Die alte Geschichte von Ithil
Kapitel 2: Die Reise durch den Wald

Pünktlich um 4 Uhr in der Früh stand Corvus auf. Er zog sich an, weckte Rahl und fing an, die beiden großen Reiserucksäcke mit Brot, Käse, Äpfeln, Tee und anderen Lebensmitteln zu füllen. Dann ging er in den Schuppen und holte zwei Äxte und zwei silberne Kurzschwerter. Dann ging er wieder ins Haus zurück und schaute nach, ob Rahl sich schon fertig angezogen hatte.
"Rahl?", rief Corvus. "Hey, Rahl! Wo bist du?"
Rahl erschien kurz darauf mit zwei dicken Mänteln und Mützen, zwei Paar Handschuhe und zwei Paar Stiefeln. "Ich bin hier", sagte er. Seine Stimme klang dumpf und abgedämpft.
Als sie sich fertig angezogen hatten und das Haus verließen, schloss Corvus die Tür ab und sie gingen zum "Krug". Der Wirt des "Kruges", Harry van Derloch, hatte auf Anweisung des Dorfältesten zwei Pferde für Corvus und Rahl bereitstellen lassen. Als die beiden bei der Gaststätte ankamen, warteten die beiden Pferde schon ungeduldig schnaubend. Es waren prächtige Tiere. Zwei stolze und gut gebaute Mustangs waren es. Sie schabten mit ihren Hufen auf dem Sandboden des Stalles. Corvus und Rahl öffneten die beiden Gatter der Pferdeboxen, hoben die dort liegenden Sattel auf und warfen sie auf die Pferde. Dann nahmen sie die Zügel in die Hand, führten ihre Pferde auf die Straße, saßen auf und ritten im Schritttempo aus dem Dorf. Am Tor wurden sie von den Brüdern Kis und Alohr begrüßt. Während diese das Tor öffneten, fragte Corvus sich, ob die beiden Brüder jemals schliefen. Denn wann immer er das Dorf verließ oder wieder dort ankam, waren es diese beiden, die das Tor öffneten und auch wieder schlossen. Und so ritten sie geradewegs in den dichten Tannenwald. Es war ein trüber Morgen. Der Nebel hing schwer über dem Boden. Es kam einem so vor, als bilde der Horizont zusammen mit dem Nebel eine gleichmäßig graue und undurchdringliche Wand. Es war irgendwie bedrückend.
Fröstelnd zog Corvus seinen Schal ins Gesicht, sodass nur noch seine holzbraunen Augen zu sehen waren. Die feinen Wassertröpfchen des Nebels blieben an seiner Mütze hängen und gefroren sofort zu Eis. Schon nach wenigen Minuten sah seine Mütze aus, wie die Kronen jener Bäume, die sie umgaben. Und die Stimmung wurde immer bedrückender. Denn je tiefer sie in den Wald kamen, desto älter wurden die Bäume. Ihre Stämme waren dunkelbraun, beinahe schwarz. Und ihre Kronen schienen mit aller Macht zu versuchen, den Blick auf den trüben Morgenhimmel zu verdecken. Doch all das hätte Corvus auch an einem noch trüberen Morgen nicht annähernd so sehr beunruhigt wie die Stille. Diese unerträgliche Stille. Es war nichts zu hören, außer der Pferde, die durch den Schnee stapften und einem gelegentlichen Knacken im Unterholz. Doch da dieses Knacken in so unregelmäßigen Abständen zu hören war, erschrak Corvus jedes Mal und zuckte zusammen. Rahl dagegen schien völlig gelassen. Er saß auf seinem Mustang und wippte im Schritttakt des Pferdes immer wieder vor und zurück. Dann schaute er durch die Gegend und fing an vor sich her zu summen. Er sah zu Corvus rüber.
"Herr Corvus", sagte Rahl dann. "Geht es Ihnen gut? Ist Ihnen vielleicht schlecht? Sollen wir eine Pause machen?"
Corvus war völlig geistesabwesend. Als er mitbekam, dass Rahl mit ihm sprach, schaute er ihn verwirrt an. Er versuchte seine Angst irgendwie zu vertuschen. Doch es gelang ihm nur teilweise. Schließlich sagte er: "Da vorne kommt gleich eine Gabelung. Der Dorfälteste hat mir eine Karte gegeben, damit ich weiß, wo wir lang müssen."
Und so war es dann auch tatsächlich. Da sie aber schon seit sechs Stunden auf dem Weg waren, beschlossen sie, eine kurze Pause am Rand der Gabelung zu machen.
Als sie an der Gabelung ankamen, stiegen sie von ihren Pferden, banden diese an einen Baum und hängten ihnen Futtersäcke um den Hals. Dann befreiten sie zwei Steine vom Schnee, setzten sich drauf und packten für jeden von ihnen vier Scheiben Brot und Käse und zwei Teeflaschen aus. Es war inzwischen halb zwölf am Mittag. Als Corvus einen letzten Zug aus der Teeflasche nahm merkte er, dass Rahl ziemlich unruhig geworden war. Er zitterte leicht und hatte nicht einmal die erste Scheibe Brot mit Käse aufgegessen. Stattdessen saß er aufrecht und leicht zitternd auf seinem Stein und hatte sein rechtes Ohr gen Himmel gestreckt.
Corvus wusste: Wann immer Rahl das tat musste er etwas seltsames, eventuell sogar etwas gefährliches gewittert haben. Corvus packte schnell den Proviant ein und zückte seine Axt. Dann flüsterte er zu Rahl: "Was hörst du?"
Rahl drehte seinen Kopf leicht in Corvus’ Richtung. "Etwas Großes. Auf vier Gliedmaßen bewegt es sich fort."
Corvus überlegte. Es hätte alles Mögliche sein können. In diesem Teil des Waldes gab es viele Raubtiere, die sich auf allen Vieren fortbewegten. Dann setzte Corvus seinen schärfsten Sinn ein: Seinen Geruchssinn. Minotauren hatten einen unglaublich scharfen und präzisen Geruchssinn. Wenn sie einmal etwas gerochen haben, konnten sie sich auch noch in 50 Jahren an diesen Geruch erinnern. Also fing Corvus an zu schnuppern. Er schnupperte einmal. Er schnupperte ein zweites Mal. Dann blieb ihm der Atem im Hals stecken. Seine Nackenhaare sträubten sich unter dem dicken Schal. Dieses Wesen, das sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, war eines der schlimmsten, die diesen Wald bewohnten. Jetzt vernahm Corvus ein leises Schnaufen. Seine Hände wurden nass vor Schweiß. Er fing an zu zittern. Rahl stand inzwischen leicht nach vorn gebeugt und fletschte seine Reißzähne wie ein Wolf. Seine Arme hielt er in abwehrender Haltung von seinem Körper weg. Plötzlich wurde es totenstill. Das Schnauben brach jäh ab. Corvus wurde immer unbehaglicher zumute. Er flüsterte zu Rahl: "Nimm Dir deine Axt. Schnell."
Und DA! Hinter ihnen knackte es. Noch bevor sie sich ganz herumgedreht hatten, kam das Wesen aus dem Unterholz gesprungen. Corvus’ schlimmste Befürchtung wurde wahr. Sie wurden von einem Feuerkeiler angegriffen. Ein riesiger schwarzer Keiler mit langen, dicken, spitzen Hauern. Blut klebte an ihnen und sah aus wie alte, von einer Holztür abgeplatzte rote Farbe. Die Augen dieses Tieres waren feuerrot und stierten den Zwergminotaur und den Palthur gierig und blutrünstig an. Der Keiler setzte zum Sprung an und sprang auf Rahl zu. Doch das Tier war mit zu viel Kraft abgesprungen. Diese Chance nutzte Rahl, erhob seine Axt, rannte unter dem Keiler lang und schlitze ihm den Bauch auf. Der Keiler flog bäuchlings in den Schnee. Blut spritzte zu allen Seiten und versickerte dampfend im weißen Schnee. Doch Feuerkeiler waren äußerst zähe Tiere. Und so stand er auf und attackierte Rahl erneut. Dieser war darauf aber nicht gefasst und wurde von dem Keiler mit voller Wucht gerammt. Rahl flog durch die Luft und krachte gegen einen Baum. Er wurde ohnmächtig. Als der Keiler zum Gnadenstoß ansetzte, sprang Corvus ihm auf den Rücken und rammte ihm sein Kurzschwert in den Rücken. Das Tier bäumte sich vor Schmerz auf und warf Corvus ab. Dieser landete in der Blutlache des Keilers. Der Keiler setzte erneut zum Gnadenstoß an und rannte geradewegs auf Rahl zu. Der war inzwischen wieder bei Bewusstsein. Er hockte vor dem Baum. Kurz bevor ihn der Keiler mit seinen Hauern aufzuspießen drohte sprang Rahl hoch und landete auf den Kopf des Angreifers. Rahl griff zu seiner Rechten, zog das Kurzschwert aus der Lederscheide und rammte es dem Keiler in die Stirn. Dieser schrie auf, noch lauter als vorher. Rahl sprang von ihm runter, drehte sich dann zum Keiler hin, zog seine Axt vom Rücken und machte sich auf einen weiteren Angriff gefasst. Doch das war nicht mehr nötig. Der Keiler sank zusammen und rührte sich nicht mehr.
Rahl seufzte erleichtert. Und obwohl sein Rücken sich anfühlte, als würde er von tausend Nadeln zerstochen, rannte er auf Corvus zu. "Herr Corvus! Herr Corvus!", rief er. "Was ist mit Ihnen? Ist Ihnen was passiert? So sagen Sie doch was!"
Corvus hustete. Er lächelte sanft. "Nein, nein.", sagte er dann. "Mir geht’s gut. Wirklich. Du brauchst Dir um mich keine Sorgen zu machen."
Rahl seufzte erleichtert. Er nahm etwas Schnee in die Hand und wischte sich das Blut vom Gesicht.
Als Corvus aufstand, machte er sich ebenfalls das Gesicht sauber. Sich den Steiß reibend sagte er dann: "Ich glaube, wir sollten jetzt weiter reiten. Wir haben noch einen langen Weg vor uns."
"Wie weit ist es denn noch?", fragte Rahl.
Corvus fing an zu überlegen. Schließlich sagte er: "Wir werden zwei Tage brauchen, um überhaupt den Ort zu erreichen, wo es das Holz gibt, das ich besorgen soll. Und bei der Menge wird es wohl einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, die entsprechende Menge an Bäumen zu fällen. Na ja, und dann sind da ja noch die zwei Tage für die Rückreise."
Rahl nickte. Es war zwar ungewöhnlich, dass Corvus so lange raus musste, nur um Holz zu besorgen, aber es ging ja schließlich um den Dorfältesten.
Dieser war ein angesehener Mann in Syth. Er war so etwas wie der Bürgermeister. Er war der älteste, weiseste und intelligenteste Mann im ganzen Dorf. Man sprach niemals schlecht über ihn. Nicht einmal im Traum würde man ihm etwas Schlechtes wünsche wollen. Es hieß sogar, er wäre eng mit dem Kaiser von Rubtaliahr, Kaiser Dehl, befreundet. Und Freunde des Kaisers genossen nicht nur ein äußerst großes Ansehen bei Hofe. Sie hatten auch Privilegien und Sonderrechte im Staat, die man sonst nur mit dem Eintritt in die höchsten Staatspositionen erlangte. Dies war zum Beispiel das Handelsedikt. Wann immer der Dorfälteste (seinen Namen kennt niemand) nach Rohstoffen verlangte, mussten diese ihm unverzüglich geschickt werden. Aber auch die militärische Unterstützung war Syth gesichert. Im Ernstfall würde der König seine besten Truppen zum Dorf entsenden. Doch von diesem Recht musste das Dorf Syth, zum Glück, noch nie Gebrauch machen.
Und so, in seinen Gedanken versunken, merkte Rahl es nicht einmal, dass es im Wald immer dunkler wurde. Die Nacht brach herein.
Corvus hielt an. "Hier werden wir unser Lager aufschlagen. Es ist viel zu gefährlich des Nachts im Wald herum zu laufen", sagte er dann.
Also stiegen sie von ihren Pferden und stellten ihre Zelte auf. Inzwischen war ein eisiger und heftiger Wind aufgekommen. Dieser pfiff zwischen den Baumstämmen hindurch. Es knackte bedrohlich im ganzen Wald. Und es fing wieder an zu schneien. Irgendwo in der Ferne war das Heulen eines Eiswolfes zu hören. Doch all das störte Rahl und Corvus wenig. Sie waren inzwischen in ihren Zelten verschwunden und schliefen tief und fest. Der heftige Schneesturm blies ihr Lagerfeuer aus.

Die Morgendämmerung hatte gerade eingesetzt, als Corvus wach wurde. Er zog sich an und kroch aus seinem Zelt. Es bot sich ihm ein atemberaubender Anblick: Die gerade aufgehende Sonne tauchte den Wald mitsamt der ihn bedeckenden Schneedecke in ein sanftes Rot, welches leichte rosa Farbtupfer hatte. Der Neuschnee war in der Nacht angefroren und reflektierte nun das Morgenlicht. Winzige Schnee- und Eiskristalle glitzerten im Licht. Die Baumkronen wiegten im leichten Wind hin und her. Irgendwo zwitscherte ein Drahkahl, ein kleiner gelber Vogel, der nur in den frühen Morgenstunden im Wald anzutreffen war.
Corvus schloss seine Augen, genoss die Morgensonne in seinem Gesicht. Schließlich öffnete er seine Augen und ging zu Rahls Zelt. Als er hinein schaute erschrak er: Rahl war weg.
Corvus schaute wild um sich. Dann sah er Fußspuren, die sich vom Zelt entfernten. Er folgte ihnen bis zu einem Hügel. Als er gerade den Hügel herauf laufen wollte, sah er Rahl. Dieser hatte Holz auf seinen Armen.
"Guten Morgen, Herr Corvus.", sagte er. "Ich habe Feuerholz geholt, damit wir beim Frühstück nicht frieren müssen."
"Aber Rahl", sagte Corvus seufzend, "damit hättest du auch warten können, bis ich aufgestanden bin."
"Nein", antwortete Rahl, "so sparen wir Zeit. Wenn wir das Feuer jetzt machen, müssen wir nicht so hetzen, rechtzeitig los zu reiten."
Corvus nickte nur zustimmend.
 

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