Birad quengelte herum, als Vhawiin sich nach drei Stunden immer
noch nicht bereit sah, eine Pause einzulegen. Aber er wusste ja auch nicht,
dass ihnen eventuell das ganze Lager von Ber'racchnann auf den Fersen war!
Die "Stimme der Göttin" hatte es zwar vermieden, Spuren zu hinterlassen,
aber immerhin hatten sie es hier mit einem Gott zu tun, wenn auch mit einem,
dessen Stärke der Weitblick sicher nicht war.
Nach einer weiteren Stunde machte sie dann endlich halt und ließ
sich an einem kleinen Flüsschen, umgeben von einigen Büschen,
nieder. Birad wickelte sich in Vhawiins Decke und schlief sofort erschöpft
ein.
Sie dagegen kramte in ihrem Beutel, zog ein paar Beeren heraus,
kaute und schluckte sie - im Lager der Druidin waren viele nützliche
Dinge zu finden gewesen. Diese schwärzlich-violetten und verschrumpelten
Früchte eines Waldstrauches wirkten stark belebend und würden
ihr helfen, das nun folgende magische Ritual zu überstehen, denn immerhin
war sie heute schon seit Morgengrauen auf den Beinen und musste noch mindestens
zwei Stunden wach und voll konzentriert bleiben.
Etwas entfernt von Birads Schlafplatz begann sie nun, das Benötigte
im Kreis um sich hinzulegen. Kräuter, die später entzündet
werden mussten, ein scharfes Obsidianmesserchen, mit dem sie ihre Arme
ritzen würde und die wichtige Rik-Rinde, um in Trance zu fallen. Und
natürlich der Speer von Ber'racchnann. Nocheinmal vergewisserte sie
sich, dass alles bereit lag, dann kratze sie mit den Händen eine kleine
Mulde in die Erde und schlug darin Feuer auf einige trockene Zweige. Eine
prickelnde Erregung und Vorfreude stieg in ihr auf, als sie die Kräuter
auf das glimmende Feuer legte und ein großes Stück Rik-Rinde
in den Mund steckte und zu kauen begann.
Sie lehnte sich entspannt gegen einen dürren Baumstamm zurück
und begann mit einem leisen summenden Singsang. Dieser diente nicht, wie
die Druidin immer gegenüber den Dorfbewohnern angab, der Abwehr feindlicher
Geister, sondern das eintönige Brummen - zusammen mit der Rik-Rinde
- ließ ihren Geist in einen anderen Zustand übergehen.
Zwar konnte sie in diesem Zustand das Vergehen der Zeit nicht mehr
wahrnehmen, aber dafür das Jetzt um so deutlicher - und die Kraft
des magischen Gegenstandes, auf den sie sich einstimmte.
Normalerweise waren dies allerdings kleine Schutzamulette und keine
mächtigen Donnerspeere!
Nach allem, was sie wusste war ihr Unterfangen sehr riskant - aber
sie war in letzter Zeit schon größere Risiken eingegangen.
Jemand anderes hätte jetzt ein Stoßgebet zum Himmel geschickt,
doch sie musste sich selbst Göttin genug sein...
***
Blut tropfte von ihren Armen auf den Speer - ihr eigenes Blut. Zuerst
lief es wie eine normale Flüssigkeit über den runden Schaft,
doch dann kam Leben in den roten Saft, und wie sich windende und krümmende
Würmer schlangen die Tropfen sich um den Speer und umklammerten ihn.
Dann drangen sie in die Waffe ein und Vhawiin streckte ihre Hände
danach aus, ohne sie jedoch zu berühren. Sie rang mit der Kraft des
Speeres und ihre Wut und Entschlossenheit ließ ihre Blutwürmer
zucken und beben. Bis sie schließlich die unsichtbare Schutzwand
des Donnerspeeres durchbrach und dessen pure Magie spürte. Gierig
schloss sie die Augen und begann, die Energie der Waffe mit dem ganzen
Körper zu trinken.
Der erste Schluck zerriss ihre Adern und sie wand sie vor übermächtigen
Schmerzen, was jedoch in selbstmörderischer Art das Verlangen und
den Durst nach der magischen Energie noch steigerte und sie nahm verlangend
und unbeherrscht den nächsten Schluck und noch unzählige weitere
und mit jedem wurde aus dem Schmerz immer mehr eine unkontrollierbare Lust.
Der Rausch der Macht wogte auf sie zu wie eine Sturmwelle auf einen
Schwimmer und als er über sie hinwegfegte hinterließ er ein
starkes Kribbeln auf ihrer Haut, so dass sie die raue Rinde des Baumes
in ihrem Rücken nicht mehr wahrnehmen konnte. Aber dafür fühlte
sie jetzt am Rande ihres Bewusstseins die nächsten Wolken, fern von
hier über dem Meer aufziehend, und spürte die Wege der Windböen
über der Steppe...
Die Kräfte des Speeres waren unbestreitbar und Vhawiin brach
in ein lautloses, triumphierendes Lachen im Geiste aus.
Bis die Waffe leer, hohl und zerbrechlich war trank sie die Magie,
bis kein Tröpfchen mehr übrig war und sie alles aufgesogen hatte.
Der Speer war jetzt ein Stück Holz und Stein, doch sie selbst hatte
die Macht, die ihm innewohnte, vollkommen aufgenommen, ihr Körper
glühte vor Hitze.
Der kühle Nachtwind streichelte begehrlich über ihre Haut
und linderte ihr Fieber etwas.
Benommen öffnete sie die Augen und sah auf den Speer. Er war
übergossen mit Blut, inzwischen war es trocken und rotbraun. Aber
die Wunden an ihren Armen, geritzt mit dem scharfen Obsidianmesser, hatten
nicht aufgehört zu bluten und sie lag in einer kleinen roten Lache.
"Verbinden... sonst Verbluten", dachte sie langsam und kämpfe
sich mühsam auf die Knie. Sie zerriss ihr Hemd und knotete es etwas
hilflos so fest es ging um ihre Unterarme. Sofort färbte sich der
gelbliche Stoff dunkelrot, aber nachdem sich die Flecken etwas ausgebreitet
hatten, hörten sie auf, zu wachsen.
Mit ganzer Kraft schob sie den Speer hinter sich ins Gebüsch
und rief mit trockener Kehle nach Birad. Der Junge erwachte nur langsam
und Vhawiin verfluchte ihn träge in Gedanken. Als er sich jedoch die
Augen gerieben hatte und sah, dass seine Freundin wohl verwundet war, war
er hellwach und sprang zur ihr.
"Keine Angst, das wird schon wieder", flüsterte sie heiser,
"Bring mir nur schnell etwas zu trinken!"
Er stürmte mit ihrer Wasserflasche zu dem kleinen Flüsschen
und gleich darauf konnte Vhawiin das kühle Wasser auf der Zunge spüren...
Wenn sie sich etwas ausruhte und viel trank würde sie wieder auf die
Beine kommen, das wusste sie...
***
Den nächsten Tag verbrachte sie unter einem schützenden
Blätterdach, das Birad aufgebaut hatte, und ruhte sich im Liegen aus.
Dieser Zeitverlust war unangenehm aber notwendig. Sie schickte ihren jungen
Helfer immer wieder zum Bach, um Wasser zu holen und ihr zu Trinken zu
bringen und ließ ihn auch Hemd und Speer von Blut säubern -
nachdem sie ihm eingeschärft hatte, die Waffe bloß nicht zu
beschädigen.
Außerdem aß sie einen Gutteil ihres Proviants und kaute
einige stärkende Wurzeln aus dem der Druidin gestohlenen Vorrat, welcher
sich nun langsam zu Ende neigte... Sie musste ihren Plan schnell zuende
bringen, ihre Mittel ließen keine weiteren Verzögerungen zu.
Trotz ihres geschwächten Körpers war der Triumph des gestrigen
Abends deutlich in ihren Augen zu lesen und der Gedanke daran stärkte
sie ungemein.
Am Abend brachen sie auf, Vhawiin auf der einen Seite auf den Speer
gestützt und mit der anderen Hand auf Birads Schulter. Mehr Erholungszeit
konnte sie sich nicht leisten.
Die folgenden zwei Nächte des Wanderns durch die Steppe waren
mühselig und erschöpfend, aber Vhawiin spürte die körperliche
Kraft schneller zurückkommen, als es normal war, und das lag an der
neuen magischen Energie, die sich in ihrem Körper niedergelassen hatte.
Während der langweiligen Stunden, in denen sie Schritt an Schritt
setzte und von Birad durch die Nacht geführt wurde, ließ sie
ihren Geist schweifen und spielte mit den Winden über der Steppe.
Es bereitete ihr Vergnügen, die neue Macht zu erproben und
Böen in unterschiedlichsten Richtungen durch die Dunkelheit jagen
zu lassen.
Die entfernten Wolken über dem Meer konnte sie Richtung Land
ziehen fühlen, wie einen halbbewussten Gedanken im Hinterkopf.
Sie würde Wolken brauchen, so wie Ber'racchnann sie gebraucht
hatte - ohne Wolken keine Blitze. Oft genug zogen die grauen Fronten vom
Meer her über die Steppe - hier würde viel mehr grünen,
das hatte Vhawiin bemerkt, wenn die Erde nicht verbrannt gewesen wäre!
Der Donnergott hatte selten zu fürchten gehabt, dass er die Macht
seiner Blitze nicht einsetzen konnte weil keine Wolken am Himmel standen
und auch Vhawiin konnte sicher sein, dass der nächsten Morgen blau-grau
verhangen sein würde...
***
Vhawiin wachte aus dem Dämmer des Schlafes auf und das erste,
was sie wahrnahm, war ein kühler, frischer und regenfeuchter Windstoss
auf ihrem Gesicht und das kaltweiße Licht eines Wolkenhimmels. Und
ihre erste Reaktion war ein Lächeln. Spannung machte sich langsam
in ihren Gefühlen breit, wie vor einer schwierigen Prüfung, aber
sie war siegessicher. Dann setzte sie sich schwungvoll auf und sah sich
um:
Birad schlief noch, der Wind zerrte unruhig an den dürren Ästen
des Gestrüpps, neben dem sie lagerten und die blaugrauen Wolken schoben
sich auf den Horizont zu. Hinter diesem Horizont lag, eine halbe Stunde
entfernt, das Lager von Nac'rastlen.
Sie fühlte nach der gewaltigen Kraft in ihrem Inneren, die
sie dem magischen Speer geraubt hatte. Und als ihr wieder einmal ein angenehmer
Schauer der Macht über den Rücken lief, sah sie zum ersten Mal
die Luft purpurn schimmern und konnte die Wege der Blitze erkennen - dort
wo der purpurne Schimmer am deutlichsten war und zackig von Himmel zu Erde
lief, konnten die Blitzschläge niederfahren - sie vermutete es nicht,
sie wusste es. Vhawiin streckte die Hand aus und sah einen dieser Blitzwege
mit neugierig schiefgelegtem Kopf an.
Und dann, auf einen kleinen magischen Wink hin, fuhr kaum zweihundert
Schritte von ihr entfernt ein grelles Gleißen in den Boden, dicht
gefolgt von einem dröhnenden Donnerschlag. Gewaltige Freude stieg
in ihr auf und Stolz auf ihre Leistungen und ihre Macht. Und wieder dieses
Raubtierlächeln, das sie in letzter Zeit so oft auf dem Gesicht trug
und
das Feuer, das aus ihren Augen strahlte, als sie mit ihrer Magie selbst
einen purpurnen Blitzweg vom Himmel bis zu einem fernen Baum zeichnete
und ein weiterer Blitz das mürbe Gerüst des Stammes in brennende
Fetzen zerriss.
Birad erwachte vom zweiten Donnerschlag und sah eine bestens gelaunte
Vhawiin fragend an.
"Ich werde mich jetzt mal auf den Weg machen... Du kannst leider
nicht mitkommen, da wo ich hingehe, darf ich nur allein hin", erklärte
sie freundlich, "Ich werde bald wieder da sein, warte hier auf mich und
bewache unser Lager!"
Der Junge nickte nur verständnislos.
Sie drehte sich um, nahm ihre Tasche auf, griff den Speer und steuerte
auf das ferne Kriegslager von Nac'rastlen zu.
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