... 30 Jahre später ...
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Es war ein kalter Herbsttag. Im Westen, über dem Silber-Gebirge,
zeigten sich dunkle Regenwolken und im Osten stieg die Sonne langsam und
zögernd immer höher.
Wilhelm, ein junger, zwanzig Jahre alter Mann, stand auf der gewaltigen
Stadtmauer von Lorey und lehnte sich verspannt an die Brüstung. Er
war gut gebaut, nicht sehr muskulös und hatte lockiges, schulterlanges
Haar. Er trug keine Rüstung und, bis auf einen Dolch, der an seinem
Gürtel hing, auch keine Waffen.
Um ihn herum ragten die Türme der Stadt hoch auf. Ihre silbernen
Dächer strahlten in der Morgensonne und die Banner an den Spitzen
flatterten im Wind. Sie zeigten einen roten Drachen auf weißem Feld.
Ein paar Meilen vor den Mauern lag ein riesiger Laubwald. Die goldene
Herbstpracht schmückte Baumkronen und Boden. Hier und da segelte ein
Blatt durch die Luft, machte Überschläge und landete schließlich
sanft auf dem Boden. Doch das ließ Wilhelm ungerührt.
Er blickte nach Norden, zum Dunklen Meer, und wartete auf ein Zeichen,
das ihn wissen ließ, dass sein älterer Bruder, Helmut, ein berüchtigter
Drachenreiter und Krieger, noch lebte. Vor vier Wochen wurde er mit anderen
Drachenreitern und einer Armee geschickt, um Killian, eine Hafenstadt des
Feindes, anzugreifen. Dieser verzweifelte Versuch, die nächste Bedrohung
auszuschalten, versprach keinen Erfolg.
Zu Wilhelms Leid waren noch keine Boten eingetroffen und er fürchtete
sehr um das Wohlergehen seines Bruders. Schon seit fünf Tagen stand
er jeden Morgen auf der Mauer und wartete.
"Wilhelm!" ertönte eine bebende, tiefe Stimme hinter ihm. Wilhelm
wandte sich um. Ein blonder Hüne stand mit hochgezogenen Schultern
und den Händen in den Hosentaschen vergraben vor ihm.
"Wo warst du?" brachte er zwischen den klappernden Zähnen hervor.
"Ich habe dich gesucht!"
"Schlechte Nachricht, Theobald!" antwortete Wilhelm entrüstet.
"Oder besser: gar keine Nachricht! Nie habe ich mich so sehr um meinen
Bruder gesorgt."
"O weh! Lange schon wartest du auf ihn. Aber unterschätze deinen
Bruder nicht", sagte Theobald mit erhobenem Zeigefinger. "Er ist stark
und tapfer. Ich selbst habe mit ihm auf dem Übungsplatz gekämpft.
Er hat mich im Schwertkampf und im Bogenschießen ganz schön
alt aussehen lassen." Theobald schmunzelte unmerklich, als würden
alte Erinnerungen aufkommen - aus besseren Zeiten, Zeiten des Friedens
und der Freude.
Darauf hoffe ich, dachte Wilhelm bedrückt und blickte
auf die Stadt hinter Theobald. Tausende Gebäude bildeten das Innere
der Festung. Die meisten waren hüttenartige Häuser. Doch auch
viele größere Gebäude gab es. Lorey hatte viele berühmte
Ritter, die jedoch nichts weiter als reiche, hochnäsige Adlige waren.
Der große Marktplatz wurde von hunderten Menschen, Ständen,
Händlern, Dieben, Betrunkenen und Soldaten gefüllt.
Das Einzige, womit ein Bewohner dieser Stadt noch prahlen konnte,
war das Herrenhaus des Stadtherrn, ein riesiges Gebäude, aus hellrotem
Stein gebaut. Goldene Kuppeln zierten die Dächer und eisernen Platten,
die von goldenen Mustern geschmückt wurden, stärkten das große
Eingangstor. Vor dem Gebäude lag ein prächtiger Garten mit Pflanzen,
die noch zu dieser Jahrezeit dem Auge mit ihren Blüten und Blättern
wohltaten. Dann und wann flogen wunderschöne Waldvögel durch
die Baumkronen.
"Ich kann trotzdem nicht hier verweilen!"
"Was willst du stattdessen machen? Du gehörst nicht dir selbst.
Einen Eid hast du geschworen!" regte Theobald sich auf. Dann sagte er wieder
leise: "Du kannst nichts machen. Sie sind zu weit weg, hinter so
vielen Gefahren. Alleine kommst du nicht weit. Du bist machtlos."
"Sicherlich. Solange ich hier warte, während unsere
Freunde womöglich ihre Leben aufs Spiel setzen, kann ich nicht viel
machen außer hoffen und beten", stellte er bitter fest. "Doch ich
habe einen kräftigen Drachen und er kann mich weit tragen. Und, wenn
es dein freier Wille ist ..."
Die Worte blieben in der Luft, unausgesprochen, und doch verstand
Theobald jedes einzelne von ihnen.
"Viele Jahre kennen wir uns bereits", sprach er nun ruhig und trat
vor. Freundschaftlich und mit einem kleinen Lächeln legte er Wilhelm
eine Hand auf die Schulter. "Nie hast du mich im Stich gelassen. Ebenso
wenig werde ich es jetzt tun. Ich folge dir! Wohin dein Weg dich
auch führen mag, ich werde bei dir sein."
Dankbar umarmte Wilhelm seinen besten Freund.
"Endlich wieder ein Abenteuer!" lachte Wilhelm nun. Zwar lachte
er nicht ganz sorgenfrei, aber einiges an Last war von ihm abgefallen.
Halte durch, Bruder!
© Haldir
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