Götterblut von KeyKeeper
Teil 6

Nach einer langen und ermüdenden Nacht des Laufens, kam Vhawiin alleine wieder im Flüchtlingslager an und verschlief dort den halben Tag, um sich gründlich auszuruhen für den nächsten Schritt. Schließlich suchte sie den kleinen Jungen, den sie vor seinem Onkel "gerettet" hatte, auf und machte sich mit diesem noch am Abend auf den Weg. Auf Abenteuersuche, wie sie es dem neugierigen Birad erzählte, auf Abenteuersuche in Ber'racchnanns Lager, was sie tunlichst verschwieg.
Nach knapp zweieinhalb Tagen Reise durch trockene und öde Steppe mit nur vereinzelten Flüsschen, erreichten sie das Lager, wiederum am Abend. 
Nachdem sie Birad eingeschärft hatte, keinen Mucks von sich zu geben, legte sie ein Tuch als Gesichtsschleier um und zog den schönen neuen Mantel von Dhadshera an. 

Und dann stolzierte sie, den Jungen an der Hand, auf den nächsten männlichen Wachposten des Kriegslagers zu, den sie erkennen konnte. Der Unterschied zu Nac'rastlens Lager war nicht sehr groß: Zelte, der Geruch nach verschwitzten Kriegern, einige Pferde - Vhawiin hatte zwar vom "Reiten" gehört, konnte sich aber nicht vorstellen, auf so einem Tier zu sitzen - und einige Wachfeuer.
"Heda, was willst du!?", rief der Wächter sie an - und man konnte den feinen Unterton der Langeweile aus seinem Tonfall heraushören - offenbar hatte sich seit Tagen nichts ungewöhnliches mehr getan.
Sie trat näher und versuchte einen aufreizenden Augenaufschlag über dem verhüllenden Gesichtsschleier, dann ließ sie eine möglichst sinnliche Stimme schnurren:
"Ich komme, um den Hohepriester mit meinen Vorzügen zu erfreuen... Wo Krieg ist, da sind oft sehr einsame Männer unterwegs, auch wenn Kriegerinnen in der Nähe sind. Man braucht eben einen warmen und weichen Frauenkörper und kein verschwitztes Muskelpaket von Kriegerin... du kennst das, oder?"
Vhawiin selbst fand dieses Geflöte ziemlich dämlich, aber auf den stämmigen Krieger mit gewissen, seit langem unbefriedigten Bedürfnissen, schien es durchaus zu wirken.
Außerdem: was konnte so eine vergleichsweise kleine und wenig muskulöse Frau schon gegen ein Lager voll Krieger ausrichten?
"Was ist mit dem Kleinen da?" fragte er weiter.
"Das ist mein kleiner Bruder - er ist stumm und taub, aber ich muss auf ihn aufpassen. Er stört nicht weiter..."
Schon wanderte der Blick des Wachpostens von Birad wieder zu Vhawiin - und zog sie förmlich aus.
"Willst du nicht erst mal hier bleiben und mich erfreuen?", fragte er anzüglich lachend.
"Naja, ich kann ja nicht zum Hohepriester gehen, wenn ich noch ganz außer Atem von einem Stündchen ‚Unterhaltung' mit dir bin... Da wäre er bestimmt nicht erfreut... Aber was hältst du davon, wenn ich auf dem Rückweg mal vorbeischaue?"
"Das lässt mich hoffen - das Leben eines Kriegers ist doch nicht so schlecht! Beeil dich, Schöne!"
"Das werde ich!"
Als sie um das nächste Zelt verschwunden war, grinste sie zufrieden - Tebach hatte ihr unwillentlich ziemlich viel über Männer und auch Frauen beigebracht.

***

Sie steuerte - Birad noch immer an ihrer Hand - möglichst unauffällig auf das Zentrum des schlafenden Lagers zu und fand dort - genau wie sie es aus den Berichten der Flüchtlinge erfahren hatte - ein großes, unbewachtes Zelt mit einigen Wimpeln und Bannern mit heiligen Symbolen. Menschliche Wächter hatte dieses Zelt nicht nötig, denn was drinnen auf Eindringlinge wartete, war genug, um auch die stärksten und gewandtesten Diebe aufzuhalten... 

Ihr Blick heftete sich auf das Ziel ihrer Reise, dieses Zelt, und leise wie eine Raubkatze auf der Jagd, steuerte sie darauf zu.
Aber den Jungen an ihrer Hand, der relativ verdutzt hinter ihr hertapste, hatte sie nicht mehr im Kopf...

Ein Schrei tönte durch das Lager, für Vhawiins Ohren laut wie ein Donnerschlag. Eigentlich waren es zwei Schreie - ein heller und ein tieferer, krächzender...
Birad war über jemanden gestolpert und hatte erschrocken aufgeschrieen, während das getretene Etwas am Boden eher empört gegrölt hatte. Und es wollte nicht damit aufhören:
"Hey, was soll das, kann man hier nichtmal in Ruhe schlafen oder was?" lallte eine deutlich betrunkene Stimme durch die Nacht.
'Ooouuhh Scheiße!' dachte Vhawiin. Sie packte Birad, schwang ihn sich mit der Kraft der Angst über die Schulter und rannte.
Hinter das nächste Zelt tauchte sie, lief im Zickzack um drei weitere und warf sich - den Jungen jetzt an ihren Körper gepresst - in das, von dem sie hoffte, dass es ein Vorratszelt war...

Das Poltern eines fallenden Holzschildes schien Vhawiin viel zu laut. Aber was fiel schlimmer war, waren die nackten, dreckigen und stinkenden Füße, die neben ihrem Kopf auf dem Boden lagen. Wenn sie sie nicht im Halbdunkel hätte sehen können, so hätte sie sie am Geruch erkannt.
Und die Füße - zusammen mit dem dazugehörigen, schlafenden Krieger - bewegten sich... 

Vhawiin hielt zitternd den Atem an und presste ihre Hand auf Birads Mund. Ihr Blick eilte suchend über den Inhalt des Zeltes, während ihre Gedanken rasten. 
Es war natürlich kein Vorratszelt, sondern die Unterkunft des schlafenden Kriegers: seine Lederrüstung und Waffen lehnten an einer Holztruhe neben dem Eingang - dort wo vor einigen Herzschlägen auch noch das Holzschild gestanden hatte... Aber wenigstens war er allein...

Der Mann drehte sich auf den Rücken und sein verschlafenes Brabbeln wurde deutlicher....

Vhawiins Muskeln spannten sich als sie hochschnellte, sie drückte Birad auf den Boden und hoffte, dass er nicht schreien würde. Dann lag ihre Hand auch schon auf dem Kurzschwert des Kriegers und die dreckige Klinge scharrte leise, als sie aus der Lederscheide gezogen wurde.

In diesem Moment setzte sich der Krieger auf, blinzelte mühsam und öffnete den Mund zu einer verwirrten Frage. 

Die Klinge fuhr lautlos und blitzschnell durch das warme Halbdunkel und schnitt die Worte des Zeltbewohners vor ihrem Aussprechen ab. Vhawiin wurde von dem Schwung, den sie der Waffe in ihrer Verzweiflung gegeben hatte, mitgerissen und torkelte um ihre eigene Achse, schaffte es aber, sich zu fangen, ohne Lärm zu verursachen. 

Blut war über das Innere des Zeltes gespritzt als die Halsschlagader des Kriegers zusammen mit seiner Kehle aufgerissen worden war. Birad war nicht besudelt, aber ihr eigenes Hemd wies Spuren ihrer Tat auf. Der Mantel, der nach ihrer Flucht nicht mehr auf ihren Schultern gelegen war, sondern nur noch an ihrem Hals hing, war glücklicherweise noch sauber.

Vhawiin versuchte leise zu Atem zu kommen und packte Birad erneut, um ihm die Hand auf den Mund zu pressen. Sie legte den Zeigefinger der anderen Hand auf ihre Lippen und sah ihn eindringlich an. Nach einigen Augenblicken nickte er verstört und sie nahm ihre Hand weg.
Angestrengt horchte sie auf Geräusche, die ihr verraten sollten, was vor dem Zelt vorging. Es war ruhig. Einige Minuten verharrte sie angespannt in Stille, bis sie sicher war, dass keiner sie bemerkt hatte.
Der Betrunkene war wohl betäubt genug gewesen, um sich keine weiteren Gedanken zu machen...

'Das war verdammt knapp! Ich muss besser aufpassen', dachte sie noch zitternd. Dann zog sie vorsichtig die Decke des Kriegers unter seinem Arm hervor und wischte sich selbst und das Kurzschwert damit ab. Leise rollte sie den Mann auf die Seite und deckte ihn - mit der unbeschmutzten Seite der Decke nach oben - zu, so dass er wie ein Schlafender wirkte.
Das Schwert schob sie in die Scheide zurück und befestigte diese an ihrem Gürtel - eine kleine Sicherheit mehr in diesem riskanten Unterfangen...
Hoffentlich wurde der Tote nicht allzubald bemerkt...

Schließlich wandte sie sich flüsternd dem verstörten Jungen an ihrer Seite zu:
"Birad, der da war ein ganz böser Mensch, der wollte uns etwas antun. Wir haben Glück gehabt, dass er nicht schnell genug war! Wir müssen hier ganz vorsichtig sein und aufpassen, dass wir niemandem auffallen, sonst klappt das mit dem Abenteuer nicht!"
Er nickte verständig.
"Hab keine Angst", fuhr sie fort, "bald haben wir's geschafft - und dann sind wir ganz groß!"
Wieder nickte er nur.
"Komm mit, jetzt geht das Abenteuer erst richtig los"
Sie zog ihren Mantel zurecht, so dass man die Blutflecken auf ihrem Hemd und das Schwert an ihrer Seite nicht sehen konnte, dann führte sie Birad aus dem Zelt. 
Diesmal gab sie genau acht, dass er keine Geräusche verursachte!

***

Auf der Rückseite des Zeltes im Mittelpunkt des Lagers hielt sie an und raunte Birad zu:
"Jetzt beginnt unser Abenteuer...", sie unterbrach sich und sah sich lauschend um. Dabei drehte sie das Gesicht von ihm weg, so dass er nicht sehen konnte, dass sie es war, die jetzt mit verstellter Stimme sprach.

"Birad!", erklang plötzlich die betrunkene und wütende Stimme des "Onkels" aus dem Zelt. Der Junge - an diesem Abend schon verängstigt genug - zuckte zusammen und hätte beinahe zu weinen angefangen. 
Er war viel zu verwirrt, um sich zu fragen, wie sein Oheim hierher kam. 
Genau auf diese Verwirrtheit hatte Vhawiin gewartet und, ohne auch nur einen Augenblick zu verlieren, wandte sie sich ihm wieder zu und hielt ihm den Mund zu. 
"Shhh! Leise! Ich habe dir doch gezeigt, wie du dich verteidigen kannst! Jetzt ist es Zeit, das Gelernte anzuwenden"
Birad nickte mit zusammengebissenen Zähnen und ballte die Fäuste, aber sie sah Tränen auf seinem Gesicht. 
Vhawiin zog einen der Holzpflöcke, die das Zelt aufspannten, aus der Erde und hob die Zeltplane an.
"Geh zu ihm ins Zelt und zeig ihm, dass du nicht mehr herumgeschubst werden kannst!" stachelte sie ihn noch mehr an.
Im Innersten hoffte sie inständig, dass dieser gewagte Plan auch funktionieren würde - und dass Birad wieder lebend aus diesem Zelt heraus kam...

Er krabbelte zögernd in die warme Dunkelheit und die "Stimme der Göttin" konnte sein Aufschluchzen hören, ebenso wie das Grummeln des wütenden Onkels. Birad wurde offensichtlich gerade in die Ecke gedrängt und sie konnte seine Angst schon fast selbst spüren...
Dann folgten ein kleines verzweifelt-angstvolles Knurren und schließlich ein leiser Kampfschrei, als der Junge - wie er es gelernt hatte - überraschend dem Onkel entgegen sprang und einen harten Tritt in seinen Unterleib landete.
Einen Tritt, der dem wahren Onkel die Zeugungsfähigkeit geraubt hätte, einen Tritt, der den falschen Onkel, den Wächterdämon, auf dem Boden zusammengekrümmt und nahe der Bewusstlosigkeit zurückließ. 
Vhawiin schob Birad ein Seil zu mit dem er seinen "Onkel" - wie sie es ihm eingeprägt hatte - fesseln sollte und schlüpfte erst dann in das Zelt - schließlich wollte sie dem Dämon nicht die Chance geben, sich in ihren eigenen Angstgegner zu verwandeln!
Der Dämon nahm offenbar wirklich alle Eigenschaften desjenigen an, vor dem sich sein Gegenüber am meisten fürchtete. Auch die Schwachstellen! Hervorragend!
Ein erwachsener Krieger mochte nicht in der Lage sein, seinen größten Schrecken zu besiegen, aber ein verängstigter Junge schon.
Vhawiin grinste zufrieden und strich Birad über den Kopf.

Sie sah sich aufmerksam um und schob sich Rik-Rinde in den Mund. 
Und tatsächlich, dort lag er, auf einem Holzgestell: der Speer von Ber'racchnann. Ein ehrenvoller Platz für einen magischen Gegenstand, der soviel Macht besaß, dass die "Stimme der Göttin" das ganze Zelt von Nebel gefüllt sah.
Sie wob einen Schutzzauber, um sich vor Ber'racchnann zu verbergen, falls dieser sie beobachten konnte, und griff nach dem Speer. Er war nicht sehr schwer und hatte eine steinerne Spitze, von der der magische Nebel herabfloss. Und sie konnte das Prickeln der Magie fühlen, zuerst in der Hand, dann im ganzen Arm und schließlich am Oberkörper.
"Birad, komm! Gehen wir!", raunte sie dem Jungen zu. Ebenso schnell wie die beiden ins Zelt eingedrungen waren, verschwanden sie auch wieder, einen geschlagenen Dämon zurücklassend. Auf dem Rückweg durch das nächtliche Lager schaffte Vhawiin es, den Speer einigermaßen unter ihrem Mantel zu verbergen, aber sie trafen glücklicherweise auf niemanden, der sie aufhalten hätte wollen.

Wieder bei dem Wachposten von vorhin angekommen, verbarg Vhawiin sich hinter einem nahen Zelt und schickte Birad, um den Wächter mit den Gesten eines Taubstummen aufzufordern, ihm zu seiner "Schwester" zu folgen.
Aufreizend schielte sie hinter dem Zelt hervor und winkte den Mann zu sich, in der Verheißung einer angenehmen Nacht, dann verschwand sie wieder dahinter. 
Als der Mann freudig grinsend um die Ecke bog, machte er Bekanntschaft mit dem Schaft von Ber'racchnanns Speer. Wenn er aus dem kurzen "Schlummer" erwachen würde, würde er den heißen Kuss eines Knebels und die heftige Umarmung von Arm- und Fußfesseln spüren.
Vhawiin wuschelte dem Wächter durchs Haar und grinste begeistert: "Ich liebe euch Männer - ihr seid einfach toll!"
Und dann zu dem Jungen: "Komm Birad, nach diesem Abenteuer haben wir uns ein wenig Ausruhen verdient. Aber nicht hier... Gehen wir..."
 

Und hier geht es zu Götterblut - Teil 7!
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