Die dunkle Flamme des Drachen von Haldir
Prolog: Verrat

Tiefschwarze Wolken bedeckten den Nachthimmel und hüllten das Land in Finsternis. 
Es war kalt und ein starker Wind wehte vom Osten her. 
Richard, Fürst der Drachenkrieger und König von Merea, stand an der Spitze eines riesigen, fünfzehntausenden Mann starken Heeres in der Mitte des Landes Baran. Seine silberne Rüstung glänzte sogar in der Dunkelheit und er hielt sein Langschwert sicher in der Hand. Er war alt, aber immer noch kerngesund und lebendig.
Der Großteil seiner Armee war schwer gepanzert. Es waren tapfere, gut ausgebildete Soldaten. Diejenigen, die nach vielen Schlachten überlebt hatten. Die Stimmung war gut, denn die letzte Schlacht stand bevor.
"Vater! Wann beginnt der Ansturm?" hörte der König eine bekannte Stimme hinter sich.
"Bald, Phillip", antwortete er mit kräftiger Stimme. Ein junger Mann erschien neben dem König. Er war gut gerüstet mit einem reich verzierten Helm, einem Brustpanzer und darunter hatte er ein Kettenhemd an. Dunkles, schulterlanges Haar war unter dem Helm zu erkennen und seine Augen leuchteten grün in der Dunkelheit. In der einen Hand hielt er einen Rundschild und in der anderen eine doppelschneidige Streitaxt, die er unruhig drehte. Richard bemerkte es, deutete es jedoch falsch und sagte sanft:
"Habe keine Angst, mein Junge!"
Er legte ihm die Hand auf seine Schulter.
"Jeder muss irgendwann seine erste Schlacht schlagen. Doch ich werde über dich wachen und keiner soll es wagen dir auch nur ein Haar zu krümmen. Denn dann wird er mein eiskaltes Schwert zu spüren bekommen." Doch der König sah das Funkeln in den Augen seines Sohnes nicht. Denn es war keine Angst in ihnen. Nur die Gier nach Macht.
"Wir werden mit den ersten Sonnenstrahlen kommen und mit den letzten wieder gehen - als Sieger", verkündete Richard siegessicher.
Als hätte der Himmel auf sein Zeichen gewartet, erhellte er sich weit im Osten. Der Wind drängte die Wolken langsam aber sicher zurück. Der Himmel klarte sich schon bald auf und die Sonne brach durch die Wolken. Sie entblößte ein flaches Grasland und im Norden war das riesige Silber-Gebirge zu sehen. Doch weit vor dem Gebirge war sie. Die Hauptstadt der Baraner, Orkush.
Die Stadtmauern waren unglaublich fest und dick. Die Türme waren hoch und mit Ballisten, Katapulten und Mangen besetzt. Es gab drei Verteidigungsringe und vor allen Dreien waren breite Burggräben ausgehoben. Sie schien uneinnehmbar und an jenem Tag sollte sie auch nicht eingenommen werden.
"Die Zeit ist gekommen!" rief Richard. Er richtete sein Schwert auf die Festung in der Ferne. "Diese verfluchten Barbaren werden fallen. Ihr habt tapfer gekämpft und die feindlichen Städte vom Süden her wie ein Sturm eingenommen. Ist die Hauptstadt gefallen, fällt auch der letzte Widerstand dieser Wilden!"
Die Soldaten zückten ihre Waffen und hielten sie gen Himmel.
"TOD!" riefen sie und schlugen die Waffen gegen ihre Schilde.
Richard wandte sich zu einem in der Nähe stehenden Krieger. "Lass die Drachen holen!" befahl er herrisch.
"Jawohl, Herr!" sagte dieser und drängelte sich durch die Menge.
"Drachenreiter!" rief er laut. "Zieht in die Schlacht! Kämpft! Siegt!"
Schon bald war ein lautes Stampfen zu hören, das näher kam, bis es hinter dem König aufhörte. Richard hörte sein Schnaufen, spürte seine Wärme. Er drehte sich um.
"Willibald ist bereit, mein König!" sagte der Soldat ehrfürchtig, kniete nieder und bot Richard die Zügel des Drachen an.
Der Drache war groß, sehr groß. Seine Schuppen waren schneeweiß, seine Augen smaragdgrün, seine Flügel kräftig und breit.
Die Soldaten hielten Abstand von dem unglaublichen Wesen, denn seine Krallen waren gefährlicher als jedes Schwert und seine Reißzähne wahrhaftig angsteinflößend. Zusätzlich war der Drache mit einer schwarzen Rüstung gepanzert, die vom Kopf, über den Rücken, bis zum Schwanz ging. Am Bauch war ein dicker Brustpanzer angelegt. Alles in Einem war es eine Kreatur, die man nicht gerne in den feindlichen Reihen sah.
Ein weiterer Soldat hielt dem König eine lange, weiße Lanze hin, wog sie sanft in seinen groben Händen, als wäre sie aus feinstem Glas.
Richard steckte sein Schwert in die Scheide, nahm die langen Zügel in die Hand und führte seinen Drachen weiter aus dem Heer heraus. Dann legte sich das großartige Wesen auf den Bauch und ließ den König über einen Flügel zu dem Sattel hinaufsteigen. Richard bestieg ihn und klopfte ihm auf den Rücken. Danach nahm er die Lanze entgegen.
"Auf! Schwing dich in die Höhen, mein Freund!" befahl er und der Drache erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen, die den Sand am Boden durch den entstehenden Wind aufwirbeln ließen. Willibald schlug noch ein paar Male mit den Flügeln und sie waren weit über den Köpfen der Mereaner.
Aus der Luft sah Richard viele weitere Drachen in einiger Entfernung aus der Armee emporsteigen. Er zählte einhundert Drachen. Sie kreisten über der Armee wie Adler und warteten auf das Zeichen des Königs.
Die Fußsoldaten hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und marschierten auf die Stadt zu.
Es war soweit. Der Angriff begann. Permanentes Klirren der Waffen und Rüstungen war zu hören und das Stampfen der marschierenden Krieger.
"Zum Angriff!" rief der König und die Drachen flogen auf die Stadt zu. Sie bildeten in der Luft einen Keil mit Richard an der Spitze.
Scharfer Wind rauschte an ihm vorbei. Die Kälte ließ ihn zittern. Doch die Kampflust trieb ihn und sein Reittier voran. Dieser Tag sollte sein Tag werden. Sein Name sollte Unsterblichkeit erlangen.
Doch plötzlich erscholl ein Horn aus der Ferne. Der tiefe Ton ließ jeden auf dem Feld den Atem anhalten. Alle Blicke richteten sich auf die Stadttore des Feindes. Die Torflügel schwangen quälend langsam auf. Eine Masse aus Gestalten strömte heraus und bildete vor der Mauer eine Linie, doppelt so lang wie die Reihen der Mereaner.
Dann setzte sie sich in Bewegung.
Der Boden bebte.
Der Feind kam näher.
Man konnte sie immer genauer erkennen. Es war eine Armee von ungefähr fünftausend Reitern. Doch das gefährlichste waren die Reittiere.
Es waren Riesenwarane, gigantische Echsen, doppelt so groß wie Pferde, ihre Zähne waren lang wie Messer und noch spitzer. Ihre Krallen waren tödlich, ihr Speichel giftig, der Körper muskulös und ihre Haut dick. Ihre Augen trachteten nach Blut und Fleisch. Menschenfleisch. 
Die Mereaner wären ihnen ohne Drachen hilflos unterlegen gewesen. Doch auch mit diesen unglaublichen Flugtieren war der Kampf nicht leicht.
Die Reiterarmee kam immer näher bis auf Schussreichweite der Bogenschützen. Die Mereaner schossen die erste Salve ab. Ein Regen aus Pfeilen fiel auf die Waranenreiter und erledigte einige Dutzend. Doch sie kamen unaufhaltsam näher. Wie eine Schneelawine bahnte sich der Feind einen Weg durch das Feld. Das feindliche Heer formierte sich zu einem Halbkreis, der die Mereaner immer weiter umschloss.
Doch plötzlich war ein Brüllen zu vernehmen. Die Drachen stießen vom Himmel herab.
Richard führte den Drachenkeil in einem Sturzflug auf die Gegner.
Sie stürzten mit übernatürlicher Geschwindigkeit herab. Die Warane hatten die Armee fast erreicht und die Mereaner hatten begonnen brüllend auf die Gegner zuzurennen, als plötzlich die Drachen, knapp über die Köpfe der Freunde hinweg, in die Waranenreiter stießen. Der erste Zusammenstoß endete tödlich für den Feind.
Die Drachen empfingen die Reiter mit ihren Klauen und Flammen. Sie rissen immer wieder Feinde mit in die Luft und ließen sie aus der Höhe fallen.
Der König saß auf seinem prächtigen Drachen und stach mit seiner Lanze immer wieder auf die Gegner ein. Willibald wühlte die Reihen seiner Opfer auf wie ein Pflug die Erde. Er riss sie in Fetzen, zermalmte ihre Knochen, entsandte Feuerstürme auf sie herab und wütete wild unter ihnen. Warmes Blut besudelte sein reines Schuppenkleid.
Nach einiger Zeit war es eindeutig - das Blatt wendete sich zu Gunsten der Mereaner. Es gab viele Opfer, doch die Baraner wurden langsam, aber sicher, zurückgetrieben.
Richard führte seinen Drachen durch die Gegner, stach selbst mit der Lanze zu, wenn jemand in Reichweite kam. Immer wieder musste er sein Tier zurückhalten, um nicht alleine in die feindlichen Reihen zu laufen.
Die Baraner waren stämmige Barbaren. Wenn sie überhaupt Rüstungen besaßen, dann hatten sie einfache Tierfelle. Als Waffen führten die meisten lange Speere mit sich, um von den hohen Reittieren besser niederstechen zu können. Doch sie hatten auch Äxte oder Keulen als Nahkampfwaffen. Von den hinteren Reihen schossen Bogenschützen der Baraner auf die Drachen und verletzten sie an den Flügeln oder erschossen die Reiter. Darauf erwiderten die Mereaner den Beschuss mit den eigenen Schützen. Der Kampf tobte brandheiß.

Nachdem der König einen weiteren Reiter von seinem Tier stieß, sah er sich um.
Überall kämpften die Krieger beider Seiten mit allen Mitteln gegen den Feind. Unzählige verstümmelte und verbrannte Leichen von Menschen, Pferden und Waranen füllten das Feld. Auch einige verstorbene Drachen lagen wie Hügel am Boden.
Die Kämpfe glichen sich überall. Mehrere Mereaner kämpften gegen einen Baraner und seinen Waranen. Umgekehrt kämpften mehrere Baraner gegen einen Mereaner und seinen Drachen.
Richard suchte nach seinem Sohn. Er hatte ihm eine Leibgarde von zehn Drachenreitern zugeteilt, um ihn zu schützen. Doch er konnte ihn nirgendswo erspähen.
Daraufhin entschied er, sich in die Luft zu erheben. Er hoffte, ihn aus der Ferne ausfindig zu machen.
Phillip besaß einen roten Drachen. Die meisten Drachen waren blau, grün oder braun, Farben, die in der Natur eine gute Tarnung boten. Selten gab es rote oder schwarze Drachen. Und sein weißer Drache war einzigartig.
Er entdeckte einige rote Drachen, doch sie waren kleiner als der Drache des Prinzen. Dessen Drache war ein Sprössling Willibalds und ebenso groß. Seine Suche blieb erfolglos, bis sich ihm plötzlich einige Drachen von hinten näherten. Richard blickte zurück und erkannte seinen Sohn und vier andere Reiter. Sie näherten sich ihm bis sie ihn eingeholt hatten.
"Phillip, wo warst du?" rief er laut, um den pfeifenden Wind zu übertönen. Keine Antwort. 
"Sprich!"
Immer noch nichts. Ein seltsames Gefühl überkam den König. Er fühlte sich umringt - von Feinden.
Dann nickte der Prinz den anderen Reitern zu und sie stießen plötzlich von allen Seiten in Willibald. Der Drache brüllte auf und versuchte sich die Angreifer vom Leib zu halten. Er stieß mit den Beinen gegen sie, doch sie fielen immer wieder in ihn ein. Sie waren zwar kleiner, aber auch flinker.
Richard verstand, was geschah, und die Erkenntniss schockte ihn. Sein Herz schmerzte. Warum griff er ihn an? Wollte er ihn wirklich verraten? Jetzt, wo sie doch den Krieg fast gewonnen hatten? Der Wind trug seine bitteren Tränen davon.
"Verräter!" schrie er. Der Prinz lachte nur.
Willibald versuchte aus der Klemme zu kommen, doch er wurde immer wieder zurückgestoßen. Richards Trauer wurde zu blinder Wut und er begann wild mit der Lanze nach den angreifenden Reitern zu stechen. Ein unvorsichtiger Verräter, der zu nahe gekommen war, bekam sie seitlich in den Hals. Der Sterbende sank schlaff die Seite seines Drachen herunter, eine breite Blutspur hinterlassend, und wurde dann vom Wind weggerissen. Sein verwirrtes Flugtier blieb zurück, der fallenden Leiche hinterherblickend.
Danach blieben die anderen Angreifer vorsichtiger und konzentrierten sich auf Willibalds Flügel und Beine, die Stellen, die Richard nicht verteidigen konnte. Als der König nun einsah, dass er keine Chance gegen sie hatte, blieb ihm nur noch eine Möglichkeit zur Flucht.
"Willibald!" rief er dem verwundeten Drachen hektisch zu. "Lass dich fallen!"
Der Drache reagierte blitzschnell. Er klappte die Flügel ein und fiel wie ein Stein. Es war zu überraschend, als dass der Prinz hätte etwas tun können. Unglücklicherweise flog unter dem König ein weiterer Verräter, der zwischen den zwei Drachen im Stattel zerquetscht wurde. Sein Reittier wurde vom Gewicht Willibalds niedergedrückt und fiel mit. Sie stürzten zusammmen bis kurz vor dem Boden, wo Willibald seine Flügel wie einen Fächer aufstieß. Dem anderen Drachen gelang keine solche heikle Aktion und er starb zusammen mit einer handvoll Soldaten am Boden. Richard blickte hinter sich, wo die restlichen Angreifer die Verfolgung wieder aufnahmen.
Er hatte noch einen Vorsprung, doch Willibald schien verletzt zu sein. Die Flügel waren an einigen Stellen aufgerissen und bluteten. Die Drachen mussten sie mit ihren Klauen aufgeschnitten haben. Aus dem Atem Willibalds wurde ein unkontrolliertes Schnaufen.

Plötzlich bemerkte Richard das Geschehen auf dem Boden. In den Reihen der Drachen kämpften die Drachenreiter untereinander. Alles deutete auf einen lang geplanten Verrat.
Wie konnte so etwas organisiert werden? fragte er sich, weitere Tränen unterdrückend. Er hatte so viel erreicht. Sollte er kurz vor dem Ziel scheitern? Und das durch sein eigenes Fleisch und Blut.
Welche Seite zu den Verrätern gehörte, wusste Richard nicht, doch eine gewann die Oberhand. Die Baraner ließen sie in Ruhe gegeneinander kämpfen.
Am Ende stellten die Gewinner sich als die Verräter heraus. Sie metzelten nun unter den eigenen Reihen und kämpften Seite an Seite mit den Barbaren. Ohne Drachen waren die Mereaner hilflos. Aus der Schlacht wurde ein bloßes Gemetzel.
Der Prinz und sein Gefolge hatten inzwischen aufgeholt. Ein Reiter schoss mit einem Kurzbogen auf Willibald und durchlöcherte seine Flügel. Der Flug des Drachen verlor immer mehr an Stabilität. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er die Höhe. Sie waren nicht mehr weit vom Boden entfernt. Einzelne Pfeile surrten knapp an ihnen vorbei.
Dann sah Richard den Prinzen einen Speer, den er auf den Rücken gebunden hatte, für den Wurf vorbereiten.
Plötzlich schien die Zeit langsamer zu vergehen. Der König  war gelähmt, den Blick auf seinen Sohn geheftet.
Der Prinz hob den Arm langsam, den Speer fest im Griff. Seine Augen fixierten Willibald. Dann warf er mit einem heiseren Schrei.
Er traf Willibald seitlich. Die glänzenden Schuppen hatten keine Chance gegen die Wucht des Speeres. Das Geschoss drang mit Leichtigkeit in den massiven Brustkorb des Drachen.
Das gab ihm den Rest.
Willibald brüllte auf und stürzte.
Der Boden näherte sich bedrohlich.
Willibald schlug mehrere Male auf und blieb in der Menge der Feinde liegen. Richard klemmte mit einem Bein unter seinem toten Freund und konnte nicht heraus. Das Glied war zerquetscht und er fühlte, dass einige Rippen gebrochen waren. Außerdem pochte sein Kopf und er fühlte warmes Blut an seiner Wange herunterfließen. Um ihn herum lagen zahlreiche Leichen, die den Tod durch Pfeil und Schwert gefunden hatten.
Sein Blick wurde trüb, alles um ihn herum dunkel und leise.
Er hörte einen dumpfen Aufschlag, danach einen Reiter von seinem Tier springen.
Schritte.
Sie kamen näher.
Als der König dann eine Silhouette über sich sah, wusste er, wen er vor sich hatte.
"Warum?" murmelte er schwach.
Die Arme des Mannes hoben sich. Sie hielten eine Axt.
"Verräter!" war sein letztes Wort. Dann fuhr die Axt herab.
Dunkelheit ...

So starb Richard, Fürst der Drachenkrieger, König von Merea.
 

© Haldir
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