrte sie - oder versuchte es zumindest,
das Dunkel unter der Kapuze bot genug Schutz vor Erkennen.
"Nun gut, aber spiele nicht mit solchen Angeboten, du bereust es
sonst!"
"Rufe deinen Gott!"
Die Priesterin knurrte, aber dann schloss sie ihre Augen und fiel
in einen Singsang, der sich zu einem langen "Hommmmnngg" steigerte und
jetzt quoll - für Vhawiins verzauberte Augen - plötzlich magischer
Nebel aus ihrem Kopf, aus ihrem Körper und hüllte die Umgebung
ein.
Vhawiin sprach indessen im Geiste einen Schutzzauber und hoffte
inständig auf dessen Wirkung - sonst wäre sie dem fremden Gott
wohl ziemlich hilflos ausgeliefert...
Die Flammen im Herdfeuer des Zeltes loderten auf und eine rauchige,
knackende Stimme knisterte direkt neben Vhawiins Ohr:
"Wie komme ich an Ber'racchnanns Speer!?"
Vhawiin ließ sich nicht von diesem göttlichen Auftritt
beeindrucken:
"Du kommst ziemlich schnell zur Sache. Dann will ich genauso direkt
antworten: gar nicht! Ich kann die Waffe stehlen und niemand sonst
- aber ich werde sie dir natürlich gerne überlassen..."
"So?"
"Ja, natürlich zu einem gewissen Preis, aber der ist gering
im Vergleich zu der Macht, die du gewinnen kannst!"
"Ja?"
"Man sagt, deine Hohepriesterin kann durchs Feuer gehen und wird
auch sonst niemals von Flammen oder Hitze verletzt. Wenn du mir die gleiche
Fähigkeit verleihst, dann lege ich dir den Speer zu Füßen.
Schließlich will ich ja nicht gleich zu einem Opfer des Krieges werden,
den ich eigentlich schnell beenden will"
"Willst du das... Nagut - und wann sagtest du, kannst du mir den
Speer bringen?"
"Wenn du das Geschäft heute mit mir abschließt, dann
bin ich in spätestens sieben Tagen wieder da."
"Hmmm... das klingt annehmbar. Abgemacht"
"Nun, nicht so schnell - ich brauche etwas mehr als den Handschlag
eines Gottes. Ich brauche eine Sicherheit."
"Was?" die Stimme fauchte auf, wie ein Stichflamme.
"Ich möchte Xall, den geflügelten Löwen, rufen, um
das Versprechen bindend zu machen."
"Xall? Warum gerade den?", knisterte er verächtlich.
"Weil er mich nicht kennt und dich nicht ausstehen kann, ganz einfach."
Nach ein wenig Gegrunze von Seiten des Feuergottes ließ dieser
sich doch zu dem zu verlockenden Angebot hinreißen und der Nebel
um die Hohepriesterin begann zu wallen und Wellen zu schlagen, als er den
geflügelten Löwen mit magischen Mitteln rief.
"Was willst du, Brandstifter?", fragte eine dunkle Stimme harsch.
Vhawiin zuckte zusammen und bemerkte dann den blauen Lichtpunkt, der nun
auf Augenhöhe in der Luft hing, wie ein Stern, der vom Himmel gefallen
war.
"Wir möchten ein Versprechen besiegeln, Xall", grollte Nac'rastlen,
"Also: Ich verspreche, dieser Frau Unverwundbarkeit gegen Feuer und Hitze
zu verleihen, wenn sie mir den Speer von Ber'racchnann aushändigt"
"Ist das so?"
"Ja, das ist so", bestätigte Vhawiin schnell, nachdem sie etwas
verblüfft über Xalls "Aussehen" mit offenem Mund den blauen Stern
angestarrt hatte.
"Ihr wisst, dass die Strafe für das Brechen des Versprechens
schlimmer als der Tod sein kann?"
"Ja, das wissen wir", drängte Nac'rastlen, "lass die Formalitäten!"
"Wie du willst. War das alles?"
"Ja", knurrte der Feuergott.
"Gut, vergiss dein Versprechen nicht!"
Der blaue Stern verschwand - oder besser: war von einem Augenblick
auf den anderen nicht mehr vorhanden.
"Genau, vergiss du dein Versprechen nicht!" drohte der Gott Vhawiin
- und der magische Nebel zerfloss in die Umgebung, als Nac'rastlen den
Körper seiner Dienerin verließ.
Die Hohepriesterin schüttelte benommen den Kopf, aber bevor
sie wieder klar sehen konnte war die "Alte" im Kapuzenmantel schon verschwunden.
"Denkste! Unverwundbarkeit gegen Feuer... Umsonst wirst du uns dein
Geheimnis verraten!", murmelte sie.
"Wache!", brüllte sie dann und lächelte siegsbewusst.
Vhawiin ging zügig durch das Kriegslager und schon hörte
sie Schritte hinter sich. Sie bog um ein Zelt und um noch eines und gewann
einige Schritt Vorsprung. Ihre Finger öffneten derweil unauffällig
die Knöpfe des Mantels. Ruhig lief sie an dem Wachposten vorbei und
steuerte ins Dunkel der Nacht. Als sie sich sicher war, dass die Krieger,
die ihr auf den Fersen waren, sie, geblendet vom Wachfeuer, nicht mehr
erkennen konnten, schlüpfte sie hinter den Busch, wo Tebach wartete.
Diesem warf sie blitzschnell ihren Mantel um, schloss den obersten Knopf
und zischte: "Lauf dorthin und aber nicht zu schnell!" Sie deutete in die
Nacht.
Viel zu verdutzt, um zu begreifen, was hier vor sich ging, tat er
einfach wie befohlen.
Und tatsächlich folgten die Krieger, die nun das Feuer hinter
sich gelassen hatten, der dunklen Figur im Mantel in die nächtliche
Steppe. Ihre Schritte wurden schneller und schließlich konnte Vhawiin
den Schrei Tebachs hören, als er von den Männern gepackt wurde.
"Zzat'tammamm" - sie spuckte das Zauberwort förmlich in die
Nacht. Und sie hörte den dumpfen Aufschlag, als Tebach zu Boden ging,
vor den völlig verdutzten Kriegern. Das tödliche Gift in der
Salbe auf der Brust ihres Begleiters wirkte schnell, wenn man erst mal
die magische Sperre aufhob, die es zurückhielt.
Dieser Mann würde niemandem mehr etwas erzählen - weder
Nac'rastlens Hohepriesterin von seiner Herrin Vhawiin, noch den Dorfbewohnern
zu Hause von derjenigen, die auf ganz irdische Weise von seinen Ehebrüchen
erfahren hatte.
Und nachdem sie mit dieser Finte dem Feuergott entwischt war, konnte
er sie nicht mit Gewalt dazu zwingen, ihm zu verraten, wie man den Speer
Ber'racchnanns stehlen konnte - er musste schon ihren Preis bezahlen...
Vhawiin rückte ihre Lederkappe zurecht, so dass die Fransen
ihr Gesicht einigermaßen abschirmten, nahm ihren Beutel auf und lief
dann lässig am Rande des Lagers entlang, mit verstellter Stimme freundlich
zurückgrüßend, wenn sie jemand anrief.
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