Die alte Geschichte von Ithil
Kapitel 1: Trautes Heim, ...

Es war kalt. Sehr kalt sogar. Seit nunmehr sechs Tagen hatte es unaufhörlich geschneit. Das war selbst für das Land Rubtaliahr etwas Ungewöhnliches. Denn obwohl das Land am Nordpol lag, hatte es in den letzten 500 Jahren nie so häufig und stark geschneit, wie in diesem Winter. Doch über so etwas konnte sich Corvus keine Gedanken machen. Er war so sehr damit beschäftigt, nicht vom Weg abzukommen, dass er seine ganze Kraft aufbringen musste gegen den Schneesturm anzukämpfen.
Corvus war ein Zwergminotaurus. Er war zwar nur so groß wie ein Mensch, aber dafür war er mit doppelt soviel Verstand gesegnet worden, wie seine großen Verwandten aus den Sagen und Legenden der alten Zeit. Und als sein Volk vor mehr als 1000 Jahren in den Norden nach Rubtaliahr ging, begannen sie ihr handwerkliches Geschick und ihre Überlebenskünste unter harten Witterungsbedingungen zu verbessern. Den Umgang mit Waffen verlernten sie allerdings nach und nach. Denn hoch oben im Norden brauchte man diese sowieso nicht so häufig, wie im Osten. Es gibt hier keine kriegerischen Völker wie zum Beispiel die Orks oder die Drachenreiter. Und überhaupt war der Norden eher spärlich besiedelt. Nur wenige Völker beherrschen die Überlebenstricks, die nötig sind, um in dieser Eiseskälte etwas Essbares zu finden, geschweige denn mehr als einen Tag zu überleben.
Doch all das war für Corvus im Moment nicht von Belangen. Eingepackt in seinem Mantel aus Mammutfell stapfte er durch den Schnee. Hinter sich zog er einen großen Schlitten her, der mit Holz beladen war.
In der Sprache der Minotauren bedeutete der Name Corvus soviel wie "Holzträger". Und Corvus tat, was sein Name über ihn "aussagte". Er war Holzhändler. Das mag zunächst harmloser klingen, als es ist. Aber er hatte einen gefährlichen Beruf. Es gab nicht viele Raubtiere in der Region des Dorfes, wo er lebte. Aber die, die es gab, waren sehr gefährlich. Und Corvus war einer der wenigen aus seinem Dorf, die mit ihrer Axt auch etwas kämpfen konnten. Und der Dorfälteste hatte es verbieten lassen nach Einbruch der Dunkelheit alleine in den Wald zu gehen. Und so musste das Dorf auf den Holzhändler Corvus vertrauen, wenn sie Feuerholz brauchten. Doch auch einige Schnitzmeister arbeiteten bei Corvus. Sie fertigten wundervolle Figuren, Spielzeug und Alltagsgegenstände wie Löffel und Bretter aus Holz an.
Als Corvus dann endlich in dem kleinen Dorf Syth ankam, warteten schon die beiden Torwächter Alohr und Kis darauf, das Tor zu öffnen, damit Corvus herein konnte.
"Guten Abend, Corvus! Schön, dass du wohlbehalten wieder zurück bist!", rief Kis.
"Danke!", antwortete Corvus, der sichtlich erleichtert auf das sich öffnende Tor zuschritt.
Er ging hindurch und folgte der vom Schnee befreiten Strasse, bis er an seinem Laden ankam. Er ging vorbei an Häusern, wie sie für die Region um Syth typisch waren: Aus Lehm, Beton und Holz erbaut, quadratisch und vielstöckig. In einigen Fenstern brannte noch Licht. Bei anderen waren die Fenster dunkel, seit Jahren schon. Denn immer mehr Familien zog es in die große Stadt Interra. Das Leben dort sei bequemer und sicherer, hieß es.
Dann kam Corvus an der Gaststube "Zum Krug" vorbei. Es war das höchste Gebäude im ganzen Dorf. Man konnte dort nicht nur essen und trinken. Es bestand auch die Möglichkeit ein Zimmer zu mieten. Und aus diesem Grund waren immer viele Fremdländer wie Zentauren, Zwerge, aber manchmal auch Elfen und Menschen im "Krug" (so wurde die Gaststube von den Dorfbewohnern genannt) anzutreffen. Ein anderer Grund war, dass es zwischen dem Nachbardorf Kanth und der nächsten großen Stadt nur noch das Dorf Syth gab. Würde man ohne Zwischenstop in Syth reisen, wäre es ein Fußmarsch von vier Tagen. Und das war vor allem nachts sehr gefährlich. Und nach zwei Tagen und Nächten Reise durch Schnee und Eis waren die Reisenden froh über ein warmes Bett, eine warme Malzeit und den einen oder anderen Bierkrug am Kaminfeuer. Und sie waren gern gesehene Leute in Syth, weil sie immer etwas zu erzählen hatten. Man liebte es, ihren Geschichten aus Ländern jenseits der Grenzen Rubtaliahrs zu lauschen. Sie berichteten von Kämpfen, von Liebe und großen Heldentaten. Doch bei den Leuten in Syth blieb es nur beim Zuhören. Sie waren ein sesshaftes Volk, das nur ungern den Wohnort wechselte.
Endlich kam Corvus an seinem Laden, der gleichzeitig sein Heim war, an. Er zog den mit Holz beladenen Schlitten um das Haus herum zu seinem Lagerschuppen. Er rief nach seinem Lehrling. "Hey, Rahl! Komm raus, hilf mir!"
Kurz darauf öffnete sich die Hintertür des Ladens und Rahl kam heraus.
Rahl war ein Palthur, was in der Sprache der Menschen und Minotauren soviel wie "Fellechse" bedeutete. Und so sah er auch aus. Er lief auf zwei kräftigen Beinen mit stark ausgebildeten Sprunggelenken. Er war so groß wie ein Mensch, aber wesentlich intelligenter. Sein breites Kreuz war, wie auch der Rest seines Körpers, mit giftgrünen Schuppen bedeckt. Doch man konnte nur einen Teil der Schuppen sehen, weil sein Oberkörper mit einem dichten schwarz-grauen Fell bedeckt war. Auch seine Arme waren bis zu den Ellenbogen und die Beine bis zu den Knien mit Fell bedeckt. Er war schon ein bizarrer Anblick.
Entstanden vor mehr als 400 Jahren durch den Versuch eines bösen Magiers, einen Affen mit einem Leguan zu kreuzen, galten die Palthurs in der restlichen Welt als Missgeburten und waren entsprechend unbeliebt. Doch in Rubtaliahr galten sie schon immer als gleichberechtigt. Sie sind vor 300 Jahren mit den allerletzten Zwergminotauren nach Rubtaliahr gezogen und hatten sie während der Reise immer verteidigt.
Rahl kam vor 50 Jahren nach Syth in der Hoffnung, ein Heim, Arbeit und eine Frau zu finden. Ersteres und zweiteres haben gleich am ersten Tag geklappt. Rahl war absolut glücklich, als Corvus ihm Arbeit und eine Bleibe anbot. Zu der Zeit war der damals noch junge Corvus hoffnungslos überfordert mit einer Flut von Aufträgen. Er musste immer öfter raus in den Wald, um immer mehr Holz zu besorgen. Also folglich kam ihm diese große, kräftige, schuppige und haarige Hilfe gerade recht.
Inzwischen war Rahl unabkömmlich geworden. Er übernahm Corvus’ Aufgaben wann immer er konnte. So auch heute. Corvus rieb sich den Schnee aus dem Gesicht. "Also", sagte er zu Rahl, "lad bitte das Holz ab und..."
"Jawohl", unterbrach ihn dieser. "Ich weiß schon. Das Holz abladen und im Schuppen ordentlich stapeln. So, dass nichts herunterfällt und ich noch mal von vorne anfangen muss."
Corvus seufzte erleichtert. "Ach Rahl", sagte er dann, "wenn ich Dich nicht hätte."
Er ging in den Laden. Die beißende, eiskalte Luft, die ihn den ganzen Weg bis zur Tür begleitet hatte, wurde nun durch warme, beinahe schwüle Kaminluft ersetzt. Es roch nach Baumharz und frischen Holzspänen. Corvus schaute auf die Uhr an der Wand über dem Kamin. Es war elf Uhr abends. Die Schnitzer hatten inzwischen seit zwei Stunden Feierabend. Auf dem Fußboden war nicht ein einziger Holzspan zu sehen. Rahl hatte wie immer gründlichst gefegt.
Corvus zog seinen Mantel aus, schlüpfte aus seinen Schuhen, zog sich die Bärenfellmütze vom Kopf und hängte alles zum Trocknen vor den Kamin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es nach Essen roch. Rahl hatte den großen schweren Eisentopf über den Kamin gehängt, um Hühnerbrühe warm zu machen. Neben dem Kamin stand ein großer Holztisch. Um diesen herum standen acht Stühle. Auf dem Tisch lag ein frischer Laib Brot (er dampfte sogar noch). Daneben lag ein Messer, ein Laib Käse, ein Suppenlöffel und ein aus Porzellan gefertigter Suppenteller. Corvus seufzte erneut.
Als er seinen dritten Teller Suppe auf hatte, lehnte er sich zufrieden zurück und fing an, durch die Gegend zu schauen.
Wenig später kam Rahl herein. Er war völlig durchgefroren, machte aber einen absolut zufriedenen Eindruck; so wie immer, wenn er Corvus helfen durfte. "Herr Corvus", sagte er dann schließlich, als er sich am Kamin etwas aufgewärmt hatte. "Ob es mir wohl erlaubt wäre etwas von der Suppe zu verköstigen?"
Corvus war völlig geistesabwesend. Er zog genüsslich an seiner Pfeife, die mit einer Art Apfeltabak gefüllt war. "Wie bitte?", sagte er dann völlig verwirrt. "Aber natürlich. Bedien dich bitte."
"Zu gütig. Zu gütig", bedankte sich Rahl. Obwohl er Corvus schon seit 50 Jahren kannte, sprach er immer noch wie am ersten Tag mit ihm. Das war seine Art zu zeigen, wie dankbar er war, dass Corvus ihn damals bei sich aufgenommen hatte. Doch Corvus hatte seinerseits immer wieder beteuert, dass es für ihn selbstverständlich gewesen sei.
Schließlich stand er auf, ging um den Tisch herum und ging in die Küche, in die sich Rahl verzogen hatte, um noch abzuwaschen. Es war inzwischen halb zwölf.
"Oh! Herr Corvus. Ich bin gleich fertig. Nur noch meinen Teller und dann..."
"Rahl?", unterbrach ihn Corvus. "Ich möchte, dass du jetzt ins Bett gehst und sofort schläfst."
"Warum?", fragte dieser.
"Nun", antwortete Corvus, "als ich heute nach Hause gekommen bin, wurde ich schon erwartet. Ich kam gerade am Krug vorbei, als mich der Dorfälteste abfing. Er bat mich, morgen eine Menge Holz aus einem abgelegeneren Teil des Waldes zu holen. Er bräuchte es für ein Ritual oder so etwas in der Art."
Rahl stutzte. "Aber wofür brauchen Sie mich dann, Herr Corvus?", fragte er.
"Nun ja", sagte Corvus, "das ist so viel Holz, dass ich das unmöglich alles allein bis zum Dorf schleppen kann. Und außerdem ist der Weg so weit, dass es für mich zu gefährlich wäre dort alleine herum zu laufen."
"Oh.", sagte Rahl. "Ich verstehe. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht."
"Gute Nacht. Bis morgen früh", antwortete Corvus und ging zu Bett.
 
© Ithil
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Und schon geht's hier weiter zum 2. Kapitel: Die Reise durch den Wald

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