Götterblut von KeyKeeper
Teil 7

Birad quengelte herum, als Vhawiin sich nach drei Stunden immer noch nicht bereit sah, eine Pause einzulegen. Aber er wusste ja auch nicht, dass ihnen eventuell das ganze Lager von Ber'racchnann auf den Fersen war! Die "Stimme der Göttin" hatte es zwar vermieden, Spuren zu hinterlassen, aber immerhin hatten sie es hier mit einem Gott zu tun, wenn auch mit einem, dessen Stärke der Weitblick sicher nicht war.
Nach einer weiteren Stunde machte sie dann endlich halt und ließ sich an einem kleinen Flüsschen, umgeben von einigen Büschen, nieder. Birad wickelte sich in Vhawiins Decke und schlief sofort erschöpft ein.
Sie dagegen kramte in ihrem Beutel, zog ein paar Beeren heraus, kaute und schluckte sie - im Lager der Druidin waren viele nützliche Dinge zu finden gewesen. Diese schwärzlich-violetten und verschrumpelten Früchte eines Waldstrauches wirkten stark belebend und würden ihr helfen, das nun folgende magische Ritual zu überstehen, denn immerhin war sie heute schon seit Morgengrauen auf den Beinen und musste noch mindestens zwei Stunden wach und voll konzentriert bleiben.

Etwas entfernt von Birads Schlafplatz begann sie nun, das Benötigte im Kreis um sich hinzulegen. Kräuter, die später entzündet werden mussten, ein scharfes Obsidianmesserchen, mit dem sie ihre Arme ritzen würde und die wichtige Rik-Rinde, um in Trance zu fallen. Und natürlich der Speer von Ber'racchnann. Nocheinmal vergewisserte sie sich, dass alles bereit lag, dann kratze sie mit den Händen eine kleine Mulde in die Erde und schlug darin Feuer auf einige trockene Zweige. Eine prickelnde Erregung und Vorfreude stieg in ihr auf, als sie die Kräuter auf das glimmende Feuer legte und ein großes Stück Rik-Rinde in den Mund steckte und zu kauen begann.
Sie lehnte sich entspannt gegen einen dürren Baumstamm zurück und begann mit einem leisen summenden Singsang. Dieser diente nicht, wie die Druidin immer gegenüber den Dorfbewohnern angab, der Abwehr feindlicher Geister, sondern das eintönige Brummen - zusammen mit der Rik-Rinde - ließ ihren Geist in einen anderen Zustand übergehen.
Zwar konnte sie in diesem Zustand das Vergehen der Zeit nicht mehr wahrnehmen, aber dafür das Jetzt um so deutlicher - und die Kraft des magischen Gegenstandes, auf den sie sich einstimmte.
Normalerweise waren dies allerdings kleine Schutzamulette und keine mächtigen Donnerspeere!
Nach allem, was sie wusste war ihr Unterfangen sehr riskant - aber sie war in letzter Zeit schon größere Risiken eingegangen.
Jemand anderes hätte jetzt ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, doch sie musste sich selbst Göttin genug sein...

***

Blut tropfte von ihren Armen auf den Speer - ihr eigenes Blut. Zuerst lief es wie eine normale Flüssigkeit über den runden Schaft, doch dann kam Leben in den roten Saft, und wie sich windende und krümmende Würmer schlangen die Tropfen sich um den Speer und umklammerten ihn. Dann drangen sie in die Waffe ein und Vhawiin streckte ihre Hände danach aus, ohne sie jedoch zu berühren. Sie rang mit der Kraft des Speeres und ihre Wut und Entschlossenheit ließ ihre Blutwürmer zucken und beben. Bis sie schließlich die unsichtbare Schutzwand des Donnerspeeres durchbrach und dessen pure Magie spürte. Gierig schloss sie die Augen und begann, die Energie der Waffe mit dem ganzen Körper zu trinken. 
Der erste Schluck zerriss ihre Adern und sie wand sie vor übermächtigen Schmerzen, was jedoch in selbstmörderischer Art das Verlangen und den Durst nach der magischen Energie noch steigerte und sie nahm verlangend und unbeherrscht den nächsten Schluck und noch unzählige weitere und mit jedem wurde aus dem Schmerz immer mehr eine unkontrollierbare Lust. 
Der Rausch der Macht wogte auf sie zu wie eine Sturmwelle auf einen Schwimmer und als er über sie hinwegfegte hinterließ er ein starkes Kribbeln auf ihrer Haut, so dass sie die raue Rinde des Baumes in ihrem Rücken nicht mehr wahrnehmen konnte. Aber dafür fühlte sie jetzt am Rande ihres Bewusstseins die nächsten Wolken, fern von hier über dem Meer aufziehend, und spürte die Wege der Windböen über der Steppe...
Die Kräfte des Speeres waren unbestreitbar und Vhawiin brach in ein lautloses, triumphierendes Lachen im Geiste aus.

Bis die Waffe leer, hohl und zerbrechlich war trank sie die Magie, bis kein Tröpfchen mehr übrig war und sie alles aufgesogen hatte. Der Speer war jetzt ein Stück Holz und Stein, doch sie selbst hatte die Macht, die ihm innewohnte, vollkommen aufgenommen, ihr Körper glühte vor Hitze. 
Der kühle Nachtwind streichelte begehrlich über ihre Haut und linderte ihr Fieber etwas.
Benommen öffnete sie die Augen und sah auf den Speer. Er war übergossen mit Blut, inzwischen war es trocken und rotbraun. Aber die Wunden an ihren Armen, geritzt mit dem scharfen Obsidianmesser, hatten nicht aufgehört zu bluten und sie lag in einer kleinen roten Lache.
"Verbinden... sonst Verbluten", dachte sie langsam und kämpfe sich mühsam auf die Knie. Sie zerriss ihr Hemd und knotete es etwas hilflos so fest es ging um ihre Unterarme. Sofort färbte sich der gelbliche Stoff dunkelrot, aber nachdem sich die Flecken etwas ausgebreitet hatten, hörten sie auf, zu wachsen.
Mit ganzer Kraft schob sie den Speer hinter sich ins Gebüsch und rief mit trockener Kehle nach Birad. Der Junge erwachte nur langsam und Vhawiin verfluchte ihn träge in Gedanken. Als er sich jedoch die Augen gerieben hatte und sah, dass seine Freundin wohl verwundet war, war er hellwach und sprang zur ihr.
"Keine Angst, das wird schon wieder", flüsterte sie heiser, "Bring mir nur schnell etwas zu trinken!"
Er stürmte mit ihrer Wasserflasche zu dem kleinen Flüsschen und gleich darauf konnte Vhawiin das kühle Wasser auf der Zunge spüren... Wenn sie sich etwas ausruhte und viel trank würde sie wieder auf die Beine kommen, das wusste sie...

***

Den nächsten Tag verbrachte sie unter einem schützenden Blätterdach, das Birad aufgebaut hatte, und ruhte sich im Liegen aus. Dieser Zeitverlust war unangenehm aber notwendig. Sie schickte ihren jungen Helfer immer wieder zum Bach, um Wasser zu holen und ihr zu Trinken zu bringen und ließ ihn auch Hemd und Speer von Blut säubern - nachdem sie ihm eingeschärft hatte, die Waffe bloß nicht zu beschädigen.
Außerdem aß sie einen Gutteil ihres Proviants und kaute einige stärkende Wurzeln aus dem der Druidin gestohlenen Vorrat, welcher sich nun langsam zu Ende neigte... Sie musste ihren Plan schnell zuende bringen, ihre Mittel ließen keine weiteren Verzögerungen zu.
Trotz ihres geschwächten Körpers war der Triumph des gestrigen Abends deutlich in ihren Augen zu lesen und der Gedanke daran stärkte sie ungemein.
Am Abend brachen sie auf, Vhawiin auf der einen Seite auf den Speer gestützt und mit der anderen Hand auf Birads Schulter. Mehr Erholungszeit konnte sie sich nicht leisten.

Die folgenden zwei Nächte des Wanderns durch die Steppe waren mühselig und erschöpfend, aber Vhawiin spürte die körperliche Kraft schneller zurückkommen, als es normal war, und das lag an der neuen magischen Energie, die sich in ihrem Körper niedergelassen hatte.
Während der langweiligen Stunden, in denen sie Schritt an Schritt setzte und von Birad durch die Nacht geführt wurde, ließ sie ihren Geist schweifen und spielte mit den Winden über der Steppe.
Es bereitete ihr Vergnügen, die neue Macht zu erproben und Böen in unterschiedlichsten Richtungen durch die Dunkelheit jagen zu lassen.
Die entfernten Wolken über dem Meer konnte sie Richtung Land ziehen fühlen, wie einen halbbewussten Gedanken im Hinterkopf. 
Sie würde Wolken brauchen, so wie Ber'racchnann sie gebraucht hatte - ohne Wolken keine Blitze. Oft genug zogen die grauen Fronten vom Meer her über die Steppe - hier würde viel mehr grünen, das hatte Vhawiin bemerkt, wenn die Erde nicht verbrannt gewesen wäre! Der Donnergott hatte selten zu fürchten gehabt, dass er die Macht seiner Blitze nicht einsetzen konnte weil keine Wolken am Himmel standen und auch Vhawiin konnte sicher sein, dass der nächsten Morgen blau-grau verhangen sein würde...

***

Vhawiin wachte aus dem Dämmer des Schlafes auf und das erste, was sie wahrnahm, war ein kühler, frischer und regenfeuchter Windstoss auf ihrem Gesicht und das kaltweiße Licht eines Wolkenhimmels. Und ihre erste Reaktion war ein Lächeln. Spannung machte sich langsam in ihren Gefühlen breit, wie vor einer schwierigen Prüfung, aber sie war siegessicher. Dann setzte sie sich schwungvoll auf und sah sich um:
Birad schlief noch, der Wind zerrte unruhig an den dürren Ästen des Gestrüpps, neben dem sie lagerten und die blaugrauen Wolken schoben sich auf den Horizont zu. Hinter diesem Horizont lag, eine halbe Stunde entfernt, das Lager von Nac'rastlen. 
Sie fühlte nach der gewaltigen Kraft in ihrem Inneren, die sie dem magischen Speer geraubt hatte. Und als ihr wieder einmal ein angenehmer Schauer der Macht über den Rücken lief, sah sie zum ersten Mal die Luft purpurn schimmern und konnte die Wege der Blitze erkennen - dort wo der purpurne Schimmer am deutlichsten war und zackig von Himmel zu Erde lief, konnten die Blitzschläge niederfahren - sie vermutete es nicht, sie wusste es. Vhawiin streckte die Hand aus und sah einen dieser Blitzwege mit neugierig schiefgelegtem Kopf an. 
Und dann, auf einen kleinen magischen Wink hin, fuhr kaum zweihundert Schritte von ihr entfernt ein grelles Gleißen in den Boden, dicht gefolgt von einem dröhnenden Donnerschlag. Gewaltige Freude stieg in ihr auf und Stolz auf ihre Leistungen und ihre Macht. Und wieder dieses Raubtierlächeln, das sie in letzter Zeit so oft auf dem Gesicht trug und das Feuer, das aus ihren Augen strahlte, als sie mit ihrer Magie selbst einen purpurnen Blitzweg vom Himmel bis zu einem fernen Baum zeichnete und ein weiterer Blitz das mürbe Gerüst des Stammes in brennende Fetzen zerriss.

Birad erwachte vom zweiten Donnerschlag und sah eine bestens gelaunte Vhawiin fragend an.
"Ich werde mich jetzt mal auf den Weg machen... Du kannst leider nicht mitkommen, da wo ich hingehe, darf ich nur allein hin", erklärte sie freundlich, "Ich werde bald wieder da sein, warte hier auf mich und bewache unser Lager!"
Der Junge nickte nur verständnislos.
Sie drehte sich um, nahm ihre Tasche auf, griff den Speer und steuerte auf das ferne Kriegslager von Nac'rastlen zu.
 

Und hier geht es zu Götterblut - Teil 8!
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